
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 10.2
Kaum hatte Alicia einen Schritt getan, da wandte sich Mrs. Brown an Lucia, zog den obersten Becher vom Stapel und reichte ihn dem Mädchen. Ohne ein Wort zu verlieren, füllte die Brünette den Becher mit Punsch und gab ihn der Frau zurück.
„Ich gehe mal unseren Psychologen begrüßen“, verkündete Penelope, ihre Freude nicht verbergend. „Bei all dem Trubel…“ – sie strich mit der linken Hand eine Falte aus ihrem Kleid glatt und ging gemächlich zur entfernten Wand.
Während sie beobachtete, wie die Frau sich dem Heiler näherte, schnaubte Lucia genervt. Die Gedanken von Mrs. Brown musste man gar nicht lesen, um zu verstehen, woran sie dachte. Schon ihre Gangart sprach Bände. Wenn Penelope ihre Schritte für das anmutige Gleiten eines Schwans auf den Wellen hielt, erinnerte es andere vielmehr an eine Ente, die watschelnd von einem Bein aufs andere fiel. Und so dachte sicherlich nicht nur Lucia.
Elijahs Augen weiteten sich und ein gönnerhaftes Lächeln huschte über seine Lippen, sobald Penelope den Wunsch äußerte, zu ihm zu kommen. Doch sein Gesicht wurde ernst, und wenig begeistert verfolgte er, wie Mrs. Brown mit ungeschicktem Hüftschwung auf ihn zusteuerte.
Leo zog sich sofort zurück, ließ den Heiler mit der Frau allein und ging selbst zum Eingang. Als er an den Lehrkräften vorbeikam, lobte er Mrs. Lindsay und Mr. Peterson, die großartig die Rollen zweier widersprüchlicher und doch im Wesen gleicher Charaktere spielten. Dann überschüttete er Mrs. Gable mit Komplimenten und küsste zum Scherz Violettas Handfläche, während er dem danebenstehenden Jeffrey drohend zuraunte, er werde mit ihm abrechnen, falls der Wolf Rotkäppchen zu nahetreten sollte.
„Was ist hier los?“, fragte Leo Alicia, die mit dem Finger über das Display des Tablets strich.
Die Kinder im Flur lärmten, empört darüber, dass man sie nicht in den Saal ließ.
„Einer nach dem anderen“, ordnete der Junge an. „Na gut, von mir aus zu zweit“, lenkte er ein, als er die Proteste derer hörte, die Kostüme aus demselben Film gewählt hatten. „Bitte sehr“, Leo trat zur Seite und ließ die Kinder eintreten.
Als Erster stürmte Denis in den halbdunklen Raum. In einer Lederweste über einem langärmligen Hemd, mit Kopftuch und Säbel am Gürtel sah er aus wie ein Pirat.
„Jack Sparrow!“, rief der Junge und rannte zum Tisch. „Na, schau, was für ein Pirat!“ prahlte er mit seinem Kostüm und fuchtelte mit dem Säbel in der Luft herum.
Lucia lachte.
„Also, Jack Sparrow, ich weiß nicht, wen du mit deinem Plastik erschrecken willst, aber pass auf, dass du den Teller mit den Muffins nicht erwischst – sonst musst du sie alle selbst essen.“
Denis steckte die Waffe zurück in den Gürtel und runzelte die Stirn. Lucia wusste, dass auf seine Unzufriedenheit gleich eine Beschwerde folgen würde, aber sie ließ ihn ausreden. Doch bevor er seinem Ärger Luft machte, schaute Denis sich um. Als er Leo und Elijah bemerkte, seufzte er erneut schwer und wandte sich an Lucia.
„Und warum seid ihr ohne Kostüme?“ Die Brauen des Jungen zogen sich zusammen, die Arme verschränkten sich. „Du weißt doch, heute ist ein Fest, und alle…“
„Ich bin bei der Arbeit“, unterbrach Lucia seinen Protest.
„Die auch“, der Junge deutete in Richtung der Lehrkräfte. Wieder entrang sich ihm ein schwerer Seufzer. „Danke, ich will jetzt nichts“, lehnte er Punsch und Süßigkeiten ab, enttäuscht darüber, dass Lucia sich geweigert hatte, ein Kostüm zu tragen und ging zur Bühne. „Als Engel hättet ihr euch wenigstens verkleiden können“, murmelte Denis, ohne sich umzudrehen.
