Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 1 – Tödlicher Schlag
Aus dem Russischen
Kapitel 16.1
Edinburgh empfing sie mit strömendem Regen. Menschen drängten sich an die Glaswand des Flughafengebäudes und warteten darauf, dass Taxis vor dem Eingang hielten. Sie diskutierten den Wetterbericht, der versprach, dass am Sonntag eine Gelegenheit für einen Spaziergang durch die Stadt entstehen würde.
Am Flughafen wurden die Jugendlichen von einem hageren, sehnigen Mann abgeholt, der sie wortlos zum Parkplatz führte. Die schmutzig-grauen schweren Regentropfen prasselten gnadenlos auf ihre Schultern, sodass sie die Köpfe einziehen und blitzschnell zu den Autos laufen wollten. Lucia presste ihre Lippen zusammen, da sie wusste, dass dies nicht möglich war. Vor ihnen drängten sich gerade angekommene Passagiere, die ihre Koffer in die Taxis luden. Das Mädchen wechselte einen stummen Blick mit Leo.
„Sind Sie aus Edinburgh?“, fragte der Junge schließlich, als sie den Parkplatz erreichten. „Es scheint, als ob…“
Der Mann ging zu einem weißen Alfa Romeo und öffnete die Fahrertür, um sich hinters Steuer zu setzen.
„Setzt euch nach hinten“, unterbrach er Leo mitten im Satz.
Der Junge nickte schweigend und warf dem Mann einen überraschten Blick zu.
Der Engel, der sie abholte, erwies sich als nicht sehr gesprächig, sondern als jemand, der seine Aufgabe präzise erfüllte. Offenbar waren die Diener des Ageor nicht besonders begabt im Smalltalk oder wollten es einfach nicht, bemerkte Lucia mit einem Hauch Ironie. Sie ließ sich gehorsam auf dem Rücksitz neben Leo nieder, der seine Tasche mit den Sachen zu seinen Füßen abstellte. Mit einem Quietschen fuhr das Auto in Richtung Innenstadt.
Während der kurzen Fahrt hielt Lucia Leos Hand. Egal, wie sehr er versuchte, ruhig zu wirken, das Mädchen spürte die Anspannung, die ihn beherrschte. Im Gegensatz zu dem Jungen war sie bei ihrer ersten Begegnung mit Ageor ruhiger gewesen und hatte sich in manchen Momenten sogar absichtlich gleichgültig gegenüber den Vertretern der höchsten Machtstruktur gezeigt. Auch jetzt machte sie sich nicht allzu viele Gedanken darüber, was der mächtigste Engel der Welt von ihnen wollte.
Ohne Leos Hand loszulassen, schaute sie aus dem Fenster. Die Tropfen hörten auf, auf das Autodach zu trommeln, der Regen ließ nach und Edinburgh wurde von einem weißen Schleier umhüllt. Das Auto fuhr in die Altstadt – ein Viertel mit mittelalterlichen Gassen und gotischen Bauten. Auf dem Gipfel eines erloschenen Vulkans thronte eine majestätische und uneinnehmbare Burg. Vor dem Hintergrund des dunstig-bleichen Nebels wirkten die gezackten Mauern der Festung fast mystisch. Lucia hielt für einen Moment den Atem an und konnte den Blick nicht von den behauenen Steinen abwenden, die durch ihre raue, fast wilde Schönheit faszinierten.
Jede Ecke Edinburghs bewahrte ihre eigenen Legenden, die bis in ferne Zeiten zurückreichten. Es schien, als würde aus dem Nebel gleich die Gestalt eines reformistischen Königs auftauchen, das unbeschwerte Lachen einer Hofdame erklingen oder der fröhliche Klang einer Laute ertönen. Eine Stadt wie ein Märchen, eine Stadt wie ein Traum, die in ihrer Geschichte nicht nur magische Momente erlebt hatte.
