Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 1 – Tödlicher Schlag
Aus dem Russischen
Kapitel 11.2
Die Wochenendtage waren ungewöhnlich warm für Ende April. Deshalb verließen die Urlauber den Strand nicht einmal, als die Uhr sechs schlug. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen. Das Rauschen der Wellen schmeichelte den Ohren und die Schreie der Möwen kündigten ihr abendliches Sammeln an. Sie hatten sich tagsüber ungeniert an der Nahrung der unachtsamen Badegäste bedient. Selbst wenn sie vertrieben wurden, gaben die Möwen nicht auf und versuchten erneut, mit ihren gebogenen Schnäbeln Essen aus den Taschen zu stibitzen.
Lucia streckte sich. Ihr Handtuch glitt vom Liegestuhl auf den Sand, und sie bückte sich, um es aufzuheben. Der Strand leerte sich langsam. Die Mütter mit Kinderwagen und ältere Menschen waren bereits gegangen. Die jungen Leute zogen näher ans Wasser, spazierten am Ufer entlang und ließen die Wellen über ihre nackten Füße spülen. Lucia legte das Handtuch wieder auf den Liegestuhl, machte es sich bequem und entschied, noch ein wenig zu verweilen. In ihrem Tiger-Bikini, den sie im März gekauft hatte, sah sie verführerisch aus, was die Blicke der vorbeigehenden Männer bewiesen. Ihre Gedanken wollte sie nicht lesen – sie wusste ohnehin, was in ihren Köpfen vorging.
Lucia richtete ihre Sonnenbrille und schloss die Augen, ließ die warmen Sonnenstrahlen ihre Haut streicheln.
Ein vertrautes Gefühl im Unterbauch ließ Lucia anspannen. Der rechte Mundwinkel hob sich leicht. Sie öffnete die Augen nicht, um Leo die Möglichkeit zu geben, sich über sie zu beugen. Sie stellte sich vor, wie sein Blick jeden Zentimeter ihres Körpers abtastete – von der Haarspitze bis zu den Füßen. Sein Blick verweilte auf ihrem flachen Bauch, glitt zu ihren Hüften und hielt an ihren Knöcheln inne.
„Hat Barnabo dich gehen lassen?“, fragte Lucia unerwartet, während sie die Augen öffnete. Leo richtete sich sofort auf und starrte auf das türkisfarbene Meer. Sein Gesichtsausdruck wurde gleichgültig, als hätte er sie nicht gerade mit neugierigen Augen gemustert.
„Nach dem Mittag kam René zurück und Barnabo hatte Mitleid mit mir und ließ mich nach Hause gehen.“
„Der Strand von Anzio sieht nicht gerade wie deine Wohnung aus, oder, Junge?“ Lucia schmunzelte und setzte sich auf den Liegestuhl.
„Du bist in die falsche Richtung gefahren, Leo,“ spottete sie.
„Ich bin mit dem Zug gekommen“, erwiderte der Junge mit einem Grinsen, während er weiter aufs Meer schaute. Er hatte gelernt, ihre Sticheleien zu ignorieren und manchmal mit denselben zurückzuschlagen.
„Willst du auch so zurückfahren?“
Leo schwieg. Er neigte den Kopf zur Seite und lächelte. In diesem Moment erinnerte er an einen schlauen Fuchs, der seinen Plan bereits ausgeheckt hatte.
„Du hoffst also auf eine kostenlose Mitfahrgelegenheit“, zwinkerte Lucia.
Sie stand vom Liegestuhl auf, warf die Sonnenbrille aufs Handtuch und ging zum Wasser. Die kühlen Wellen erfrischten ihren von der Sonne erhitzten Körper. Ohne Eile ging Lucia ins Meer, bis das Wasser ihr bis zum Hals reichte, und tauchte schließlich ganz unter. Während sie tiefer schwamm, hörte sie deutlich das Knarren, Quieken und Zwitschern der vorbeischwimmenden Fische.
Wer behauptet, dass Fische nicht sprechen können? dachte sie. Sie können es sehr wohl. Da, ein Drachenkopf summt ein Lied für seine Freundin und in der Ferne kluckert eine alte Makrele etwas zum Nachwuchs.