Lucia prustete los vor Lachen und warf Leo und Elijah einen Blick zu, die trotz der dröhnenden Discomusik die Worte des Jungen deutlich gehört hatten. Leo lachte, und auf den Lippen des Psychologen huschte für einen Augenblick ein Lächeln, doch sofort nahm er wieder einen ernsten Ausdruck an, um Penelope zu zeigen, dass er ihr mit größter Aufmerksamkeit zuhörte.
Verstehe, Chef, dachte Lucia mitleidig, die Lippen zusammenpressend. Du würdest dich lieber mit Leo abwechseln und zusammen mit Alicia die Kinder in den Saal lassen, anstatt jedes Wort der Direktorin mit ergebenem Nicken zu quittieren. Im Gegensatz zu Penelope haben sogar die Bengel längst durchschaut, wessen kaltes Herz du eigentlich wärmen möchtest.
Leos Vorschlag zeigte Wirkung und der bisher leere Saal füllte sich nach und nach mit lautstarken Kindern. Lucia erblickte Gretta im Schneewittchenkleid, begleitet von ihren sieben Zwerg-Klassenkameraden; Jim, der als Harry Potter mit Zauberstab herumfuchtelte; Ted im Spiderman-Kostüm; Phoebe, die als Lagertha und von ihrem Sieg überzeugt auftrat, mit Haaren, die in viele kleine Zöpfe geflochten waren; und den finsteren Norris als Terminator. Die Helden verschiedener Filme verstreuten sich im Raum, redeten laut durcheinander und traten an die Lehrkräfte heran, in der Erwartung, für ihre Kostüme gelobt zu werden.
Einige Kinder kamen zu zweit herein, um allen zu zeigen, dass sie nicht nur Figuren aus demselben Film gewählt, sondern sich gleich als Paar des Abends präsentiert hatten. Meist handelte es sich dabei um Teenager, von denen ohnehin bekannt war, dass sie entweder zusammen waren oder zumindest Sympathien füreinander hegten. Eine Ausnahme bildeten Felix und Chris: Die beiden Freunde erschienen als Legolas und Gimli aus der berühmten Fantasy-Trilogie.
Roy und Lilibet hatten ihre Rollen ebenfalls sehr gut gewählt. Der Blondschopf betrat als Erster den Saal. In einem weiten, weißen Leinenhemd, mit Gürtel an der Taille und hautfarbenen Hosen verkörperte er seine Figur perfekt. In den Händen hielt er einen Griff – und im selben Moment erschien daraus die holografische Verlängerung eines grünen Lichtschwerts.
„Ich möchte euch meine Schwester Leia vorstellen“, sagte Luke – alias Roy – und Lilibet trat in den Saal.
Das Mädchen trug ein langes, weißes Kleid. Zwei Dutts am Kopf machten das Bild noch authentischer. Sie nahm die Hand ihres „Bruders“, und gemeinsam gingen sie zu Violetta. Die Frau lobte die Kinder für ihre gelungene Kostümwahl und schloss Lilibet in die Arme.
Schon betraten Bonnie – alias Cash – und Clyde – alias Kitsch – in typischer 30er-Jahre-Kleidung den Saal, gefolgt von Cleopatra-Dina mit goldenen Fäden im Haar und Caesar-Will in einer Tunika, James Bond-Trevor und seine Partnerin Patsy im Abendkleid. Auf die Figuren aus der Vergangenheit folgten Helden späterer Filme: Katniss Everdeen-Campbell mit Köcher und Pfeilen sowie Bogen in der Hand und Peeta Mellark-Ian, ganz in Schwarz gekleidet Neo-Brian und Trinity-Margo. Den Abschluss bildeten der edle Jon Snow-Justin mit einem künstlichen Fell über den Schultern und die furchtlose Daenerys-Sarah, umringt von drei Achtklässlern in Drachenkostümen.
Gegen Ende des Abends gingen Süßigkeiten und Punsch zur Neige, und Mrs. Brown verkündete, dass sie in wenigen Minuten den Sieger des Festes bekanntgeben werde. Würdevoll, wie es einer Schneekönigin gebührt, betrat sie die Bühne, begleitet von den Lehrkräften, und forderte die Kinder zur Ruhe auf. Elijah schaltete die Musik aus, und alle erstarrten in gespannter Erwartung.
Es war ihm gelungen, sich von der aufdringlichen Penelope loszumachen und schließlich Alicias Einladung zu einem langsamen Tanz anzunehmen. So blieb es nun Mr. Hindley überlassen, der krächzenden Stimme der Direktorin zu lauschen, während Violetta ihm entwischt war. Die Ärztin hatte sich bereit erklärt, Lucia zu helfen, als die Kinder nach ausgelassenem Tanzen wieder zu Tisch strömten, um sich Getränke und Süßes zu holen.