Das Auto hielt abrupt in einer gepflasterten Gasse, die zum Burgeingang führte. Lucia bemerkte Engel, die auf den Mauern und Türmen standen, zeigte jedoch keine Regung, um zu verdeutlichen, dass sie nicht überrascht war. Im Schloss befand sich Angel und wahrscheinlich auch Kim mit ihrem Tahes. Deshalb also diese Vorsicht. Das bedeutete, dass sie den Blondschopf sehen würde und vielleicht, wenn sie Glück hatte, auch Roberta.
„Hier gehen wir zu Fuß“, wies der Diener auf eine schmale Gasse, die an schlichten Häusern vorbeiführte, als Lucia und Leo aus dem Auto stiegen.
Der Junge warf sich eine Sporttasche über die Schulter und ging zusammen mit dem Mädchen über die nasse, im Licht der alten Laternen glänzende gepflasterte Straße.
Am Haupttor angekommen, sah Lucia das Wappen, das darüber hing: ein roter Löwe in der Mitte und eine Krone darüber.
„Nemo me impune lacessit“, las sie den schottischen königlichen Wahlspruch, der über dem Wappen eingraviert war. Leo nahm ihre Hand. „Niemand wird uns verletzen“, wiederholte Lucia den Wahlspruch und lächelte dem Jungen zu, während sich ihre Blicke trafen.
Auf beiden Seiten des Eingangsbogens standen Statuen. Die steinernen Skulpturen stellten nationale Helden dar, die den Kampf um die Unabhängigkeit angeführt hatten: William Wallace und Robert the Bruce, der im Jahr 1306 als Robert I. König von Schottland wurde.
Indem sie die Kapellen, Museen und das Gebäude passierten, das einst als Gefängnis diente, führte der Mann die Gäste zum Königspalast. Hinter den Mauern der Burg verstummten die Geräusche des späten Abends und nur der kalte Wind durchbrach die ehrfürchtige, feierliche Stille mit seinem Heulen.
„Man hat euch im rechten Flügel untergebracht“, verkündete der Begleiter, als sie vor dem Palast ankamen. Er stieß eine hölzerne Tür auf und trat ein.
Die erleuchteten Korridore mit antiken Möbeln und Gemälden an den Wänden bildeten einen starken Kontrast zur düsteren, nach Feuchtigkeit riechenden Straße. Drinnen entspannte sich Lucia ein wenig. Doch trotz der Wachen an den Wänden ließ sie das Gefühl von etwas Bedrohlichem nicht los – etwas, das jeden Moment geschehen konnte oder vielleicht schon geschehen war. Auf dem ganzen Weg zur Burg hatte sie keinen Laut überhört und jede Kleinigkeit aufmerksam wahrgenommen.
In den Korridoren gingen einige Neuankömmlinge gemächlich hin und her, hauptsächlich Wachen. Die Engel begegneten den Neulingen mit Zurückhaltung, grüßten sie nur mit einem Nicken und schenkten ihnen keine langen Blicke oder freundliche Lächeln. Das hier ist wohl ein Treffen der Besten, dachte Lucia trocken. Schließlich hatte Ageor die Stärksten unter ihnen versammelt.
Irgendetwas ist passiert, hörte Lucia Leos Gedanke in ihrem Kopf. Natürlich, runzelte sie die Stirn und drückte Leos Hand so fest, dass es wehtat. Lass nicht zu, dass sie deine Gedanken lesen, rügte sie Leo innerlich.
Plötzlich tauchte ein Mädchen, etwa fünfzehn Jahre alt, aus einer Ecke auf. Der Begleiter blieb stehen und Lucia und Leo folgten seinem Beispiel. Mit einem gemessenen Gang näherte sich das Mädchen, als hätte es auf sie gewartet. Die langen Säume ihres Wollrocks schwappten im Takt ihrer Schritte. Das Tartanmuster in Rot deutete auf die Zugehörigkeit seiner Trägerin zu einem der bedeutendsten Clans Schottlands hin.
