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Engelsklinge – Buch 1: Tödlicher Schlag (Kapitel 12.1)

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Lucia trifft ihre Freundin Julietta in Mailand wieder.
Lucia trifft ihre Freundin Julietta in Mailand wieder. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)
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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 1 – Tödlicher Schlag

Aus dem Russischen

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Kapitel 12.1

Um sieben Uhr abends war es auf der Piazza della Repubblica nicht sehr belebt.

Dienstagabend eben, dachte Lucia bei sich. Sie ging zu den Tischen des Cafés „Buona Sera“. Dort warteten bereits Freunde auf sie.

An ihrem letzten Tag in Rom wollte Lucia nur diejenigen Menschen sehen, die ihr wirklich am Herzen lagen und die für immer in ihrer Erinnerung bleiben würden. Es war unwahrscheinlich, dass sie Barnabo, der im Juni seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag feiern würde, je wiedersehen würde. Ebenso unwahrscheinlich war es, dass sie noch einmal mit Isabella ins Vertrauen gehen oder mit deren Mann Rinaldo über Neuigkeiten diskutieren könnte. Sie würde keine Freude mehr über die erfolgreiche Lösung eines Falles mit Filippo teilen oder mit René scherzen, der ein enger Freund von Leo geworden war. Lucia wusste, dass dies das letzte Treffen sein würde. Natürlich hatte Isabella versprochen, mit Rinaldo vorbeizuschauen, und René wollte den berühmten „Teatro La Scala“ besuchen. Doch sobald sie und Leo Rom verlassen hätten, würden ihre Freunde in die Routine des Alltags zurückkehren.

Früher oder später kommt der Moment des Abschieds, der Moment, in dem man die Menschen loslassen muss, die man liebt. Auch wenn Lucia es nie zugegeben hätte, ein winziges Stück ihrer Seele würde für immer über Rom schweben. Das war ihre Heimat, ihre Wurzeln. Kein anderer Ort würde je die gleiche Bedeutung in ihrem Leben haben wie die Ewige Stadt.

Leo saß bereits am Tisch und unterhielt sich mit René. Gestern hatte er seine Arbeit beendet und hatte daher heute frei. Natürlich hatte Lucia ihn nicht untätig herumlaufen lassen, sondern ihn mit Hausarbeiten beauftragt – er sollte die letzten verbliebenen Dinge in der Wohnung packen, während sie im Büro war. Leo hatte die Aufgabe schnell erledigt, denn fast alles war schon verpackt. Deshalb war er vor Lucia im Café angekommen.

Als er Lucia erblickte, sprang Leo von seinem Stuhl auf.

„Lucia!“, rief er. „Wir warten nur noch auf dich“, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

Lucia trat an den Tisch, an dem ihre Freunde saßen, und umarmte jeden Einzelnen der Reihe nach.

„Auf dich kann ich verzichten“, wandte sie sich scherzhaft an Leo, als er versuchte, sie zu umarmen.

Leo hob die Hände, als wolle er sagen: „Wie du willst.“ Lucia las seinen Gedanken: Aber zuhause entkommst du mir nicht so einfach. Sie blinzelte verschmitzt und machte es sich auf ihrem Stuhl bequem.

Woldéri hatte den Umzug nach Mailand drei Jahre zuvor positiv aufgenommen.

„Zwanzig Jahre – das ist die übliche Frist“, erklärte ihr Mentor, als Lucia ihn angerufen hatte. „Manche wechseln die Stadt nach siebzehn Jahren, andere nach dreiundzwanzig. Aber irgendwann muss man wegziehen. Wir müssen unauffällig bleiben, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Menschen könnten unangenehme Fragen über unser unverändertes Aussehen stellen. Danke für die Information“, fügte der Mann hinzu, verabschiedete sich und legte das Minifon auf.

Der Umzug war für Ende September geplant. Bis dahin hatte Lucia ihre Arbeit abgeschlossen und ihre Aufgaben an Filippo übergeben.

