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Engelsklinge – Buch 1: Tödlicher Schlag (Kapitel 10.2)

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Lucia trainiert ihren Lehrling Leo.
Lucia trainiert ihren Lehrling Leo. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)
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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 1 – Tödlicher Schlag

Aus dem Russischen

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Kapitel 10.2

Das Innere des Hauses, in dem Lucia ihre Ausbildung absolviert hatte, hatte sich seit ihrem Weggang nicht verändert. Die Möbel standen noch immer an denselben Stellen, als hätte seit siebzehn Jahren keine lebende Seele diesen Ort betreten. Nur die größere Anzahl an Büchern im Schrank im Wohnzimmer und die ordentlich an ihren Plätzen verteilten Gegenstände ließen das Gegenteil vermuten.

Lucia warf ihre Tasche auf den Tisch.

Der Besuch in dem Haus, in dem sie ihre ersten Schritte als Wächterin gemacht hatte, löste keine Nostalgie in ihr aus. Vielmehr verspürte sie Bedauern. Bedauern darüber, dass sie damals nicht ihr volles Potenzial zeigen und Woldéri beweisen konnte, wozu sie in der Lage war.

„Du hast eine Minute, um dich umzuziehen“, wandte sich Lucia an den jungen Mann, der sich neugierig im Raum umsah. „Dein Schlafzimmer ist oben links“, fügte sie hinzu und deutete auf die hölzerne Treppe.

Der Junge rückte seinen Rucksack auf der Schulter zurecht, blieb jedoch stehen.
„Vierzig Sekunden“, drängte Lucia, während sie auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr blickte. Sie hatte entschieden, dem Wächter keinen Anlass zu geben, an Freizeit zu denken. Schließlich würde Ageor sie zur Verantwortung ziehen, falls Leo in den ersten Monaten Fehler machte. „Los, beeil dich. Ich warte nicht.“

Im nächsten Augenblick war der Junge schon im oberen Stockwerk verschwunden. Er drehte sich um, ein glückliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Was denkst du, Junge? Dass ich dich für Dinge lobe, die du ohnehin tun musst? dachte Lucia grimmig und schnaubte leise. Soll ich jedes Mal applaudieren, wenn du etwas isst?
„Zwanzig Sekunden“, verkündete sie.

Leo verschwand in seinem Zimmer. Lucia schloss die Augen.

Wollte, ich hätte deine Geduld, Woldéri, betete sie, während sie hörte, wie der Junge in seinem Rucksack kramte. Als sie Leos Schritte auf der Treppe vernahm, öffnete sie die Augen. Er stand bereits vor ihr und betrachtete neugierig ihr Gesicht. Verlegen wandte er den Blick ab, als Lucia ihn ansah.

„Ab zum Lauftraining“, befahl sie mit lauter Stimme und deutete auf die Eingangstür. „Danach erwarten dich Liegestütze.“

„Aber es ist schon neun Uhr abends“, stöhnte der Junge und hockte sich hin, um die Schnürsenkel seiner Sportschuhe zu richten.

Lucias unzufriedener Gesichtsausdruck sprach Bände über ihre Reaktion auf den Einwand des Wächters.

„Das ist eine Strafe“, erklärte sie und deutete auf seine Schuhe. „Zieh dich das nächste Mal schneller an.“

Wie soll ich denn noch schneller sein? dachte Leo protestierend. Ich habe mich doch schon beeilt, so gut es ging. Dir ist das leicht gesagt…

„Morgen erkläre ich dir, wie man eine Mauer baut“, unterbrachen Lucias Worte seinen Gedankengang. „Du bist ja wie ein wandelndes Beschwerdebuch“, fügte sie mit einem Schmunzeln hinzu.

Leo verließ den Raum gemächlich.

„Willst du der Beste sein?“

Lucias Frage hielt den Jungen im Flur auf. Er drehte sich um und blickte sie über die Schulter an.

„Natürlich“, schnaubte er.

Lucia setzte sich auf einen Stuhl.

„Dann mach, was man dir sagt. Und sei dankbar, dass du bis fünf Uhr morgens schlafen darfst“, ein sarkastisches Lachen entrang sich ihrer Kehle.

