Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 12.1
Lucia sprang auf die Beine und wischte sich das Blut von der aufgeplatzten Lippe. In ihrer rechten Hand umklammerte sie den Griff eines Dolchs. Der zweite Dolch war ihr von dem Dämon aus der Hand geschlagen worden. Die Waffe fiel klirrend hinter die Bühne und verschwand zwischen den Kulissen, die die Kinder für das Frühlingsfest zu Ostern vorbereitet hatten.
Das Ungeheuer lachte auf und verharrte, seine Augen böse funkelnd. Es knackte in den Wirbeln und sein Kopf begann sich um den Hals zu drehen. Von der Seite der Bühne ertönte ein kläglicher Aufschrei.
Zeig dich bloß nicht, bat Lucia stumm. Hörst du, Kitsh, bleib verborgen. Auch wenn du kein Schwächling bist, gegen dieses Biest wirst du nicht genug Kraft haben.
Der Kopf des Dämons drehte sich schneller, das geronnene Blut in den kaffeebraunen Haaren verschmolz mit dem widerwärtigen Grinsen.
Warum greifst du nicht an, Dreckskreatur, dachte das Mädchen, warum machst du hier eine Zirkusvorstellung, vor allem für den unglücklichen verängstigten Jungen?
Ein Gedanke, der in Lucias Kopf drang, ließ sie einen Blick zur Bühne werfen. Nein!, wollte sie in die erstickende Leere schreien, die wie eine bleierne Platte von oben auf die Luft drückte. Sie begriff, was das Ungeheuer plante, und ihre in klebrigem Blut verklumpten Finger umklammerten den Dolchgriff noch fester.
Alles geschah in einer Sekunde. Fremde Gedanken jagten wie ein eisiger Sturm an Lucia vorbei. In der schützenden Wand flackerten sofort Lichter auf. Als die Gedanken den hinter den Kulissen versteckten Menschen erreichten, griffen sie seinen Verstand an. Kitsh stöhnte schmerzvoll auf. Der Damm in seinem Herzen brach und die vor allen verborgene Qual ergoss sich nach außen.
Der Junge hatte sich hinter die Bühne geflüchtet, um dem schrecklichen Wesen zu entgehen, das vom Körper der toten Phoebe Besitz ergriffen hatte – so wie er sich vor vielen Jahren unter das Bett verkrochen und die Ohren mit den Händen zugehalten hatte, um den Schlägen des betrunkenen Vaters und den Schreien der Mutter zu entkommen. Der sechsjährige Junge biss sich die Lippen blutig, damit keine Träne über die pulsierenden Schmerzen der Ohrfeigen und Schläge hinausdrang.
Ein Schleier legte sich über Kitshs Augen. Sein Körper schmerzte, als wäre er gerade übel verprügelt worden. Seine Finger tasteten instinktiv über den Boden. Als sie auf kalten Stahl stießen, griff Kitsh nach dem Dolch und sprang auf. Der Brünette blinzelte, doch die Gestalt im Dunkeln veränderte ständig ihre Form – bald ein kleines Mädchen, bald derjenige, der ihn in der Kindheit erniedrigt hatte.
Die Waffe in der Hand verlieh dem Spanier Mut und er ging auf Lucia zu. Wie damals, als die Mutter mit zitternden Händen und einer Pistole ins Schlafzimmer stürmte, doch der Vater in der Tür ihr die Waffe entriss – diesmal musste Kitsh blitzschnell handeln. Der Junge hielt den Dolch vor sich und richtete ihn auf Lucia.
„Kitsh!“ – schrie das Mädchen, entschlossen, den Jungen mit lauter Stimme aus dem Bann zu reißen. – „Kitsh, wirf den Dolch weg!“
Der Kopf des Dämons wirbelte noch schneller.
Das Gesicht des Jungen verzerrte sich vor Zorn. Er musste die Angst überwinden und den Abzug betätigen. Er durfte den Blick des Vaters nicht treffen, der ihm befahl, die Waffe fallen zu lassen.
Lucia sah Kitsh direkt in die Augen, doch sie erkannte in ihnen keinen Schatten des Jungen, den sie seit über einem Jahr kannte. Vor ihr stand ein völlig Fremder, bereit, zuzuschlagen – nur weil das Böse mit seinen Kindheitswunden spielte.