Lucia tauchte auf, schnappte nach Luft und blickte auf die verschwommene Linie, wo der Horizont das Ufer berührte.
Ich sollte es nicht übertreiben, sonst schwimme ich noch bis nach Sizilien, dachte sie schmunzelnd. Sie strich sich das nasse Haar zurück und lauschte.
„Du?“ Lucia verdrehte genervt die Augen.
Einen Meter von ihr entfernt tauchte Leos Kopf auf.
„Du bist so schnell geschwommen, dass ich gar nicht reagieren konnte“, sagte er, während er seine Nase rieb.
„Du hättest nicht hinter mir her schwimmen sollen“, entgegnete Lucia mit einem Lächeln.
„Hast du genug Kraft, um zurückzukommen?“ Sie schielte ihn schelmisch an. Leo lachte und warf den Kopf zurück.
„Keine Sorge, Mentorin“, erwiderte er und traf ihren Blick.
Ihre Gesichter waren einander zugewandt und Lucia spürte, wie der Wunsch, den Kuss vom Freitag zu wiederholen, mit jedem Atemzug wuchs. Leo schwamm näher, strich eine nasse Haarsträhne aus Lucias Gesicht. Seine Berührung brannte auf ihrer Haut und der graue Blick seiner Augen ließ alle Versuche, sich zu wehren, schmelzen.
Worauf wartest du? drängte ihr Herz und forderte ihn auf, zu handeln.
Ihr Körper, gekühlt vom Wasser, begann vor Hitze zu brennen, Blut schoss ihr ins Gesicht. Lucia schloss die Augen. In diesem Moment presste Leo seine Lippen leidenschaftlich auf ihre. Lucia stieß ihn nicht weg, sondern öffnete den Mund leicht und ließ ihn ihre Unterlippe zärtlich liebkosen. Der Junge zog sie näher an sich, umarmte sie sanft um die Taille. Als ihre Körper sich berührten, entwich Lucia ein leises Stöhnen. Das Kitzeln zwischen ihren Oberschenkeln verstärkte sich. Sie legte die Hände auf Leos Schultern, drückte ihre Lippen auf seine und berührte mit ihrer Zunge seine. Sie spürte, wie er leicht zitterte, aber seine Umarmung blieb fest.
Sie öffnete die Augen.
Das ist dein erster richtiger Kuss, schoss ihr durch den Kopf.
Lucia stieß Leo sanft weg.
„Komm mit mir“, flüsterte sie und sah ihn zärtlich an. „Komm.“
Lucia tauchte unter, sicher, dass Leo ihr folgen würde. Wie sie zum Ufer zurückschwammen, ihre Sachen packten und den Strand verließen, konnte sie sich später nicht mehr erinnern.
Kaum hatten sie das Schlafzimmer betreten, begann Leo, sie zu küssen, während er sich gleichzeitig das T-Shirt auszog. Lucia stoppte ihn, indem sie ihm einen Finger auf die Lippen legte.
„Nicht so eilig, Junge“, sagte sie lächelnd und legte den Kopf auf seine Brust, lauschte seinem Herzschlag.
Sie umarmte ihn, strich mit den Fingerspitzen zart über seine Haut und spürte, wie sich jeder Muskel unter ihrer Berührung anspannte.
„Was ist das nur?“, fragte ihr Herz, als Lucia sich wünschte, dass diese Zweisamkeit ewig dauern würde.
Der Junge zog Lucias Shirt aus und berührte mit seinen Lippen ihre Schulter. Wieder durchströmte ein heißes Gefühl Lucias Körper. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete Leo, der vor dem Fenster stand. In den Strahlen der untergehenden Sonne schimmerte sein Körper in einem goldenen Glanz. So sieht also ein Engel aus, gewoben aus den seidigen Fäden des Himmels.
Leo lächelte und streckte die Arme nach Lucia aus.
„Und was ist das, wenn nicht Liebe?“, gestand sich ihr Herz endlich ein. Lucia nahm Leos Hände und zog ihn zu sich heran. Als er sie umarmen wollte, drückte sie ihn sanft mit der Hand gegen die Brust, sodass er aufs Bett fiel.