„Ich werde die Gäste übernehmen“, verkündete sie mit einem autoritären Tonfall, der, ebenso wie ihr Verhalten, auf eine hohe Stellung innerhalb der Diener Ageors schließen ließ. Doch Lucia war sicher, dass ihre Autorität über den Mann eher von ihrer Rolle als Wächterin herrührte als von irgendeiner Position in einer juristischen Institution. Denn ihr Begleiter gehörte offensichtlich nicht zu dieser Kategorie von Engeln – Lucia hätte das sofort gespürt. Aber bei dem Mädchen war das anders: Von ihr ging eine Macht aus, die nur von einem Araniten oder einem Racheengel übertroffen werden konnte. Kein Wunder, dass Angel dich ins Team geholt hat. Solche Engel sind Gold wert, dachte Lucia.
„Sie können gehen, Jean“, wandte sich das Mädchen an den Mann. Ihr Blick glitt ohne jegliche Neugier über die Neulinge. „Folgt mir“, sagte sie knapp.
Lucia und Leo folgten der Schottin in den rechten Flügel des Palastes. Sie wagten nicht, mit ihr zu sprechen, da sie ahnten, dass jeder Versuch erfolglos bleiben würde. Die Dienerin Ageors schien ebenso wortkarg wie ihr vorheriger Begleiter zu sein, oder sie ignorierte die Gäste bewusst, da sie sich über gewöhnliche Engel stellte. Obwohl Lucia alles andere als gewöhnlich war, hatte sie keine Lust, dies jetzt zu klären. Lass sie uns führen und uns Zeit zum Ausruhen geben, nach der Reise und der schlaflosen Nacht, dachte sie.
In den letzten Stunden in Mailand hatten Lucia und Leo Leichen aus der Wohnung geschafft, sie in der nächsten Baumgruppe vergraben und versucht, die Wohnung zumindest halbwegs in Ordnung zu bringen. Deshalb war Lucia auch nicht auf lange Gespräche aus, obwohl sie wusste, dass diese vermutlich bald mit Angel, Woldéri oder sogar mit beiden stattfinden würden.
Die Schottin führte sie in einen engen Korridor, an dessen Seiten sich Türen aus rotem Holz reihten. Vor der letzten Tür blieb sie stehen.
„Hier könnt ihr euch niederlassen“, sagte sie und schlug die Tür weit auf. „Man wird bald nach euch schicken.“
Lucia betrat das große, luxuriös eingerichtete Schlafzimmer, gefolgt von Leo.
„Marjorie!“ Eine jammernde Stimme im Korridor ließ das Mädchen innehalten. Ein weiterer Diener erschien in der Türöffnung.
„Sie kann den Schlüssel nicht finden“, jammerte der Junge, der kaum älter war als Lucia, und warf dem Mädchen einen flehentlichen Blick zu.
Marjorie seufzte schwer und schob eine kupferne Haarsträhne aus ihrer Stirn, die in einem dicken Zopf geflochten war.
„Geht es wirklich nicht ohne mich?“ In ihrer Stimme lag ein Anflug von Ungeduld.
„Du weißt doch“, sagte der Junge, dessen dicke Augenbrauen sich nach oben hoben, während seine Lippen sich zu einer dünnen, blassrosa Linie schlossen, „du bist hier die Chefin, Marj.“
Das Mädchen hielt den Jungen auf, der gerade seine Erklärung fortsetzen wollte, indem sie mit dem Kopf auf die Gäste deutete. Der Diener verstummte sofort und blieb stehen. Streitigkeiten in Anwesenheit von Fremden schien Marjorie nicht zu wollen. Sie verabschiedete sich knapp von den Neuankömmlingen und verschwand im Korridor.
„Warum hast du ihr die Verantwortung für die Schlüssel übertragen, Gilbert?“, erklang Marjories verärgerte Stimme aus der Ferne.
Gilbert biss sich auf die Unterlippe, drehte sich auf dem Absatz um und lief dem Mädchen hinterher.
Lucia kicherte.