Im Sommer hatte Leo sein Abitur gemacht und den Führerschein bestanden. Im Frühjahr hatte er sich an den Universitäten in Mailand beworben und wartete nun auf die Ergebnisse.

An einem Augusttag stürmte Leo ins Büro der Agentur. Sein strahlendes Lächeln und das Leuchten in seinen Augen verrieten die freudige Nachricht, die er mitteilen wollte. Lucia hatte ihm jedoch strengstens verboten, sie ohne wichtigen Grund während der Arbeit zu stören.

In der Tür traf Leo auf Isabella. Sie war auf dem Weg zu einem Richter, der den Fall ihres Mandanten bearbeitete – ein Mann, der des Diebstahls von medizinischen Unternehmensgütern beschuldigt wurde. Isabella wollte dem Gericht mitteilen, dass sie Beweise sammelt, um dem Anwalt zu helfen, den Mann zu entlasten.

„Ist etwas passiert?“, fragte Isabella und bemerkte den Umschlag in Leos Hand.

„Ich bin angenommen worden“, rief Leo, unfähig, seine Freude zu verbergen, oder zu warten, bis Isabella das Büro verlassen hätte.

Der junge Mann warf Lucia einen Blick zu. Sie saß am Tisch, auf dem ein Ordner mit Dokumenten lag. Von dem strengen Blick, mit dem sie ihn bedachte, verschwand das Lächeln von Leos Gesicht.

Das ist kein Grund, in mein Büro zu platzen und mich bei der Arbeit zu stören, dachte Lucia und biss sich auf die Zunge, um den Jungen nicht vor Isabella zurechtzuweisen. Du hättest einfach anrufen können.

„Herzlichen Glückwunsch!“ Isabella drückte Leo die Hand und schlüpfte aus dem Büro. „Ein seriöser Herr in einer schwarzen Robe wartet schon auf mich“, rief sie im Flur.

„Viel Erfolg“, wünschte Leo, während er ihr nachsah.

Lucia stand bereits neben ihm. Mit einem schnellen Griff riss sie ihm den bedruckten Umschlag aus der Hand.

„Und was haben wir hier?“, fragte sie, zog das versiegelte Dokument heraus und öffnete es.

„Die Universität Mailand erwartet Leonardo Ricci zum Studium ab dem ersten Oktober“, verkündete Leo stolz, bevor Lucia dasselbe auf dem Papier lesen konnte.

„Schön für dich, aber lass dir das nicht zu Kopf steigen“, bremste sie seinen Enthusiasmus mit einem strengen Ton, der zu ihrem Blick passte. „Das entbindet dich nicht von deinen Aufgaben.“

„Verstanden, Lucia“, zwinkerte Leo. Dann senkte er die Stimme, obwohl niemand außer ihnen beiden im Büro war. „Morgen in Monti wird’s heiß.“

Filippo bildete gerade Francesco Cavalli aus, einen jungen Mann, der dieses Jahr das Polizeikolleg abgeschlossen hatte und sich entschieden hatte, für die Agentur zu arbeiten, anstatt nächtliche Streifen durch die Hauptstadt zu ziehen.

„In Mailand wirst du allein auf Spurensuche gehen“, erklärte Lucia ihm trocken. „Es wird Zeit, erwachsen zu werden, Junge“, fügte sie mit einem schiefen Lächeln hinzu.

„Ich bin bereit“, entgegnete Leo selbstbewusst.

„Hoffentlich“, meinte Lucia, nicht ohne einen spöttischen Unterton. „Sonst wird dir der Dämon den Hintern versohlen, und ich darf ihn quer durch die Stadt jagen.“

Leo runzelte die Stirn, doch Lucia klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.

„Schon gut, ich glaube dir.“ Sie steckte das Dokument zurück in den Umschlag und hielt es Leo mit übertriebenem Ernst entgegen. „Und, was wirst du an der Uni machen?“

Leo sah sie verwirrt an. „Lernen“, antwortete er.

„Das war nicht meine Frage,“ seufzte Lucia genervt und verdrehte die Augen, bevor sie sich wieder an ihren Platz setzte.