„Bis fünf?!“ Leos Gesicht fiel, seine Schultern sanken herab.

„Was hast du erwartet? Spaziergänge zu zweit? Erholung auf dem Land?“ Die Mundwinkel des Jungen zuckten, hoben sich leicht, und in seinen Augen blitzten schelmische Funken auf.

„Wäre nicht schlecht,“ murmelte er.

Der Gedanke, ihn näher kennenzulernen, ärgerte Lucia nur noch mehr. Ach, du kleiner Rotzlöffel, das hoffst du also, dachte sie und presste die Zähne zusammen, um ihn nicht anzuschreien.

„Die nächste Nacht verbringst du unten“, verkündete Lucia mit erhobener Stimme. Der Luftzug ihrer Worte wirbelte Leos Haare durcheinander.

Der Junge legte den Kopf schief.

„Warum nicht diese Nacht?“ spottete er, in seinem Tonfall ebenso schlagfertig wie sie.
Wenn ich dich doch nur loswerden könnte, dann hätte ich eine Sorge weniger im Leben, dachte Lucia.

Sie zwang sich zu einem gezwungenen Lächeln, um Leo nicht merken zu lassen, dass seine Worte manchmal ins Schwarze trafen.

„Heute gehst du allein ins Bett.“

Leos Gesicht wurde ernst, sein Blick vorsichtig.

„An die Arbeit?“ Leo stellte die Beine schulterbreit auseinander und leckte sich über die Lippen. „Ein Dämon in Rom?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Zu viele Fragen, Schüler,“ erwiderte Lucia und zeigte auf den Ausgang. „Erledige deine Aufgabe, ich mache mir derweil einen Kaffee. Es wird eine schlaflose Nacht.“

Anfang März erhöhte Lucia die Anforderungen an Leo, denn das Ende seiner Ausbildung rückte näher. Die Abende im Fitnessstudio, morgendliche Läufe und nächtliche Kletterübungen hatten sichtbare Ergebnisse gezeigt. Die Qualitäten eines guten Wächters ließen nicht lange auf sich warten. Ein guter Wächter, aber noch kein herausragender, stellte Lucia kritisch fest. Das würde sich erst in der Praxis zeigen.

Inzwischen lief Leo fast so schnell wie seine Mentorin, war aufmerksamer bei Details und agiler in Kämpfen. Der schmächtige Junge, den Lucia vor drei Wochen nach Rom gebracht hatte, war zu einem athletischen jungen Mann geworden, bereit, sich einem Dämon zu stellen und ihn zu vernichten.

Auch Lucia selbst hielt sich in Form und besuchte das Fitnessstudio mindestens zweimal die Woche. Während Leos Ausbildung hatte sie jedoch jeden Tag Gelegenheit, intensiv zu trainieren.

Heute, nach dem morgendlichen Lauf, trat sie zu einem Sparring gegen Leo an.
„Öffne dich nicht, wenn du zuschlägst“, bemerkte Lucia eine Schwäche in Leos Technik und nutzte sie sofort aus. Ihrer Meinung nach prägt sich eine Lektion am besten ein, wenn man sie direkt erfährt.

Sie ballte die Hand zur Faust und schlug Leo gegen die Brust. Er wurde zurückgeschleudert und prallte gegen eine Zeder. Doch der Wächter sprang sofort wieder auf die Beine und stand im nächsten Moment schon wieder vor Lucia. An seinem Gesicht konnte sie nicht erkennen, dass ihm der Schlag Schmerzen bereitet hatte. Der Junge lernte schnell und verbesserte seine Fähigkeiten kontinuierlich. Lucia machte sich eine mentale Notiz über diese beeindruckende Eigenschaft ihres Schülers.

Na immerhin gibt es etwas, das mir an ihm gefällt, dachte sie und brachte ihm nicht nur Techniken, sondern auch die Regeln von Tahes bei.

