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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 10.3)

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Einige Schüler haben das Camp auf eigene Faust verlassen. Lucia macht sich auf die Suche.
Einige Schüler haben das Camp auf eigene Faust verlassen. Lucia macht sich auf die Suche. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

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Kapitel 10.3

Lucia lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen und blieb im Eingang stehen. Das Zimmer war von einem hellgelben Licht erleuchtet, das von einem kleinen Kronleuchter ausging, der dicht unter der Decke hing. Die Anwesenden im Raum besprachen ihr weiteres Vorgehen.

Das Mädchen drehte sich um und begegnete Leos Blick. Der Atem des Jungen war leise an ihrem Ohr zu spüren – nicht, weil er die Kontrolle verlor, sondern weil er dicht an der verschlossenen Tür stand. Die Engel verstanden, dass jede Sekunde des Zögerns teuer war. Doch sie mussten die Rolle einfacher psychologischer Helfer spielen und auf Anweisungen von oben warten. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ärgerte Lucia, aber sie wusste, dass die größte Gefahr für die Kinder ein Luchs sein konnte. Und auch nur dann, wenn das Tier sehr hungrig war.

Mit großen Schritten durchmaß Mrs. Brown das Zimmer, das als Schlafzimmer des einzigen Lehrers diente, der im Lager wohnte.
„Aber vielleicht hat sie die Polizei erwischt?“ – äußerte die Frau ihre Befürchtung. – „Oder ein Wahnsinniger verfolgt ihre Spur? Solche gibt es doch viele in der Stadt, oder?“ – Penelopes verstörter Blick blieb auf Elijahs Gesicht hängen.

„Das glaube ich nicht, Mrs. Brown“, schüttelte der Psychologe den Kopf. „Aber eines darf man ganz sicher nicht tun – die Polizei rufen. Sie wissen ja …“

Die kleinen Augen von Mrs. Brown wurden rund und sie legte die Hand auf ihre Brust.
„Und wenn …“ – sie holte tief Luft, – „wenn sie wiedergekommen sind?“ – Schreckliche Worte entrangen sich Penelopes Lippen. – „Vielleicht haben sie erfahren, dass die Kinder im Lager wohnen? Was meinst du, Gail? Du warst doch im Gegensatz zu uns allen dort.“

Mrs. Brown blieb vor dem Bett stehen, auf dem Mr. Peterson saß. Mit zitternden Fingern fuhr der Mann durch sein graues Haar und strich die Strähnen glatt, die sich im Schlaf aufgestellt hatten. Dann schob er sich die Brille auf die Nase.
„Das ist nur ein kindischer Streich, Mrs. Brown“, sagte die brüchige Stimme des Alten, als er weitersprach. „Ich hätte die Straße zur Hölle gespürt, das können Sie mir glauben.“

Die Kälte, die Gail bei der Erinnerung an den überstandenen Albtraum den Rücken hinablief, breitete sich im Zimmer aus und löste in Lucias Herz ein brennendes Verlangen nach Zerstörung aus. Dasselbe konnten auch die anderen Engel spüren. Und wenn sich das Gesicht des Heilers nicht veränderte, so deutete doch das leichte Schwanken der Luft hinter dem Mädchen auf Leos Drang zum Handeln hin.

Penelope schlug mit den Handflächen auf ihre Oberschenkel.
„Ein Streich, Mr. Peterson!“ – rief sie mit verärgerter Stimme. – „So ein Halloween! War ihnen das Fest heute nicht genug?“ – Die Frau legte die Finger an ihre Schläfen und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. – „Die Kinder bringen mich noch um den Verstand“, flüsterte Penelope. Dann drehte sie sich halb zur Seite, lehnte sich an die Stuhllehne und rieb sich mit der linken Hand den Kopf.

Lucia verfolgte mit den Augen, wie der Geschichtslehrer die alten Armbanduhren nahm und sie sich ums Handgelenk legte. Die Anhänglichkeit der Menschen an Schmuck und Krimskrams hörte nicht auf, sie zu erstaunen. Selbst wenn ein paar Worte hineingraviert waren – wichtiger war es doch, die Erinnerung an einen Menschen im Herzen zu bewahren. Als sie einmal Gails Gedanken gelesen hatte, erfuhr sie, dass der Mann seinen Vater, dessen Geschenk er nun seit mehr als fünfundvierzig Jahren trug, nicht vergessen hatte.