„Ich werde am Fachbereich für politische, wirtschaftliche und soziale Wissenschaften studieren“, erklärte Leo mit Nachdruck und betonte jedes Wort.

Lucia hielt inne, offensichtlich überrascht von seiner Antwort. Für einen Moment blieb sie reglos stehen, dann ließ sie sich in ihren Stuhl fallen und brach in schallendes Gelächter aus. Das Bild von Leo, der in einem Anzug komplizierte Reden schwingt, passte so gar nicht zu seinem bisherigen Auftreten. Sein freundlicher Charakter wirkte fehl am Platz in der Rolle eines Politikers – einer Rolle, die in Lucias Augen ohnehin schon besetzt war.

„Du bist ein Wächter, kein Gesetzgeber, Leo“, sagte sie schließlich, nachdem sie sich beruhigt hatte.

„Eines schließt das andere nicht aus“, entgegnete Leo.

„Ich wusste es gleich – du bist ein seltsamer Wächter“, seufzte Lucia.

„Ich bin ganz normal“, widersprach er. „Das wirst du in Mailand sehen.“

„Darauf freue ich mich schon“, sagte Lucia mit einem leichten Lächeln. „An deinem Fachbereich gibt es ja auch Sozialwissenschaften. Das passt besser zu dir.“

Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, vertiefte sich in die Unterlagen vor ihr. Die Stille im Büro wurde nur vom Rascheln der Papiere unterbrochen. Nach einer Minute blickte sie auf und bemerkte, dass Leo immer noch da war.

„Bist du immer noch hier?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Barnabo wartet sicher schon, und du trödelst hier herum. Oder willst du keinen Motorradführerschein? Geld liegt schließlich nicht auf der Straße.“

Bevor sie ihren Satz beenden konnte, stand Leo bereits vor ihr und küsste sie auf die Lippen.

„Jetzt kann ich gehen“, grinste er und machte sich auf den Weg zur Tür.

Sein Eigenwille brachte Lucia zum Kochen.

„Ich habe dir gesagt, du sollst deine Tricks nicht an mir ausprobieren“, murmelte sie, bereit, ihn zu tadeln. Doch er war schon aus der Tür verschwunden, die laut hinter ihm ins Schloss fiel.

Was soll ich nur mit ihm machen? dachte Lucia seufzend. Sie wusste, dass ihre Proteste seinen Charakter nicht ändern würden. Aber das wollte sie auch nicht. Sie hatte Leo so akzeptiert, wie er war. Darin lag doch der Kern einer Beziehung. Wäre Leo strenger oder kompromissloser, hätten sie sich längst gegenseitig zerfleischt.

Den Einsatz ihrer besonderen Fähigkeiten ohne triftigen Grund fand Lucia jedoch unangebracht. Dieses Verhalten musste sie angehen – allerdings nicht am Arbeitsplatz.

Lucia zog ein weiteres Dokument aus dem Ordner und begann, es aufmerksam zu lesen.

Vor drei Wochen hatte Leo sich einen brandneuen „Kawasaki“ gekauft und war zur Universität Mailand gefahren, um die Unterlagen abzugeben und sich für die Vorlesungen einzuschreiben. Damals hatte er auch eine Wohnung gefunden. Gestern hatte er angeboten, den Möbelpackern beim Auspacken zu helfen und das Abendessen vorzubereiten. Daher war er bereits vor Lucia nach Mailand aufgebrochen, um die Möbel in der Wohnung einzurichten, bevor sie eintraf.

Als Leo vorgeschlagen hatte, sie solle früh am Morgen mit ihm fahren, hatte Lucia entschieden abgelehnt. Es ist unsinnig, bei Sonnenaufgang aufzubrechen, wenn man Mailand auch am Nachmittag erreichen kann, hatte sie gedacht. Leo hatte ihren Unwillen sofort bemerkt und nicht darauf bestanden – er wollte sie nicht mit Betteleien verärgern. Wenn es um Schlaf ging, war Lucia kompromisslos und Leo wusste, dass er keine Chance hatte, sie umzustimmen.