Es war sein erstes Mal und Lucia wollte nichts überstürzen. Sie beugte sich über Leo und küsste ihn. Seine Hände fanden den Weg zu ihren Hüften und die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut ließ Lucia in eine Welt voller Zärtlichkeit und Genuss eintauchen. Ihre Atemzüge wurden schneller, ihre Körper brannten vor Verlangen, und ihre Augen funkelten vor Glück.
„Ich…“, begann Leo, doch Lucia unterbrach ihn, indem sie ihn auf die Lippen küsste und ihn zärtlich an sich drückte.
Leo stöhnte leise.
„Keine Worte“, flüsterte sie. „Nicht jetzt.“
Von den letzten Kleidungsstücken befreit und in gegenseitiger Zärtlichkeit verloren, tauchten sie ein in eine Welt der Leidenschaft. Das prickelnde Gefühl in Lucias Unterleib erreichte seinen Höhepunkt. Sie umarmte Leo fester, biss sich in seine Schulter und schloss die Augen. Ihre Herzen schlugen im gleichen Rhythmus und Lucia ließ sich von einem Gefühl unendlichen Glücks davontragen.
Die Nacht verbrachten sie damit, zu reden und hin und wieder in die Küche zu schleichen, um etwas aus dem Kühlschrank zu holen. Meistens war es Leo, der sich auf die Suche machte, während Lucia es vorzog, sich im Bett zu räkeln.
„Ich bin so hungrig, so hungrig“, gestand Leo und biss in ein Stück Käsepizza. Er saß auf dem Bett gegenüber von Lucia, nur von einem Laken um die Hüften bedeckt. Sie hatten das Licht ausgelassen und bevorzugten die Dunkelheit, die es ihnen dennoch erlaubte, einander zu sehen.
Lucia lachte laut. Sie stellte ihren leeren Teller auf den Boden, zog das Laken um sich und setzte sich auf die Kissen.
Leo betrachtete sie aufmerksam.
„Du bist so schön“, sagte er und beugte sich vor, um sie auf die Lippen zu küssen. „Ich liebe dich“, gestand er. „Und ich wollte das schon lange sagen.“
Lucia strich ihm mit der Hand über die Wange und ließ ihre Fingerspitzen über seine weiche Haut gleiten.
„Ich weiß, Leo“, flüsterte sie.
Sein Geständnis brachte ihr mehr Freude als alle ihre Siege über die Dämonen. Zum ersten Mal seit siebzehn Jahren konnte sie dasselbe erwidern. Doch sie wollte es jetzt nicht aussprechen, überzeugt, dass Taten mehr sagen würden als Worte. Sie zog Leo zu sich heran und küsste ihn sanft am Hals. Wieder liebten sie sich, ohne die Zeit zu bemerken, die unaufhaltsam verging.
Als die Dämmerung hereinbrach, lag Lucia auf dem Bauch, die Hände unter ihrem Kopfkissen, und lauschte Leos Plänen für die Zukunft.
„Ich möchte an die Universität gehen“, teilte er ihr seinen Traum mit, während er neben ihr saß.
„Und was ist mit dem College?“, fragte sie überrascht und stützte sich auf ihren Ellbogen.
„Nach einer solchen Schule aufs College zu gehen, ist einfach nicht cool.“
Lucia pfiff leise durch die Zähne.
„Nicht cool?“ Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen. „Wie du willst“, sagte sie und zuckte mit den Schultern.
Es war seine Entscheidung, und Leo konnte mit seinem Leben machen, was er wollte, dachte sie.
„Ja, wie ich will“, sagte Leo und strich mit der Hand über Lucias Rücken.
„Ich werde bald umziehen“, verkündete sie, während sie sich auf den Rücken drehte.
Leo leckte sich über die Lippen, sein durchdringender Blick verriet, dass er etwas plante.
„Na los, rück damit raus, Junge“, sagte Lucia mit einem Schmunzeln.
Leo neigte den Kopf und betrachtete seine Finger.
„Willst du mich nicht mitnehmen?“, fragte er leise, ohne sie anzusehen.
Lucia schnaubte und starrte zur makellos weißen Decke hinauf.
Leo wagte nicht, die Stille als Erster zu brechen.
Du willst mich nicht zurücklassen, dachte Lucia, nicht ohne eine Spur von Freude.