„Sie sind erst vor Kurzem aufgebrochen, es dürfte also nicht schwer sein, sie zu finden“, sagte Elijah und warf Lucia einen flüchtigen Blick zu.

Präzisier doch bitte für wen, Chef, spöttelte das Mädchen in Gedanken. Penelope würde kaum in einer Stunde den Wald durchkämmen.

„Mr. Hindley hat mich angerufen. Er ist fast da, und wir werden gemeinsam nach den Kindern suchen“, fuhr der Psychologe fort.

„Besser, wir teilen uns auf“, mischte sich Lucia ein. „Leo und ich können den Wald von Westen aus absuchen, während du und Jeffrey vom Haupteingang starten.“

Der Psychologe nickte zustimmend.

Auf Lucias Gesicht legte sich ein zufriedenes Lächeln. Elijah würde ihr in Sachen Verfolgung nicht widersprechen. Sie wusste besser als er, wie man dabei vorzugehen hatte.

„Ich habe Violetta angerufen, damit sie herkommt“, erklang Leos Stimme hinter Lucia. „Man weiß nie, worauf sie stoßen könnten.“

Auf meine Faust stoßen sie bestimmt, schnaubte das Mädchen innerlich.

Mrs. Brown keuchte erschrocken auf. Gail hob den Kopf und Elijah zog die Brauen zusammen.

„Vergesst es“, winkte Leo ab, als er merkte, dass er zu viel gesagt hatte. Die Menschen waren ohnehin schon überreizt.

„Violetta ist eine gute Idee“, beeilte sich Lucia, das Gespräch wieder in eine positive Richtung zu lenken – soweit das überhaupt möglich war, wenn man bedachte, dass sieben Jugendliche nachts allein durch den Wald streiften. „Ganz ohne Kratzer und blaue Flecken werden sie wohl nicht davonkommen.“

„Dann brecht auf“, wandte sich der Heiler an die beiden Wächter, bei denen das Aufspüren, wie die Menschen zu sagen pflegten, im Blut lag.

Die Tür eines Zimmers am anderen Ende des Flurs flog weit auf. Das dumpfe Echo des Türgriffs, der gegen die Wand schlug, hallte bis in Mr. Petersons Schlafzimmer. Mit hastigen Schritten näherte sich Ian dem Raum, in dem die Erwachsenen versammelt waren.

Lucia verspannte sich, als sie die Gedanken des Brünetten las. Ein schwerer Seufzer entrang sich Elijahs Brust.

Die Jugendlichen hatten für Probleme gesorgt. Wer hat ihnen bloß eingeredet, Helden spielen zu müssen?, knurrte sie innerlich.

Das Mädchen blieb mit unbewegter Miene an ihrem Platz stehen und gab Penelope damit Zeit, ihr wild gegen die Rippen hämmerndes Herz zu beruhigen.
Was uns jetzt noch fehlt, ist ein Herzinfarkt, dachte sie.

Leo sprang von der Tür auf die gegenüberliegende Seite von Lucia – nur eine Sekunde, bevor Ian ins Schlafzimmer stürmte und ruckartig an der Klinke zog.

Der Junge streifte Lucia mit seiner knochigen Schulter.
„Verzeih“, murmelte er, als er sich kurz umsah.

Eine widerspenstige Haarsträhne fiel ihm auf die Stirn und verdeckte sein linkes Auge. Doch das schien ihn kaum zu kümmern; er strich sie nicht beiseite und machte ein paar Schritte, die ihn unaufhaltsam zum Direktor führten.

Penelope richtete sich auf dem Stuhl auf und starrte den Jugendlichen unverhohlen überrascht an.

Ian blieb abrupt stehen, rieb sich mit dem Zeigefinger über das Kinn und rang sich schließlich dazu durch, Worte auszusprechen – Worte, die die ohnehin schon nervöse Frau in einen Strudel fieberhafter Aufregung stürzen würden.