„Na endlich, etwas Lebendiges in diesem steinernen Mausoleum“, sagte Leo und schloss die Tür des Schlafzimmers mit einem Klicken des Schlosses.
Im Kamin, der sich rechts befand, knackte ein fröhliches Feuer, das eher eine gemütliche Atmosphäre schuf, als tatsächlich Wärme zu spenden. Ein weicher Teppich mit einem schlichten Muster bedeckte den Marmorfußboden vor dem breiten Bett. Ein Samt-Baldachin, der an einer Stange befestigt und mit goldener Kordel an hölzernen Säulen befestigt war, verdeckte das Bett und tauchte die Gäste noch tiefer in die Epoche des Mittelalters. Alles – die Einrichtung des Schlafzimmers, die düstere Burg und der Nebel draußen – wirkte wie Teil einer Theateraufführung über die dunklen Jahrhunderte. Doch alles war echt, bis auf das Letzte: Die Menschheit war längst aus dieser Epoche herausgewachsen, erinnerte sich jedoch immer wieder daran durch die Bücher moderner Autoren.
Lucia zog ihre Jacke aus, warf sie auf einen der Stühle vor dem Kamin und ging zum Bett. Sie ließ sich auf die Decke aus Damast mit Blumenmuster fallen. Das kalte Gewebe löste ein angenehmes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Es lag nicht an der Beschaffenheit des Stoffes – sie hatte auch nichts anderes von einem Land erwartet, das von rauen Winden geprägt war.
„Ich hoffe, diese Nacht wird ruhiger als die letzte“, sagte Lucia unsicher, wobei sie ahnte, dass ihr Wunsch kaum in Erfüllung gehen würde. Man konnte sie jederzeit zu einem Treffen mit Ageor rufen, das wohl bis zum Morgengrauen dauern würde.
Leo stellte seine Tasche neben den Stuhl, auf den Lucia ihre Jacke geworfen hatte, und zog ebenfalls seine Windjacke aus. Dann trat er ans Fenster und blickte in die Ferne, als wolle er die Konturen der nächtlichen Stadt im dichten Nebel erkennen, der wie ein weißes Tuch alles verschlungen hatte.
Lucia beobachtete, wie die Flammen im Kamin Schatten an die Decke warfen. Das wilde Tanzen der dunklen Zungen wurde mal schwächer, mal stärker, und malte wellenförmige Muster auf den Stein.
„Es fühlt sich an, als wären wir am Ende der Welt, Lucia“, sagte Leo mit aufgeregter Stimme. „Früher glaubten die Menschen, dass die Welt hier im Norden zu Ende sei“, fügte er mit einer nostalgischen Note hinzu, als hätten die Zeiger der Uhr zurückgedreht und er das Leben der Menschen von damals aus den Himmeln beobachtet. „Genau hier, in den Highlands, zwischen den feuchten Nebeln und starken Winden, wurde eine Idee geboren“, erinnerte er sich. „Die freiheitsliebenden Hochländer verbreiteten sie über das ganze Land und opferten dafür oft ihr Leben.“
„Unabhängigkeit“, flüsterte Lucia. Aus ihrem Mund klang das Wort fast feierlich. Es symbolisierte nicht nur eine Idee, sondern auch sie selbst. Niemand, keine Regeln oder Muster, würde Lucia dazu bringen, Entscheidungen gegen ihren eigenen Willen zu treffen. Sogar der Schöpfer gab die Freiheit zur Wahl – wer waren dann andere, um sich in ihr Leben einzumischen?
Das Mädchen sprang vom Bett auf und ging zu Leo. Sie umarmte ihn um die Taille und legte ihre Wange an seinen Rücken. Sie spürte seine Anspannung mit jeder Faser ihres Körpers. Lucia strich mit der Hand über seinen Rücken, dann küsste sie ihn sanft in den Nacken und berührte seine samtige Haut mit der Zungenspitze. Die plötzliche Zärtlichkeit, die sie überkam, hatte sie vollkommen in Besitz genommen. Sie wollte, dass niemand sie störte, wenigstens für eine Weile. Und wie auf ein stilles Gebet hin verstummten die Stimmen im Korridor, und das Paar blieb in völliger Stille zurück.