Am Morgen nahm Lucia eine Dusche, zog sich an und ging in die Küche. Auf der Fensterbank stand ein Glas Kaffee und in einer Tüte lagen frische Brötchen. Bevor er aufgebrochen war, hatte Leo bei Barnabo vorbeigeschaut und Gebäck aus der ersten Backcharge gekauft.

Unverbesserlicher Romantiker, dachte Lucia schmunzelnd.

Lucia erreichte die Modemetropole gegen vier Uhr nachmittags.

Der milde Herbst hatte den drückenden Sommer abgelöst. Die Tage waren angenehm warm, während die Nächte bereits kühl waren. Die Sonne strahlte weniger intensiv, und der Himmel war zunehmend von dichten, erdfarbenen Wolken bedeckt, die Regen ankündigten. Lucia liebte diese Jahreszeit, in der die Natur zur Ruhe kam – keine neuen Blumen auf den Beeten, keine frischen Blätter an den Sträuchern und die Äste der Bäume bogen sich unter der Last der reifen Früchte.

Im Viertel Porta Venezia lenkte Lucia ihr Motorrad auf die Piazza San Babila. Sie bemerkte, dass der Herbst nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen zu entschleunigen schien. Einige schlenderten von einer Boutique zur nächsten, andere saßen entspannt in Cafés, beobachteten durch große Fenster das Geschehen auf den Straßen. Wieder andere ruhten sich auf Parkbänken aus, zurückgelehnt und in sich gekehrt.

Wenn sich so die Dämonen verhielten, dachte Lucia mit einem Anflug von Sarkasmus, gäbe es von diesen Biestern weniger auf der Welt.

Lucia parkte ihre Ducati in der Via Mozart und betrachtete das zweistöckige Backsteinhaus. Ihre neue Wohnung befand sich – wie die alte – direkt unter dem Dach. Dies war praktisch für nächtliche Erkundungen und erlaubte es ihr, den Sonnenaufgang von der Spitze des Gebäudes aus zu beobachten und die kühle Brise auf ihrem Gesicht zu spüren. Das Haus lag abseits der Hauptstraße, sodass der Lärm der Stadt die Bewohner nicht störte. Durch die großen, bodentiefen Fenster konnte man gelegentlich vorbeifahrende Autos beobachten.

Als sie das oberste Stockwerk erreichte, hörte Lucia, wie Schritte in der Wohnung nebenan verstummten. Sie schmunzelte.

Er hat bemerkt, dass ich da bin, dachte sie über Leo.

Lucia steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Der Duft von gedünstetem Hummer ließ ihren Magen laut knurren und erinnerte sie daran, dass sie außer den Brötchen und einer Tasse Kaffee nichts gegessen hatte. Sie ging an den Schlafzimmern und der Küche vorbei, aus der das Blubbern von Wasser in einem Topf zu hören war und betrat das geräumige Wohnzimmer. Ohne Eile musterte sie den spärlich eingerichteten Raum.

Ein paar Möbel müssen wir noch besorgen, dachte sie.

„Was erwartest du? Du hast doch in einer kleineren Wohnung allein gewohnt“, flüsterte sie halblaut vor sich hin.

Ein unterdrücktes Lachen drang aus der Küche.

Lucias Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er konnte es nicht abwarten, mich zu sehen, dachte sie und biss sich leicht auf die Unterlippe.

Mit einer blitzschnellen Bewegung nutzte sie ihre Fähigkeit und stand im Bruchteil einer Sekunde in der Küchentür. Leo hatte gerade den Herd ausgeschaltet und drehte sich zu Lucia um, während er sich die Hände an einem Geschirrtuch abtrocknete. Auf dem Schneidebrett lagen sauber geschnittene Gemüsescheiben.

„Ein ruhiges, gemütliches Plätzchen“, begann Lucia das Gespräch.

„Nicht umsonst nennt man es das ‚Quadrat der Stille‘“, antwortete Leo und warf das Tuch auf den Tisch.