Penelope nahm das Mikrofon in die Hand. Um den Moment noch feierlicher wirken zu lassen, klopfte sie mit dem Finger dagegen. Die Kinder verzogen das Gesicht, als der schrille Ton ertönte.
„Meine Lieben“, begann Mrs. Brown und sah über die Schulter auf die hinter ihr stehenden Lehrkräfte. „Da ich heute die Königin bin“ – sie richtete diese Worte an die Lehrer – „werde ich, mit eurer Erlaubnis, den Namen des Siegers verkünden.“
Lucias Mundwinkel zuckten und hoben sich leicht nach oben.
Auf ihre Erlaubnis gibst du nichts, Penelope, dachte Lucia. Sobald das erste Kind den Saal betreten hat, stand für dich längst fest, wer der Gewinner wird und den heiß ersehnten Preis erhält.
Der Preis war ein Ausflug ins Kunstmuseum. Früher hätten die Kinder über diesen Vorschlag nur gelacht und gesagt, die Direktorin solle lieber selbst hinfahren. Doch unter den Bedingungen der teilweisen Isolation freuten sich die nach Freiheit dürstenden Schüler über jede Gelegenheit, aus dem Alltag auszubrechen – selbst in Begleitung einer Lehrkraft.
Penelope zog ein Ticket aus einer verborgenen Tasche ihres Kleides und schwenkte es über ihrem Kopf. Der weiße Zettel mit den aufgedruckten Buchstaben löste einen Sturm der Emotionen aus und eine Welle von mehr als fünfzig Stimmen rollte durch den Saal. Eine Gruppe Zehntklässler begann zu johlen. Mrs. Brown klopfte erneut mit dem Finger auf das Mikrofon, und sofort kehrte Stille zurück.
„Ich verstehe eure Freude, meine Lieben, denn der gemeinsame Museumsbesuch ist für die Winterferien geplant“, fuhr die Frau gedehnt fort, ihre Worte extra in die Länge ziehend, um das qualvolle Warten der Schüler noch zu verlängern.
Gut, dass hier drei Engel anwesend sind, die mit der aufgebrachten Menge fertigwerden, sobald der Name des Gewinners fällt, bemerkte Lucia insgeheim.
Sie begegnete Elijahs Blick. Der Psychologe verhielt sich wie gewohnt zurückhaltend und verbarg seine Gefühle hinter einer Maske der Ruhe. Für das Mädchen war es gleichgültig, wer heute der glückliche Besitzer des „Freiheitstickets“ werden würde, doch sie musste jede mögliche Reaktion der Kinder einkalkulieren, falls sie die Entscheidung der Direktorin als ungerecht empfanden.
Lucia ließ den Blick durch den Raum schweifen: zu Adam in seinem lächerlichen Olaf-Kostüm, der in der Ecke stand und auf seine Elsa wartete; zu den Oberstufenschülern, die sich paarweise zusammengefunden hatten; zu Gretta, deren Wangen vom Tanzen gerötet waren; zu Will und Norris, die im letzten Monat angekommen waren; zu Lilibet, die den Kindern das Schwert ihres „älteren Bruders“ vorführte; zu Patsy, die Ians Arm im Baumrindenstil bemalt hatte, während sich dessen Held vor Verfolgern versteckte. Jeder von ihnen hatte es verdient, als Sieger bezeichnet zu werden. Und im Grunde waren sie es auch, indem sie in solch gelungenen Kostümen zur Feier erschienen waren.
„Also, das Ticket für den Museumsbesuch geht an…“ – die Frau machte eine Pause und lächelte. „Der Gewinner ist Adam Wulf!“, rief sie den Namen dessen aus, der wohl am wenigsten damit gerechnet hatte, den Preis zu bekommen.
Der Junge im halb dahingeschmolzenen Olaf-Kostüm stieß einen überraschten Schrei aus, während seine Klassenkameraden zu ihm liefen und ihn beglückwünschten.
Ein empörter Aufruhr ging durch den Saal. Die Achtklässler ballten die Fäuste, streckten die Daumen nach unten und stimmten ein langgezogenes „Uuuuh“ an.
„Das ist unfair, Mrs. Brown!“, rief Kitschs laute Stimme und ließ die Frau zusammenzucken. „Ich habe tagelang an meinem Kostüm gearbeitet, und dieser Kleine“ – der Brünette deutete mit dem Finger auf Adam – „wirft sich ein Laken über und gewinnt.“
„Ja! Ja!“, riefen Brian und Felix zustimmend.