Lucia duckte sich, und Leos Faust schoss über ihren Kopf hinweg. Im Gegenzug richtete sie sich auf und landete einen Haken an seiner Kiefer. Leo schwankte, blieb aber auf den Beinen. Er spuckte blutigen Speichel auf den Boden.

„Du hast es wieder verpasst, dein Gesicht zu decken! Wie oft muss ich dir noch von der Verteidigung erzählen, Leo!“ rief Lucia ärgerlich.

Leo ballte die Fäuste und hob sie kampfbereit vor sich. Sein graues T-Shirt war von den ständigen Stürzen und dem Dreck beinahe schwarz geworden. Von einer Wunde an seiner rechten Schulter rann Blut.

„Das reicht für heute“, entschied Lucia und beendete die Übung. „Geh duschen, danach essen wir.“

Leo grinste.

Was genau er dachte, wusste Lucia nicht. Seit sie ihm erklärt hatte, wie man mentale Barrieren aufbaut, hatte Leo sie sofort umgesetzt. Jedes Mal, wenn sie versuchte, in seine Gedanken einzudringen, stieß sie auf eine solide mentale Mauer.

Ein echter Wikinger, wie er im Buche steht, dachte sie verärgert nach ihrer ersten erfolglosen Lesung.

„Schon wieder Pizza?“, fragte Leo, während er neben ihr herging.

„Bestell etwas anderes, wenn du willst“, zuckte Lucia mit den Schultern und reichte ihm ihr Minifon. „Ich bin eine miserable Köchin.“

„Lass es Pizza sein“, stimmte Leo zu. „Ich bin so hungrig, dass ich keine Geduld für ein aufwendigeres Gericht habe“, fügte er mit einem Lächeln hinzu. „Aber wenn der Mentor es erlaubt, könnte ich selbst etwas kochen.“

Er berührte leicht ihr Handgelenk, was Lucia zum Stehen brachte. „Ich koche das Abendessen“, rief Leo begeistert, offenbar inspiriert von seiner eigenen Idee. „Natürlich nicht heute,“ fügte er schnell hinzu, als er Lucias skeptischen Blick bemerkte.

Leo verstummte und sagte den ganzen Weg zu seinem Zimmer kein weiteres Wort.

Lucia war es gleichgültig, was Leo plante. Heute hatte sie keine Gedanken für das Abendessen. Oft ließ sie den Jungen allein im Haus zurück, während sie nach Rom oder in nahegelegene Städte reiste, um einen Dämon aufzuspüren. Einen Schüler auszubilden war wichtig, doch ihre Hauptaufgabe blieb bestehen.

Erst gestern hatte Lucia einen Dämon ausfindig gemacht, der sich seit einem Jahr erfolgreich in Rom versteckt hielt. Nun war es an der Zeit, ihn zu vernichten.

Plötzlich formte sich ein Plan in ihrem Kopf und sie lächelte unwillkürlich.

„Was?“, fragte Leo, der inzwischen in einem karierten Hemd den Raum betreten hatte. „Ist etwas nicht in Ordnung mit meiner Kleidung?“

Lucia schüttelte nur den Kopf und kehrte gedanklich zu ihrem Plan zurück.

„Nein, alles in Ordnung“, antwortete Lucia kurz.

„Dann hole ich die Teller“, sagte Leo und verschwand in der Küche.

Na, Junge, mach dich bereit, dachte Lucia, während sie sich immer mehr auf ihren Plan festlegte – eine Lösung, um zwei Probleme gleichzeitig zu lösen.

„Du kannst kochen, was du möchtest“, erklärte sie schließlich, als Leo gerade Apfelsaft in ein Glas goss. Es war ihre Art, ihn für seine Eigeninitiative zu belohnen.

Lucia empfand Leos übertriebene Fürsorglichkeit als eine seiner schlechtesten Eigenschaften. Wäre er nicht mit natürlichen Wächterfähigkeiten gesegnet, hätte sie ihn eher als Beschützer oder Landwirt eingestuft. Noch bevor Lucia morgens aufwachte, brachte Leo ihr Kaffee. Und tagsüber übernahm er Hausarbeiten wie das Abwaschen oder das Sortieren von Büchern in die Regale – alles in den Pausen zwischen den harten Trainingseinheiten.

