SOLINGEN (red) – Im frühen 19. Jahrhundert ist eine ganze Reihe Solinger Handwerker mit ihren Familien ins russische Slatoust im mittleren Ural ausgewandert und hat dort eine Klingenindustrie aufgebaut, die bis heute existiert. Diese gemeinsame Geschichte soll nun genauer erforscht werden. Das vereinbarten Dr. Isabell Immel und Dr. Sixt Wetzler vom Deutschen Klingenmuseum sowie Ralf Rogge, Leiter des Stadtarchivs, mit ihren russischen Kolleginnen und Kollegen vor Ort.
Museen in Slatoust und Solingen kooperieren
Sie waren Ende Juni einer Einladung in die nahe Slatoust gelegene Großstadt Tscheljabinsk im Ural gefolgt, zur Eröffnung einer Jubiläums-Ausstellung von Erzeugnissen der stahlverarbeitenden Handwerkskunst im dortigen Landesmuseum. Nun will man einander historische Dokumente zugänglich machen, die beteiligten Museen werden sich gegenseitig Ausstellungsstücke leihen. Jetzt berichteten sie in einem Gespräch mit den Medien von ihren Erfahrungen.
Respekt und Begeisterung für Solingen
Die Ausstellung in Tscheljabinsk beginnt mit einer Geschichte Solingens. Stadtarchivar Ralf Rogge sagt: „Ich habe nirgendwo sonst bisher so viel Respekt, Ehrerbietung und Begeisterung für Solingen erlebt wir dort.“ Dabei war Solingen alles andere als begeistert, als Russland nach Ende der Napoleonischen Kriege im Jahr 1815 Fachleute zum Aufbau einer Waffenindustrie am Ural anforderte. Die große Politik wollte es jedoch anders, Russland war Verbündeter von Preußen, zu dem nach dem Wiener Kongress auch Solingen und die gesamte Rheinprovinz gehörte.
Zwar versuchte Solingen die Abwanderung seiner Fachleute zu verhindern, aus Furcht vor dem Aufbau einer weiteren Konkurrenz am östlichen Ende Europas, aber staatliche Interessen waren stärker. Eine Namensliste weist 35 Fachhandwerker aus, die im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Solingen ihre Zelte abbrachen und die 4.000 Kilometer weite Reise in den Ural antraten. Mit Familienmitgliedern und unverheirateten Gesellen zählte die Gruppe rund 150 Personen. Die Anreise erfolgte über Lübeck, per Schiff nach Sankt Petersburg, weiter mit Booten über Kanäle und zu Fuß nach Slatoust. Sie wird wohl sechs Monate gedauert haben, schätzt Stadtarchivar Ralf Rogge.
Klingenpioniere mussten sich auf russischen Stil einstellen
Die Gruppe war merkwürdig zusammengesetzt. Das Verhältnis von Schleifern zu Schmieden entsprach zwar dem in Solingen üblichen von 1:3 (drei Schmiede beschäftigen einen Schleifer), aber Spezialberufe wie Vergolder, Ätzer und Graveure waren ganz überproportional vertreten. Das hatte seinen guten Grund: Die frühen Solinger Klingenpioniere mussten sich anfangs auf den russischen Geschmack einstellen, der die kunstvolle Verzierung der Klinge in weit größerem Stil einforderte als im protestantischen Solingen üblich. Die angeworbenen Vergolder, Ätzer und Graveure waren gut beschäftigt.
Ein in Slatoust von den Auswanderern hergestellter Ehrensäbel von 1821, seit Jahrzehnten im Besitz des Klingenmuseums, zeugt davon, dass die Solinger sich schnell und erfolgreich den neuen Stil aneigneten. Die Konditionen waren wohl gut, vertragliche Vereinbarungen über Entlohnung und Verweildauer (acht bis 15 Jahre) wurden eingehalten. Für die Handwerker bedeutete der Wechsel zwar den Verzicht auf ihre Selbstständigkeit, aber ihre Heimat war durch die napoleonischen Kriege verarmt, und man versprach sich ein besseres Leben.
Die Bedingungen für eine erfolgreiche Produktion in Slatoust waren gegeben: es gab Eisenerz und Holz zur Gewinnung von Holzkohle, und die Landschaft lieferte ähnlich wie Solingen Berge mit zahlreichen Wasserläufen als Energiequelle. Ohne Wasser hätte in den Jahren vor 1850 kein Schleifstein angetrieben werden können.
Privilegierte Migranten aus Solingen
Die Solinger waren privilegierte Migranten, denen Mitte des 19. Jahrhunderts ein sozialer Aufstieg gelang. Nach Ablauf ihrer Verträge verteilten sie sich in ganz Russland, viele siedelten im größeren Jekaterinenburg, ihre Nachfahren wählten dort kaufmännische Berufe oder akademische Ausbildungen. Die Spurensuche, sagt Ralf Rogge, gestaltet sich schwierig, die Kontakte nach Solingen seien irgendwann einfach abgerissen.
Doch nun soll der Kontakt in den Ural soll weiter gepflegt, der Know-how-Transfer von der Wupper an den Ural endlich dokumentiert werden, auch wenn die Sprachbarriere große Probleme aufwirft. Die Unterlagen dort müsste jemand sichten, der beider Sprachen mächtig ist, so etwas sei mit Dolmetscher schwer zu erreichen.
1928 kamen erneut zahlreiche Solinger nach Slatoust
In Slatoust gab es um 1928 eine zweite Welle von zureisenden Solingern: die Kommunistische Partei schickte Facharbeiter zur Entwicklungshilfe in die Sowjetunion, unter anderem verbrachte Willi Dickhut ein knappes Jahre in einem Slatouster Kombinat für Haarschneidemaschinen. Die Hauptstraße dort hieß damals Deutsche Straße. Und die Solinger entdeckten noch Grabsteine ihrer Vorfahren auf den Friedhöfen und Fachwerkbauten nach Solinger Vorbild. Auch die Familiennamen waren damals noch vertreten, ihre Trägerinnen und Träger sprachen 110 Jahre nach der Einwanderung ihrer Vorfahren allerdings nicht mehr deutsch.
All das ist inzwischen verschwunden, berichten Dr. Isabell Immel und Ralf Rogge von ihrem Trip an den Ural. Und heute produzieren die Slatouster Metallhandwerker überwiegend Geschenkartikel, aber auch diese noch in der schmuckreichen Dekorsprache, die die Solinger Einwanderer des frühen 19. Jahrhunderts so schnell erlernt hatten.