„Und wo ist das Abendessen?“ Lucia hob überrascht eine Augenbraue. Sie war nicht gerade talentiert in der Küche und überließ es daher Leo, das tägliche Menü zu planen. „Ich dachte, ich komme an, und…“

Bevor sie den Satz beenden konnte, war Leo schon bei ihr, drückte sie gegen die Wand und küsste sie. Mit einer geschickten Bewegung zog er ihr die Lederjacke aus. Als Lucia sich abwenden wollte, um ihm zu entwischen, blockierte er ihren Weg mit einem Arm.

„Das Essen ist fast fertig“, flüsterte er und beugte sich zu ihr, seine Lippen berührten sanft ihr Ohr. Dann zog er ihr den Haargummi aus, ließ ihre Haare frei fallen und vergrub sein Gesicht darin, während er den fruchtigen Duft ihres Parfüms tief einatmete.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Lucia kokett, ebenfalls flüsternd.

Leo lachte leise, warf den Kopf zurück und konnte sein Verlangen kaum unterdrücken. Lucia gab dem Moment nach und küsste ihn am Hals, streichelte dabei mit der Zunge über seine Haut. Leo schlang die Arme um ihre Taille, hob sie leicht an und setzte sie auf den Küchentisch.

„Jemand hat sich eben noch über das Abendessen beschwert, und jetzt…“

Lucia schloss die Augen und ließ zu, dass Leo ihr die Bluse auszog. Ihr Atem wurde schneller, ihr Körper reagierte auf jede seiner Berührungen.

„Du bist ein gelehriger Schüler“, flüsterte sie atemlos.

Leo lachte leise, zog sie dichter an sich heran und küsste sie erneut.

Später stand Lucia vor einem Spiegel und betrachtete die neuen Stretch-Kadi-Hosen, die sich eng um ihre Hüften schmiegten und ihre Figur betonten. Sie hatte sie heute Morgen in einem Boutique auf der Piazza San Babila gekauft.

Gestern war Julietta in Mailand angekommen und hatte sofort erklärt, dass sie die Stadt nicht ohne neue Kleidung verlassen würde. Natürlich hatte sie Lucia nicht ohne einen Einkauf aus dem Laden gelassen.

„Eine echte Mode-Ikone“, hatte Julietta ihr mit einem zufriedenen Lächeln Komplimente gemacht, nachdem sie sie zum Shoppen überredet hatte. „Du solltest im Februar zur Fashion Week gehen“, riet sie ihr. „Warum bin ich bloß nach Verona gezogen“, fügte sie hinzu und presste die Lippen zusammen. „Jetzt könnten wir zusammen Mailand erobern.“

Lucia drehte sich zu ihrer Freundin um. Julietta, eine blonde Schönheit, saß auf dem Bett im Gästezimmer.

„Und was hindert dich daran, herzukommen?“, fragte Lucia.

„Pablo hat seine Arbeit in der Tierklinik. Er könnte eine großartige Karriere machen“, antwortete Giulietta, in deren Stimme Stolz auf ihren Freund mitschwang.

Der große Tierflüsterer, dachte Lucia ironisch. Eine beeindruckende Karriere. Doch sie sprach es nicht aus, um Julietta nicht zu verletzen. Wegen Pablos Eigenartigkeiten wollte sie die Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Sie hatte ohnehin nur wenige enge Freunde, sei es wegen ihrer oft schroffen Art, wie ihr immer wieder gesagt wurde, oder wegen ihres Unwillens, sich ständig über Hochzeiten, Kinder und alterungsbedingte Gewichtszunahme zu unterhalten. In Mailand hatte Lucia bisher keine Freundin gefunden, mit der sie sich so vertraut austauschen konnte wie mit Isabella.

Mit einem gezwungenen Lächeln sagte sie: „Kliniken gibt’s überall.“

Insgeheim hoffte sie, dass Pablo hartnäckig in Verona bleiben würde. Lucia war ihm ohnehin dankbar, dass er keine Zeit für einen Besuch hatte. Sein überfüllter Zeitplan war eine Wohltat für sie. Ich will dich nicht sehen, dachte sie, als Pablo sie persönlich anrief, um sich für seine Abwesenheit zu entschuldigen.