Seine fürsorgliche Art richtete sich nicht nur auf sie, sondern auch auf alles Lebendige um ihn herum. Egal ob ein verirrtes Tier oder ein Vogel, der sich in einem Gebüsch verfangen hatte – Leo ließ seine aktuelle Aufgabe sofort fallen, schlich sich lautlos an und befreite die Kreatur aus ihrer misslichen Lage. Solche Aktionen trieben Lucia regelmäßig in den Wahnsinn. Anfangs dachte sie, er wolle sich nur vor der Arbeit drücken, doch bald erkannte sie, dass dies eine tief verwurzelte Eigenschaft war, die sich nicht ändern ließ.

„Damit muss ich wohl leben“, murmelte sie genervt, während sie beobachtete, wie Leo einen Fink aus einem Busch befreite. Der kleine Vogel, kaum größer als ein Spatz, mit einem blau-grauen Kopf und einem rostrot gefärbten Hals, flog zwitschernd davon.

„Jetzt können wir weitermachen, Mentorin“, sagte Leo, seinen Blick noch auf den davonfliegenden Vogel gerichtet.

„Dann halt dich ran“, rief Lucia, sprang los und verschwand in den Tiefen des Waldes. Leo setzte sich in Bewegung und folgte ihr, schnell und lautlos wie immer.

Leos Begeisterung über Lucias Zustimmung, das Abendessen vorzubereiten, spiegelte sich in einem breiten Lächeln wider. „Ich schreibe eine Liste mit Zutaten“, schlug er vor.

„Bin ich etwa deine Dienerin“, entgegnete Lucia spöttisch.

Leo verengte die Augen. „In die Stadt zum Einkaufen fahren wirst du mich sicher nicht lassen.“

„Natürlich nicht“, stimmte Lucia zu und nickte. Als sie bemerkte, dass Leo seinen Kopf senkte, warf sie ihr Minifon über den Tisch. Geschickt fing Leo es in der Luft.

„Bestell alles, was du brauchst, nach Hause“, sagte sie.

Leo grinste. „Wird gemacht, Mentorin. Wann soll ich kochen?“, fragte er, während er auf dem Bildschirm eine Hologrammliste mit den nächstgelegenen Lebensmittelgeschäften aufrief.

Lucia dachte kurz nach. „Nicht heute“, entschied sie. „Vielleicht in drei Tagen, okay?“ Sie beugte sich leicht vor. „Und was wirst du machen?“

„Eine Überraschung“, sagte Leo mit einem schelmischen Augenzwinkern. „Es ist mein erstes Mal, ich hoffe, es gelingt.“ Er atmete tief ein.

„Na klar“, kommentierte Lucia ironisch und schnaubte. „Ich hoffe, mein Magen hält es aus.“

Als Lucia die Treppe hinunterging, standen große Schüsseln mit Pappardelle Bolognese und einem Salat aus Roter Bete, Ziegenkäse und Honigdressing auf dem Tisch. Der Duft von Schokolade und Zimt aus der Küche verriet, dass Leo Kakao zubereitete.

Zu diesem „besonderen Anlass“ – so hatte Leo den Abend genannt – entschied sich Lucia, ihre Sportkleidung gegen etwas Eleganteres zu tauschen. Sie wählte ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen. Es war ein klassisches, ärmelloses, kurzes Kleid, ein unverzichtbares Stück, wie ihre Freundin Giulietta immer betonte. Giulietta hatte Lucia versprochen, dass ein solches Kleid immer in ihrem Schrank hängen würde. Um das Versprechen zu halten, hatte Lucia am Vortag einen Abstecher nach Rom gemacht und es aus den hintersten Ecken ihres Schranks hervorgekramt, wo es seit „unzähligen“ Verwendungen unberührt lag.

Als Lucia die Küche betrat, sah Leo auf. Seine Augen weiteten sich, und sein Mund öffnete sich leicht.