„Mrs. Brown, ich bin vor zehn Minuten aufgewacht und weder Trevor noch Roy waren im Schlafzimmer“, sagte Ian. „Zuerst dachte ich, die Jungs wären zur Toilette gegangen, aber dort sind sie auch nicht.“

Penelope sackte auf dem Stuhl zusammen, ihre Schultern sanken herab, das Herz setzte einen Schlag aus, und ihr Gesicht wurde kreidebleich.
„Vielleicht sind sie in der Turnhalle?“ – brachte die Frau fast schluchzend hervor.

Mr. Peterson stand vom Bett auf, trat an den Stuhl heran und legte die Hände auf die Schultern der Direktorin.

„Nein“, schüttelte Ian den Kopf und ein paar weitere Locken lösten sich aus seiner Haarmasse und fielen ihm auf die Stirn. Diesmal strich er sie zurück und auf seinem schmalen Gesicht erschien ein gequältes Lächeln. „Vielleicht geht es ihnen gut und …“

„Sie sind losgezogen, um die anderen zu suchen“, unterbrach Lucia den Jugendlichen und löste sich vom Türrahmen. „Nicht wahr, Ian?“

Zeit zu handeln, nicht zu schwätzen, dachte sie. Das Mädchen war bereit, sich umzudrehen, das Lager zu verlassen und zwischen den Stämmen der Mammutbäume zu verschwinden, um die Dummköpfe zu finden.

Der Brünette wandte sich um und biss sich auf die Unterlippe.
„Verstanden“, nickte Lucia.
Ich weiß doch alles, Freundchen, spöttelte sie innerlich. Du hast nur so getan, als hättest du geschlafen und wusstest seit dem Abend, was Kitch und Brian vorhatten. Aber wieso sind die Mädchen mitgegangen? Hat sie etwa auch die Niederlage beim Kostümwettbewerb so gekränkt?

„Also ist eine Aufteilung genau das Richtige“, fuhr das Mädchen fort und tauschte einen Blick mit Elijah.

„Das heißt, es sind jetzt neun“, sagte Leo. „Kitch, Brian, Justin, Cash, Margot, Dina, Campbell …“

Beim Namen des englischen Mädchens zuckte Ian zusammen.
Aha, das wusstest du also nicht, Junge, dachte Lucia.

Die Hände des Brünetten wanderten in die Taschen seiner Jogginghose, auf der Suche nach Zigaretten. Doch sie waren leer, und der Junge seufzte niedergeschlagen. Zigaretten kaufen war nur den Jugendlichen erlaubt. Meistens rauchte Ian – und ein paar Schüler, die einige Jahre jünger waren als er. Natürlich war die Menge streng kontrolliert. Zwei Schachteln pro Monat reichten aus, damit Ian nicht in Versuchung kam, im Sanitätsraum nach Antidepressiva oder Tranquilizern zu fragen – zum Beispiel nach jenem Tofisopam.

Selbst Elijah hatte nichts dagegen. Er war überzeugt, dass ein striktes Verbot nach Ians Missbrauch von Methamphetamin – dem letzten Glied in der Kette seiner Exzesse – nur zu stärkerer Aggressivität oder paranoiden Symptomen geführt hätte. Man musste schrittweise vorgehen, indem man ihm anstelle des Rausches einen Lebenssinn vermittelte. Und das konnte durch den Austausch mit Gleichaltrigen, durch ein Hobby, Sport oder sogar durch Glauben geschehen. Der Psychologe wusste, dass das Rauchen nur ein vorübergehender Schutz vor äußeren Reizen war, die jeder und alles sein konnten, und dass Ian bald in der Lage wäre, vollständig in das normale Leben eines Schülers einzutauchen – ohne lange Depressionen oder qualvolle Entzüge.

Und die Taktik des Heilers zeigte Wirkung. Gegen Winter begann Ian sich zu öffnen, enger mit den Jungs in seinem Zimmer zu sprechen, hörte auf, in den Menschen nur Feinde zu sehen, wurde ruhiger, und seine völlige Gleichgültigkeit – die nur eine Schutzreaktion gewesen war – wandelte sich in ein Interesse am Leben anderer.

Naja, zumindest manchmal, korrigierte sich Lucia, und vor allem an einer bestimmten Person.

