SOLINGEN (mh) – Wie zufällig liegen sie auf dem Rasen, neben Sträuchern und unter Bäumen. Elf Skulpturen des Bildhauers Berthold Welter (*1959 in Dormagen) aus seiner Serie „Raumgreifen“ zieren die Umgebung des alten Friedhofs im Botanischen Garten. Im Gegensatz zu den üblichen Ausstellungen, bei denen Kunstwerke bewusst in den Vordergrund gerückt werden, entdeckt der Besucher die Arbeiten mehr zufällig im Vorbeigehen. Sie haben sich so in die Umgebung eingefügt, als seien sie ein Bestandteil derselben. Man schaut sie an und überlegt, was es sein könnte. Der Betrachter kramt in seinem inneren Fotoalbum nach etwas Bekanntem. Je länger er aber auf das Objekt schaut, desto häufiger ändert es sich in seinem Wesen. Unter einem Busch sitzt etwas mit zwei Hörnern, das an ein riesiges Insekt erinnert. Es könnte eines der Kleinstlebewesen sein, von denen es im Boden Millionen gibt, vielleicht aber auch etwas ganz anderes.
Elf Objekte aus der Serie „Raumgreifen“
Genau das hat Berthold Welter beabsichtigt. Der gelernte Steinmetz will keine schon bestehenden Formen nachbauen, arbeitet deshalb auch nicht mit Fotos. „Mich interessieren mikroskopische Ansichten“, sagt der Leichlinger Künstler. „Wenn ich arbeite, taucht irgendeine Erinnerung oder Emotion wieder auf.“ Mikroskopisch kleine Bestandteile lassen sich mit bloßem Auge nicht erkennen. Der Künstler vergrößert sie um ein Vielfaches. „Ich lasse die Dinge so erscheinen, wie man sie in der mikroskopischen Ansicht erleben kann.“ Dazu folgt ein kleiner Hinweis: „Geben Sie doch mal Samenkapsel Nadelbaum im Internet ein. Das Ergebnis zeigt eine Unmenge von Motiven. Daraus entwickle ich dann eine Skulptur.“ Unter Wasser findet der passionierte Taucher ebenfalls eine Fülle von faszinierenden Elementen. Mit seinen Raumgreifen-Objekten nimmt er seine Besucher mit auf eine Reise durch diese Elemente, die in seinen Arbeiten eine fundamentale Rolle spielen. Kunst und Natur bedingen einander und sind eine unablässige Inspirationsquelle.
„Ich lebe von den Abfällen unserer Gesellschaft“, schmunzelt der Bildhauer, der bevorzugt mit heimischem Material arbeitet. „Da kommen mir meine handwerklichen Kenntnisse zugute“, freut er sich, denn gerade diese Abfallprodukte inspirieren den Künstler. So fragt er beispielsweise auf Baustellen nach den verschiedensten Materialien, die dort nicht mehr genutzt werden können. Berthold Welter verwandelt sie in rätselhafte, manchmal bizarre, fast aggressiv scheinende Objekte. Die Skulpturen der Ausstellung sind alle aus Abfallprodukten hergestellt, wie Kalk- und Sandstein, Granit oder Eisen, teilweise kombiniert mit Robinie. Ein riesiger Brocken Muschelkalk ist gespickt mit roten Granitstücken. Der Granit stammt aus einer ehemaligen Grabumrandung, die durch die Verarbeitung neues Leben erhält. So versteht Berthold Welter auch unser Dasein. „Wir hören nicht auf, gehen nur in einen anderen Aggregatzustand“. Entsprechend sieht er seine Kunstwerke.
Aus Abfallprodukten entworfen
Ohne konkrete Vorstellungen beginnt Welter langsam, der Form nachzugehen. Es sei nicht immer einfach, gibt der Künstler zu. Manchmal müsse man dem Stein wirklich seine Form abringen – ein kleiner Kampf zwischen Stein und Mensch. Die handwerklichen Regeln kennt er aus dem Effeff. Das ist notwendig, um den Stein bearbeiten zu können. Doch das, was sich aus dem Block herauskristallisieren möchte, überlässt Welter dem Stein selbst.
Die „Raumgreifen“-Serie zählt mittlerweile 128 Exponate – Ende offen. Titel vergibt Welter für seine Werke nicht. „Mit einem festen Titel nimmt man dem Betrachter viel vorweg“, meint er dazu. Das schwerste der elf ausgestellten Teile bringt stolze 400 kg auf die Waage. Da durfte der kleine Gabelstapler, der sonst nur im Inneren der Gewächshäuser zum Einsatz kommt, auch mal ins Freie. Jetzt warten die Objekte darauf, entdeckt zu werden. Wer nicht suchen mag oder nicht alles findet, für den gibt es einen Lageplan mit dazugehörigen Fotos.
Schon vor fünf Jahren reifte im Kopf von Sabine Schulz-Wolff, die sich um künstlerische Projekte im Botanischen Garten kümmert, der Plan zu dieser Ausstellung. Damit wollte sie den Friedhof mehr in den Blickpunkt rücken. „Vor allem, wenn die Rhododendronbüsche bald wieder blühen, ist das eine wirkliche Pracht. die man sich nicht entgehen lassen sollte. Viele wissen das gar nicht und fahren in weit entfernte Rhododendronparks. Dabei haben sie hier alles vor Ort.“
Ausstellung bis zum 5. September
Mathias Nitsche, stv. Vorsitzender der Stiftung Botanischer Garten, ergänzt: „Durch die aktuelle Corona-Situation konnten wir bisher keine unserer Veranstaltungen durchführen. Da bleibt abzuwarten, wie es sich entwickelt. Doch für Spaziergänge, mit Maske und Abstand natürlich, steht der Garten unseren Besuchern offen. Und dabei können sie gleichzeitig eine Vielzahl von Kunstwerken betrachten. Deshalb freuen wir uns umso mehr über die neue Ausstellung und auch über die Dauer. Bis zum 5. September sind die Arbeiten hier zu besichtigen.“