„Du siehst wundervoll aus“, flüsterte Leo mit einem Hauch von Bewunderung, als er ihr ein Kompliment machte. Sein Blick wanderte kurz zu seiner mit Vanille bestäubten T-Shirt. „Ich hatte noch keine Zeit, mich umzuziehen.“

Lucia war sichtlich irritiert von dem bewundernden Blick, mit dem Leo sie musterte. Sie hatte noch nie zuvor eine solche Reaktion auf ihre Person erlebt.

Was ist los mit dir, Lucia? dachte sie, während ihre Gedanken rasend kreisten. Er hat dich so angesehen, na und?

Ein heißer Schauer durchfuhr sie, während Leos graue Augen ihre Schultern sanft zu streicheln schienen und durch den dünnen Stoff ihres Kleides zu dringen schienen.
Was ist hier los? fragte sie sich innerlich. Es ist doch nur ein normaler Abend, ein normales Abendessen. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass nichts an diesem Abend „normal“ war. Die liebevoll angerichteten Gerichte auf dem Tisch, die Weingläser, der Duft des Roséweins, ihr Kleid und dieser Junge, in einer mit Vanille befleckten T-Shirt – und das ungewohnte Gefühl, das plötzlich in ihrem Inneren aufflammte.

Lucia drehte sich zum Tisch und atmete tief ein, um die ungewohnte Verlegenheit zu vertreiben, die sie nie zuvor gespürt hatte.

„Man sagt, Liebe geht durch den Magen“, scherzte sie und gab ihrer Stimme den gewohnten, gleichgültigen Ton, damit Leo das Zittern nicht bemerkte. „Aber das gilt eigentlich nur für Männer.“

„Wir alle mögen gutes Essen“, antwortete Leo mit einem Lächeln, während er bereits hinter ihr stand. „Bitte, setzen Sie sich. Der Nachtisch ist gleich fertig.“

Lucia trat an einen der Stühle heran. Noch bevor sie die Lehne berühren konnte, schob Leo den Stuhl höflich für sie zurecht.

„Warte eine Minute auf mich“, bat er, als Lucia sich setzte, und eilte die Treppe hinauf.

Lucia nickte nur. Genau eine Minute später stand Leo wieder im Raum, dieses Mal in einem blauen Hemd und schwarzen Hosen. Er ging in die Küche und brachte einen flachen Teller, auf dem ein kunstvoll angerichtetes Tiramisu mit Himbeeren und Minzblättern thronte.

„Du bist ja ein wahrer Meisterkoch“, lobte Lucia ihn, wobei sie sich eingestand, dass er hin und wieder ein Lob verdient hatte.

Ein breites Lächeln zog sich über Leos Gesicht.

„Vielleicht solltest du bei Barnabo arbeiten“, neckte sie, doch das Lächeln verschwand augenblicklich und er verzog das Gesicht.

„Danke, aber nein“, sagte Leo und öffnete die Weinflasche. Er goss den Rosé in die Gläser und fuhr fort: „Ich glaube, mein Talent ist nur für einen bestimmten Kreis von Menschen bestimmt.“

Lucia zog überrascht eine Augenbraue hoch.

„Nein, nein“, lachte Leo. „Das klang seltsam. Kochen ist nur ein Hobby, keine Arbeit. Bitte, Lucia, verschone mich“, fügte er mit einem theatralischen Flehen hinzu, die Hände vor sich gefaltet.

Lucia nahm ihr Glas.

„Auf die beste Mentorin“, verkündete Leo und hob seinen eigenen Becher.

„Warum habe ich mich auf das alles eingelassen?“, murmelte Lucia mit einem Lächeln, bevor sie einen Schluck nahm.

Leo servierte ihr eine Portion Pasta mit Rindfleischsoße und fügte etwas Salat hinzu.
„Nicht zu viel trinken“, mahnte sie ihn sofort. „Morgen hast du Training“, erinnerte sie ihn.

Leo seufzte schwer.

„Ja, ja, ein Lauf, dann Lesen, und…“

„Das Lesen kannst du ab morgen selbst übernehmen“, unterbrach sie ihn.

„Wie bitte?“ Leo richtete sich auf, sein Blick bohrte sich in ihr Gesicht, als ob dort die Antwort auf seine Frage geschrieben stünde.