Ob es die Geheimnisse Edinburghs oder Leos Besorgnis über das bevorstehende Treffen mit den Vertretern Ageors war, spielte jetzt keine Rolle mehr. Wichtig waren nur sie beide, ihre verbundenen Herzen, die in diesem gemütlichen Schlafzimmer Schutz fanden.
Lucia zog Leo sein T-Shirt aus und bedeckte seine Schultern und seinen Rücken mit Küssen. Der Junge warf den Kopf zurück und gab einen tiefen, kehligen Laut von sich. Mit jedem Kuss von Lucias Lippen ließ seine Anspannung nach und ein Gefühl der Ruhe breitete sich in ihm aus. Leo drehte sich zu ihr um, neigte sich zu ihr und küsste sie zärtlich auf die Lippen. Lucia ließ ihn nicht aus ihren Armen, als wolle sie ihn vor der inneren Unruhe und den Bedrohungen der Außenwelt schützen. Während sie Leo weiter küsste, drängte sie ihn sanft Richtung Bett. Nackt, von Leidenschaft überwältigt, gaben sie sich einander völlig hin, ohne einen Teil von sich zurückzuhalten und verschmolzen in einer wunderbaren Melodie der Liebe. Lucia lehnte sich auf die weichen Kissen zurück und holte tief Luft, um ihr Herz zu beruhigen, das bereit war, aus ihrer Brust zu springen.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie.
Leo drehte sich zu ihr, stützte sich auf einen Ellbogen und sah sie an.
„Das hast du mir noch nie gesagt“, seine Augen funkelten und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen.
Lucia schmunzelte.
„Dachtest du, ich liebe dich nicht, Kleiner?“
Leo beugte sich zu ihr hinunter und berührte mit seinen Lippen ihre.
„Ich habe es gehofft“, flüsterte er, richtete sich auf und sah sie bewundernd an.
Die Flammen des Kamins spiegelten sich in Leos Augen, wodurch seine Iris einen goldenen Schimmer annahm. Im schwachen Licht des Kamins wirkten seine Haare wie aus Kupfer.
Lucia legte ihre Arme um seine Schultern.
„Jetzt weißt du es genau“, sagte sie und blinzelte schelmisch.
„Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt“, flüsterte Leo. Seine Lippen berührten die Mulde an ihrem Hals. Lucia stöhnte leise. Eine süße Erregung durchlief ihren ganzen Körper bis zu den Fingerspitzen. Sie schloss die Augen und genoss die Nähe zu dem, der ihr so viel bedeutete.
Lucia lag auf den Laken und lauschte Leos gleichmäßigem Atem. Seine Augen waren geschlossen, aber sie wusste, dass er nicht schlief. Sie wollte noch ein wenig in seinen Armen verweilen. Draußen heulte der Nordwind und versuchte, durch die Fensterritzen ins Zimmer zu gelangen. Lucia legte ihren Kopf auf Leos Brust. Der monotone Herzschlag brachte sie in eine magische Traumwelt. Ihre Augenlider wurden schwer und sie ließ sich in einen kurzen Schlaf fallen.
Ein hartnäckiges Klopfen an der Tür störte ihre Ruhe. Lucia setzte sich sofort im Bett auf und zog die Bettdecke um sich. Das war’s dann mit der Erholung, dachte sie bedauernd. Leo sprang aus dem Bett, wickelte sich ein Laken um die Hüften und eilte zur Tür. Mit einem Klicken öffnete er sie.
Am Eingang stand Gilbert. Der Diener lächelte entschuldigend, offensichtlich bewusst, dass er den falschen Moment erwischt hatte. Er schob einen Wagen ins Zimmer, auf dem ein großes silbernes Tablett unter einer passenden Abdeckung, zwei Gedecke und eine Karaffe Wasser standen.