Dass die Taschen seiner Hose leer waren, zeigte außerdem, dass der Junge aufgehört hatte, vor dem Schlafengehen zu rauchen – ein gutes Zeichen.

„Trevor und Roy“, schloss Leo die Liste der Jugendlichen, die das Lager ohne Erlaubnis der Erwachsenen verlassen hatten. „Hat Mr. Massand sie gesehen?“

„Nein“, antwortete der Psychologe. „Er hat die Hallen kontrolliert, während die Jungs entwischten. Der Wächter hat es mir selbst gesagt.“

„Dann an die Arbeit“, sagte Lucia und trat in den Flur hinaus.

„Ich warte auf Jeffrey, dann brechen wir auf“, rief Elijah ihr nach. Der Psychologe warf einen Blick auf Gail, der noch immer hinter dem Stuhl stand, auf dem Penelope saß. „Miss Grant soll der Direktorin ein Beruhigungsmittel geben.“

Lucia winkte Leo zu, und die beiden stürmten die Treppe hinunter.

Lucia umrundete die hohen Bäume und sprang über Büsche hinweg. In der Nacht erschien ihr der Wald nicht als unheimlicher Ort, wie viele Menschen glaubten. Im Gegenteil: In der Abwesenheit des Lärms, der tagsüber allgegenwärtig war, konnte man die wahren Klänge des Waldes am besten hören. Nur dann ließ sich seine eigentliche Lebendigkeit erahnen.

Die Sprache des Waldes war nicht jedem Menschen verständlich. Nur wenige konnten hören, worüber die uralten Stämme der hohen Bäume sprachen, worüber sie nachts seufzten und trauerten und wonach sich ihre pelzigen Bewohner sehnten. Nur diese wenigen – so wie Lucia jetzt – konnten wahrnehmen, wie das Leben in den Stämmen der alten Zypressen langsamer floss, wie die jungen Mammutbäume im Takt des Nordwinds plauderten, wie die Füchse jagten, leise zwischen den Büschen umherstreifend, und wie die Bären friedlich in ihren Höhlen schnarchten.

Das Rufen einer Eule, die die Menschen bemerkt hatte, wies Lucia nach rechts. Auch ohne die Hilfe des Nachtvogels hatte sie den genauen Standort der Kinder längst ausgemacht – am Klang ihrer in der Brust hämmernden Herzen. In diesem Moment selbst gab die Natur Hinweise und das war wahrlich wundersam. Dort knackte ein Ast unter einem Fuß, hier hielt ein Busch für einen Augenblick jemanden fest, indem er mit einem seiner vielen Zweige an der Jacke zerrte.

Kaum waren Lucia und Leo im Wald angekommen, hatten sie sich getrennt, um die Suchzeit zu verkürzen und alle aufzuspüren. Die beiden Jungs, die den anderen gefolgt waren, hatten sich ihnen wohl kaum wieder angeschlossen. Den Wächtern blieb Zeit bis zum Morgen und das Mädchen zweifelte nicht daran, die Ausreißer noch vor den ersten Sonnenstrahlen zurückzubringen. Andernfalls müsste Elijah Bernhard vom Verschwinden der Kinder berichten und dann würde sich Ageor höchstpersönlich an die Suche machen. Doch Lucia wollte daran gar nicht erst denken – sie war überzeugt, dass sie die Lage allein meistern konnte. Mit ihrer jahrelangen Erfahrung im Aufspüren von Dämonen gab sie sich selbst eine Stunde, um die nächtlichen Spaziergänger ins Lager zurückzuführen.

Nun gut, die Sache ist klar, dachte das Mädchen, als Trevors Gedanken in ihren Kopf drangen. Hoffentlich hat Leo die anderen gefunden, dann können wir bis zum Morgen noch etwas Schlaf bekommen.

Lucia kniff die Augen zusammen, doch sie konnte die Jungen nicht durch die unzähligen Reihen der Bäume hindurch sehen. Sie befanden sich in einer beträchtlichen Entfernung – ein gewöhnlicher Mensch hätte niemals geahnt, dass zwei Schüler im finsteren Wald umherstreiften.

– Fortsetzung folgt –

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Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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