Eine gespannte Stille breitete sich im Raum aus. Lucia nahm einen Bissen Pasta und trank einen Schluck Wein, um die Antwort hinauszuzögern. Sie war nicht bereit, Leos Neugier sofort zu befriedigen.

Leo rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Geduld, Junge, Geduld, dachte Lucia mit einem Schmunzeln, während sie sich mit einer Serviette die Mundwinkel abtupfte.

„Die Pappardelle sind hervorragend“, sagte sie schließlich.

„Danke“, murmelte Leo, doch seine fragenden Augen verrieten, dass er auf eine andere Antwort wartete.

„Das ist dein letzter Abend hier, Leo“, erklärte Lucia schließlich ruhig und lehnte sich zurück. „Morgen erwartet dich deine erste Aufgabe.“

„Mein Prüfungsauftrag“, korrigierte Leo sie.

Lucias Mundwinkel zuckte leicht nach oben.

„Wie du willst.“

Der Junge rieb sich die Hände in Erwartung seines ersten Dämontötens auf der Erde. Blut schoss ihm in die Wangen, sein Atem beschleunigte sich.

„Und wo wird es stattfinden?“

„In der Polizeiwache im Viertel Pigna“, antwortete Lucia.

Der Junge erstarrte. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen, schluckte nervös und leerte sein Glas in einem Zug.

„Der Dämon hat sich letzten Winter dort eingeschlichen“, fuhr Lucia fort. „Ich habe ihn vor drei Tagen aufgespürt. Und ich habe entschieden, dass du ihn töten wirst.“

Leo nickte und atmete schwer aus, um sich zu sammeln.

„Verstanden“, murmelte er und senkte seine Stimme fast zu einem Flüstern.

Offenbar hat er nicht damit gerechnet, Ungeziefer in einem Gebäude zu vernichten, das voller bewaffneter Menschen ist, dachte Lucia mit einem zynischen Lächeln, das ihre Lippen umspielte.

„Wenn es sein muss, dann muss es eben sein. Ich habe sowieso schon zu lange gewartet, Mentorin“, sagte der Junge, piekste eine Nudel mit seiner Gabel auf und schob sie sich in den Mund. „Wie komme ich an ihn ran?“ fragte er, während er sorgfältig kaute.

„Ich werde hineingelangen“, erklärte Lucia, während sie den Jungen aufmerksam beobachtete. „Unser Dämon ist ein Capitano und ich möchte deine Karriere nicht gleich mit einem peinlichen Fehler beginnen.“

Leo legte die Gabel auf den Teller. Er hatte kaum die Hälfte gegessen und schien auch nicht vorgehabt zu haben, weiterzumachen.

Hat mein Vorschlag dich etwa eingeschüchtert? dachte Lucia. Wer hat behauptet, dass der Job eines Wächters leicht ist?

„Wirst du mich absichern?“, fragte Leo mit gehärtetem Gesichtsausdruck. Seine Hände ballten sich so fest zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Unzufrieden mit der Rolle, die ich dir zugedacht habe? dachte Lucia und warf ihm einen spöttischen Blick zu.

„Ja. Der Mentor sichert immer das erste Mal ab“, erklärte sie ihre Entscheidung. „Die Polizisten werden mich festnehmen und du wirst den Capitano töten.“

„Dann wird er wissen, dass du ein Wächter bist“, widersprach Leo, schüttelte den Kopf, und eine hellblonde Strähne fiel ihm über die Stirn. „Lass uns einen anderen Plan machen.“

„Der Plan steht, Leo“, sagte Lucia ernst. „Gegen fünf Uhr nachmittags bringen sie mich ins Polizeirevier und du wirst einen Weg finden, den Capitano zu töten. Morgen hat er Dienst und wird auftauchen, sobald er hört, dass ein Verdächtiger eingeliefert wurde.“

„Ein Köder?“, fragte Leo mit scharfer Stimme, die jedoch nicht von Wut zeugte. Er strich sich die Strähne aus dem Gesicht. Die Reaktion wirkte eher von Sorge getrieben. „Und wenn er dich…“