„Ihr wisst, wie lange ich Javier überreden musste, damit er mir das besorgt!“ Justin zeigte auf das Fell über seinen Schultern.
Die Mädchen verhielten sich zurückhaltender. Ihr Missfallen äußerte sich in Getuschel und schrägen Blicken.
Die Schüler der Mittelstufe hingegen zuckten nur mit den Schultern und verzogen sich enttäuscht in die Ecken.
„Ein Gespenst hat gewonnen!“ schnaubte Gimli-Chris verärgert.
„Kein Gespenst, sondern Olaf!“, korrigierte Penelope den Schüler. „Nur, er…“
„Sie werden den Preis nie denen geben, die Sie nicht leiden können, Mrs. Brown!“, rief Kitsch die Wahrheit für alle heraus und entlarvte die Bevorzugung durch die Frau. „Aber er ist ja nicht einmal ein Lieblingsschüler“, fügte der Spanier hinzu und warf Justin einen zornigen Blick zu.
Der Blonde zog die Brauen zusammen und sein schmales Gesicht verhärtete sich. Jeder im Lager wusste über die Kinder Bescheid, die von der Direktorin bevorzugt wurden – unabhängig von Alter oder Geschlecht. Und Justin gehörte zu dieser kleinen Gruppe.
„Ach so, der Kleine also“, der Brünette riss sich den Hut vom Kopf und schleuderte ihn wütend auf den Boden. „Ich hau ab von diesem Kindergarten-Auftritt!“
Im Saal setzte die Musik ein und die Stimmen der Kinder wurden von der rhythmischen Melodie übertönt. Die Schüler begannen sich zu bewegen und verteilten sich im ganzen Raum. Nur Brian und Justin blieben stehen – der eine, weil er sich über die Ungerechtigkeit der Entscheidung aufregte, der andere, weil er die Worte von Kitsch über seine Bevorzugung im Lager abstreiten wollte.
Da ergriffen Sara und Margo die Hände ihrer Jungs und zogen sie in den Tanz. Zunächst wehrten sich die beiden, entschlossen, den Saal zu verlassen, doch die Mädchen schafften es schließlich, sie umzustimmen – mit dem Versprechen, nach diesem Lied gemeinsam zu gehen.
Mit ausladendem Schritt steuerte Kitsch auf den Ausgang zu, ohne auf Cashs Rufe zu achten. Das Mädchen hob den Hut des Jungen vom Boden auf und eilte ihm nach.
Leo, der in der Tür stand, versuchte, den aufgebrachten Brünetten zum Bleiben zu überreden. Doch der Spanier funkelte ihn wütend an, als der Junge sein Handgelenk berührte.
„Fass mich nicht an!“ zischte Kitsch.
Leo wich sofort zurück und breitete beschwichtigend die Arme aus, um zu zeigen, dass er den Jungen nicht mit Gewalt aufhalten wollte.
Wenn er das getan hätte, würdest du jetzt mit blutiger Fresse am Boden liegen, Kitsch, schnaubte Lucia in Gedanken.
„Beruhig dich, Mann“, sagte Leo dem davonstürmenden Brünette nach.
Cash verlangsamte ihre Schritte, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Assistenten des Psychologen war.
„Ich rede mit ihm“, versprach die Oberstufenschülerin.
Das Klacken ihrer Absätze auf den Fliesen verklang mit der zunehmenden Entfernung vom Saal und verstummte schließlich ganz, überdeckt von den Stimmen der Kinder und der lauten Musik.
In Begleitung von Jeffrey stieg Penelope von der Bühne. Sie ging zu Adam, sagte ein paar Worte und überreichte dem glücklichen Kind das Ticket. Dann deutete sie den Lehrkräften mit einer Geste, sich am Tisch zu versammeln.
„Um zehn sollen die Kinder in ihre Zimmer gehen“, wandte sie sich an die Kollegen. „Und ich erwarte euch in meinem Büro.“ Mrs. Brown nahm die Kelle in die Hand und warf einen Blick in die leere Schale, die noch vor Kurzem mit alkoholfreiem Punsch gefüllt gewesen war. „Wir beenden das Fest mit etwas Stärkerem als diesem hier“, flüsterte sie und zwinkerte verschwörerisch. Dann legte sie die Kelle zurück in die Schale und verließ zusammen mit eben jenem Jeffrey den Saal.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.