Allein der Gedanke an sein überhebliches Lächeln ließ Lucia erschaudern. Jetzt, da Verona nur zwei Stunden von Mailand entfernt war, konnte sie Julietta häufiger sehen – leider inklusive Pablo. Kein anderer Engel hatte bei Lucia so viel Abscheu hervorgerufen wie Juliettas Freund. Manche Leute ignorierte sie, andere behandelte sie neutral, doch Pablo brachte in ihr reines Unbehagen hervor. Trotzdem bemühte sie sich, ihre Abneigung nicht offen zu zeigen.

„Er mag Verona. Warum, weiß ich nicht“, sagte Julietta und zuckte mit den Schultern. „Außerdem arbeite ich in einer Schule. Es gibt dort so viel zu tun – du würdest es nicht glauben, Lucia.“

„Dann komm doch zu mir, um dich von deinen Plagegeistern zu erholen“, schmunzelte Lucia.

Julietta faltete ein Sommerkostüm und ein Paar Schuhe, die sie gekauft hatte, und warf sie in den offenen Koffer auf dem Boden.

„Morgen Abend geht’s zurück nach Hause“, seufzte Julietta schwer. „Ich sollte mir mal eine Woche Urlaub gönnen.“

„Da bin ich ganz deiner Meinung“, sagte Lucia, zog ihre Hose aus und schlüpfte in ihre bequeme Hauskleidung.

„Also, Leo studiert Politikwissenschaften?“, fragte Julietta und wechselte das Thema, das ihr, wie Lucia bemerkte, nicht besonders gefiel.

„Nein, Soziologie“, korrigierte Lucia kopfschüttelnd.

„Irgendwie sieht er nicht wie ein Wächter aus, findest du nicht?“ Juliettas durchdringender Blick traf Lucia direkt ins Herz.

Pass auf, was du sagst, meine Liebe, dachte Lucia verärgert. Ich mische mich ja auch nicht in die Sache mit deinem sonderbaren Grinsekatzen-Freund ein.

„Warum“, fragte sie mit gespielter Verwunderung. „Er hat die Ausbildung absolviert und war gerade erst auf einem Einsatz. Letzte Woche hat Leo in Monza einen Dämon erledigt, während ich meinen in Fiera verfolgt habe. Was er in seiner Freizeit macht, ist seine Sache. Hauptsache, es beeinträchtigt nicht seine eigentliche Arbeit“, verteidigte Lucia ihren Partner. Unbewusst hatte sie die Stimme gehoben und Julietta schaute sie nun entschuldigend an.

„Schon gut, schon gut“, gab Julietta nach. „Aber nach den Regeln…“

„Nicht immer bestimmen Regeln unser Leben“, unterbrach Lucia sie scharf. Sie mochte dieses Gespräch nicht und machte sich auf den Weg aus dem Schlafzimmer.

„Das sag mal Angel“, bemerkte Julietta mit einer Spur Ironie.

Lucia stellte sich vor, wie wütend der oberste Engel wäre, wenn er ihre Worte hören würde. Doch das war ihr herzlich egal. Angel könnte ruhig ein bisschen entspannter sein, dachte sie.

Sie drehte sich um. Sich wegen Männern – oder schlimmer noch, wegen der Regeln, die Agere aufgestellt hatte – zu streiten, war es nicht wert.

„Komm, lass uns die Lasagne essen, die Leo gestern gemacht hat, und dazu einen Kaffee trinken“, schlug Lucia versöhnlich vor. „Nach einer Shoppingtour brauchen Mädels eine Stärkung.“ Sie streckte Julietta die Hand entgegen.

Julietta sprang vom Bett auf. „Nichts ist besser für den Frieden als ein gutes Abendessen,“ lachte die Blonde.

– Fortsetzung folgt –

Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 44-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj, sie ist Mitglied im Journalistenverband der Ukraine. Svitlana Glumm verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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