„Und wohin? Und was ist mit der Schule?“, fragte sie mit gespielter Gleichgültigkeit, während sie versuchte, ihre innere Freude zu verbergen. Die Ernsthaftigkeit, mit der Leo die Beziehung betrachtete, machte sie glücklich. Auch sie wollte Leo nicht einfach für eine Weile sehen und dann auseinandergehen, nur weil die Zeit gekommen war, Rom zu verlassen. Lucia hatte nicht vor, jemanden, mit dem sie sich so wohl fühlte, so schnell aufzugeben. Wie lange ihre Beziehung dauern würde, wusste sie nicht. Das würde die Zeit zeigen.
Leo sprang vom Bett auf und stellte sich vor sie.
„Universitäten gibt es überall“, sagte er entschlossen. „Ich kann die Schule beenden und in einer anderen Stadt studieren. Lucia, wir werden zusammen sein!“ Der begeisterte Ausruf des Jungen brachte sie zum Lächeln. „Ich werde unter deiner Anleitung Dämonen jagen, solange du willst.“
Lucia richtete sich auf den Kissen auf.
„Hast du das schon lange geplant?“, fragte sie streng.
Leo zögerte, unsicher, was er sagen sollte. Er biss sich auf die Unterlippe und sah Lucia in die Augen.
„Seit wir zur Vorbereitung nach Rom gekommen sind“, gestand er zögernd.
Lucia atmete schwer aus.
„Töte mich nicht, meine Liebe!“, rief Leo plötzlich und stürzte sich auf sie, überschüttete ihre Schultern und Arme mit Küssen.
Lucia schob ihn lachend von sich.
Es muss entschieden werden, wohin wir ziehen, nicht, ob wir uns in Zärtlichkeiten verlieren, dachte sie.
Leo sah sie überrascht an.
„Ich muss Agéor informieren, dass ich früher umziehe“, sagte Lucia kühl, während sie überlegte, welche Worte sie Woldéri mitteilen würde.
„Ich glaube nicht, dass er dagegen sein wird.“
„Ich auch nicht“, stimmte Leo zu.
„Wir nehmen eine größere Wohnung“, fuhr er fort und legte seinen Plan dar. „Ich habe schließlich Geld“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu. „Und bis Ende des Sommers mache ich meinen Führerschein. Wenn wir schon umziehen, dann richtig vorbereitet.“
Lucia griff nach einem Kissen und warf es nach ihm.
Leo wich blitzschnell aus und das Kissen landete auf dem Boden.
„Frechdachs! Alles schon entschieden!“, rief Lucia empört, dass er sie nicht einmal gefragt hatte.
Leo lachte laut.
„Na gut, dann entscheide du, wohin wir ziehen“, sagte er großzügig, während er immer noch lachte.
Lucia streckte sich nach dem Minifon, der auf dem Nachttisch lag. Sie drückte auf den Knopf und an der Decke erschien eine holografische Karte Italiens.
„Und?“, drängte Leo.
Lucia schloss die Augen und tippte mit dem Finger auf die Decke.
„Und?“, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen.
„Mailand“, kam die Antwort von Leo.
Sie öffnete die Augen.
„Na schön, wenn Mailand, dann Mailand“, sagte sie und schaltete den Projektor aus.
Leo trat ans Bett.
„Also bist du einverstanden?“, fragte er und beugte sich über sie.
Bitte, Lucia, las sie in seinen Augen die stille Bitte, gemeinsam umzuziehen.
Was soll ich bloß mit dir machen, Kleiner? dachte Lucia, während ihre Mundwinkel sich leicht hoben.
„Ja!“ rief sie, und ein Lufthauch wirbelte Leos Haare durcheinander.
Ein strahlendes Lächeln erhellte sein Gesicht. Er hob Lucia hoch, schlang die Arme um sie und trug sie aus dem Schlafzimmer. Sie legte ihre Arme um seinen Hals.
„Jetzt wird meine Liebste duschen“, sagte Leo, als sie vor dem Badezimmer ankamen. „Es ist fast Morgen, und jemand muss zur Arbeit.“
„Und jemand muss in die Schule und die Hausaufgaben sind noch nicht gemacht“, neckte Lucia ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
– Fortsetzung folgt –
Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 44-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj, sie ist Mitglied im Journalistenverband der Ukraine. Svitlana Glumm verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.