„Angel erwartet euch in einer Stunde im Großen Saal“, informierte er sie und wirkte dabei zunehmend verlegen.
Als er Lucia auf dem Bett sitzen sah, in ein Laken gehüllt, wurde er noch unsicherer. Er senkte den Blick, und seine Wangen röteten sich.
Leo schmunzelte, während Lucia den ungeschickten Diener, der sich schon beim Vorfall mit den Schlüsseln als wenig kompetent herausgestellt hatte, mit einem unzufriedenen Blick musterte. Man platzt nicht einfach so herein, dachte sie schnippisch.
Leo schaute in den Korridor hinaus.
„Gilbert?“, rief er den Diener zurück, der sich beeilte, Lucias Blicken zu entkommen.
„Ja?“, antwortete Gilbert und drehte sich in der Tür um.
„Danke, Gilbert“, Leo streckte ihm die Hand entgegen. „Ich heiße Leo“, stellte er sich vor. „Und diese unzufriedene, aber nicht weniger schöne junge Dame ist Lucia“, fügte er mit einem kurzen Blick auf die Brünette hinzu.
„Freut mich, euch kennenzulernen“, sagte Gilbert, kam zurück und schüttelte Leos Hand. Lucia grüßte er nur mit einem Nicken, bevor er sie erneut an die bevorstehende Versammlung erinnerte und sich verabschiedete, um ein dringendes Anliegen zu erledigen, bevor Angel im Saal eintraf.
Im Gegensatz zu Marjorie besaß Gilbert keine große Machtposition und bekleidete keinen wichtigen Posten unter den Dienern. Er gehörte zu den Aufsehern und könnte, wie Lucias Bekannter Costanzo, in einem Rehabilitationszentrum helfen. Es schien jedoch, dass sein Aranit ihn sehr schätzte. Vielleicht war Yasu sein Mentor?
Leo schloss die Tür und rollte den Wagen zum Tisch. Er trat zum Lichtschalter, und die große Deckenleuchte erstrahlte mit zwei Dutzend Lampen, die den geräumigen Raum erhellten. Dann kehrte er zum Tisch zurück.
„Zeit, uns zu stärken, meine Liebe“, sagte er und hob die Abdeckung vom Tablett. „Was haben wir denn hier?“
Auf dem silbernen Tablett dampften Lamm-Innereien mit Zwiebeln und Fett, daneben lagen Kartoffel- und Steckrübenpüree.
Lucia streckte sich und gähnte, während sie ihren Mund mit der Hand bedeckte. Sie sprang aus dem Bett, zog die Bettdecke enger um ihre Brust und ging zum Stuhl.
„Haggis“, sagte Lucia und nannte den Namen des Gerichts. Ihr Magen knurrte, sobald ihr Blick auf das Essen fiel. „Aber wo ist das Ale?“, fragte sie enttäuscht und blickte auf die Karaffe mit Wasser. „Oder der berühmte Whisky? Wenn schon das Essen national ist, dann sollte auch das Getränk dazu passen.“
Leo zuckte mit den Schultern.
„Anscheinend mag der Chef keine fröhliche Gesellschaft“, witzelte er.
Was mag er überhaupt? dachte Lucia und schnaufte.
„Na gut“, sagte sie und winkte ab. „Dann eben ohne Whisky.“ Sie ließ sich in den Sessel fallen, nahm einen Teller und schöpfte sich eine kleine Portion. „Aber morgen“, hob Lucia die Hand mit der Gabel in die Luft, „gehen wir unbedingt in eine Bar.“
Leo lachte, trat zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Anscheinend bleibt mir nichts anderes übrig, als ein betrunkenes Mädchen nach Hause zu bringen. Und nicht irgendeins – einen Racheengel obendrein.“
– Fortsetzung folgt –
Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj, sie ist Mitglied im Journalistenverband der Ukraine. Svitlana Glumm verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.