„Er wird mich nicht töten“, unterbrach ihn Lucia scharf. Ihre Geduld begann zu schwinden. „Ich werde meinen Herzschlag verlangsamen. Du hast nur eine Stunde, vergiss das nicht“, erklärte sie, wobei sie ihm in die Augen sah. Wie sehr mich deine übermäßige Fürsorglichkeit ankotzt, dachte sie mit Ärger, als sie die Besorgnis in seinem Blick bemerkte. „Also, machst du mit oder nicht?“

„Natürlich, Lucia, natürlich“, beeilte sich der Junge, seine Teilnahme zu versichern. „Ich mache mir nur Sorgen…“

Leos letzte Worte brachten Lucia endgültig auf die Palme.

Sie sprang auf und stieß den Tisch an. Das Geschirr klirrte, der Inhalt der Teller fiel auf den Tisch, und Wein schwappte aus ihrem Glas.

„Ich bin ein Racheengel, Leo!“, brüllte Lucia, unfähig, ihren Wutausbruch zu kontrollieren. „Ich werde sie alle töten! Aber wegen irgendwelcher idiotischen Regeln muss ich auch noch einen Schüler ausbilden! Und wenn er so begriffsstutzig ist, dass er nicht versteht, wer sein Mentor ist, kann ich ihn nicht ändern! Wir müssen einander vertrauen!“

Lucia konnte sich nicht beruhigen. Ihre Worte hallten durch das ganze Haus, begleitet von einem aufbrausenden Wind, der die Seiten eines auf dem Nachttisch offenen Buches umblätterte und die Vorhänge in den Schlafzimmern aufwirbelte. Der Junge, der vor Lucia saß, legte eine Hand auf sein Gesicht, sein Haar war zerzaust. Es war Lucia in diesem Moment völlig egal, selbst wenn er vom Stuhl gefallen wäre.

„Ja, verschwinde doch mit deiner lästigen Fürsorgemanie aus Italien, in dem Wissen, dass du einen Racheengel verärgert hast – wenn du nicht mein Schüler wärst!“ Sie hielt kurz inne, um Luft zu holen. „Oder ist dir so eine Aufgabe zu schwer? Bist du etwa zu schwächlich dafür?“

Als der Wind sich legte, nahm Leo die Hand von seinem Gesicht. Er leckte sich die Lippen und atmete schwer aus. „Ich gehe“, sagte der Junge ruhig.

„Dann decken wir uns gegenseitig den Rücken, Leo“, sagte Lucia und senkte dabei ihre Stimme. Sie trat vom Tisch zurück. Ihr Appetit war endgültig verflogen. „Gute Nacht!“

„Und der Nachtisch?“, wagte Leo zu fragen. Er hielt sie damit davon ab, den Saal zu verlassen, obwohl er wenige Minuten zuvor noch eine Standpauke kassiert hatte.

„Der Nachtisch in Form deiner Dummheit, Leo“, schnappte Lucia genervt und ging zur Treppe. Sie war gerade dabei, hinaufzugehen, als sie plötzlich innehielt. „Obwohl… nein“, sagte sie und wirbelte herum. Sie eilte zum Tisch, griff die Schale mit dem Tiramisu, das noch nicht vollständig auf den Tisch gefallen war, und hob sie auf. „Warum sollte das umkommen?“, fügte sie hinzu, während sie die Schale festhielt. „Und du bist morgen um fünf Uhr zum Lauftraining da, verstanden?“ Mit einem strengen Blick in Leos Richtung machte sie sich auf den Weg zu ihrem Zimmer.

Ein unterdrücktes Lachen entwich Leos Brust.
„Verstanden, Mentorin“, antwortete er mit einem schiefen Lächeln.

Er zog die fast leere Teller mit den verbliebenen Nudeln zu sich heran, griff nach seiner Gabel und begann mit unerschütterlicher Gelassenheit weiterzuessen.

– Fortsetzung folgt –

Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 44-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj, sie ist Mitglied im Journalistenverband der Ukraine. Svitlana Glumm verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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