Das Ungeheuer zu töten wäre nicht schwer, dachte Lucia. Viel schwerer war es, den Jungen daran zu hindern, sich selbst die Kehle durchzuschneiden. Denn sobald sie auch nur die geringste Bewegung gegen ihn machte, würde die boshafte Kreatur mit einem Gedanken die zweite Opferseele vernichten.
Das Geräusch von Schritten im Korridor ließ das Mädchen aufschrecken.
Wen hat es jetzt hierher verschlagen?, schoss es ihr durch den Kopf. Für heute reicht ein Tod.
Der Dämon spürte den Menschen, der sich der Tür des Festsaals näherte und sein Kopf hörte auf, sich zu drehen.
„Kitsh! Wo bist du, Kitsh?“ – Ians Stimme hallte klar und laut durch den Korridor und einen Augenblick später steckte er den Kopf in den Raum. – „Kitsh, bist du hier?“ – Er blinzelte und versuchte, in die Dunkelheit hineinzusehen.
Diese Worte reichten aus, um den vor Schmerz wahnsinnig gewordenen Spanier zur Besinnung zu bringen. Kitsh drehte sich um. Lucia nutzte den Moment, schleuderte ihren Dolch und die scharfe Klinge blitzte in der Finsternis auf, bevor sie sich in die Brust des Dämons bohrte.
Der Körper des Mädchens, das noch vor einer Stunde gelebt hatte, schwankte und stürzte zu Boden. Der Dolch drang bis zum Griff in ihr Herz ein. Schwarzer Rauch, für Menschenaugen unsichtbar, löste sich in der Luft auf und verschwand nach wenigen Sekunden. Die erdrückende Leere war fort, an ihre Stelle trat Ratlosigkeit.
Das Klirren von Stahl ließ Lucia herumfahren.
Kitsh starrte entsetzt auf seine Hände.
„Was war das?“ – krächzte er und sah das Mädchen an, das ihm gegenüberstand. – „Warst das du, Lucia?“
Ian wollte bereits zu seinem Mitschüler stürzen, doch als er den in Blut liegenden Körper von Phoebe bemerkte, erstarrte er.
„Aber wie … Phoebe … ist auf dem Boden … und …“
Er stieß den Dolch mit der Schuhspitze an. Dann bückte er sich, nahm die Waffe auf und drehte sie in den Händen. Das künstliche Licht aus dem Korridor spiegelte sich auf der stählernen Parierstange, deren Ende ein kleiner Löwenkopf zierte.
„Woher …?“
Lucia trat zu ihm und streckte die Hand aus.
„Meiner“, sagte sie.
Auf Ians Lippen huschte ein skeptisches Grinsen. Er warf einen Blick auf die Waffe und schnaubte.
„Kein schlechtes Stück“, meinte Ian. „Damit kann man jeden problemlos aufspießen.“ Sein Blick glitt über Lucias Gesicht und blieb wieder auf dem Löwenkopf aus Stahl haften. „So etwas kaufst du nicht im normalen Laden.“
Das Mädchen schnaubte nur, schwieg jedoch und hielt weiterhin die Hand ausgestreckt.
„Nimm schon“, gab der Junge schließlich nach und die kalte Klinge legte sich in Lucias Handfläche. – „Aber ich glaube kaum, dass du damit umgehen kannst …“
Kitsh schüttelte heftig den Kopf, ganz und gar nicht einverstanden mit Ians Worten.
„Doch, kann sie“, unterbrach ihn seine heisere Stimme und brachte Ians Ironie zum Verstummen. – „Glaub mir, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.“ Der Brünette fixierte Lucia. – „Wirst du uns erklären, was hier passiert ist?“ – fragte der Schüler nun gefasster. – „Und warum die tote Phoebe sich verabschieden wollte?“ Ein schiefes Lächeln zuckte an seinem rechten Mundwinkel.
„Nicht jetzt“, erwiderte das Mädchen lediglich und schob den Dolch in die Hosentasche.
Dann ging sie zu der Leiche, beugte sich hinunter und drehte den Körper um.
„Zuerst müssen wir uns um zwei Dinge kümmern“, sagte Lucia, zog den Dolch aus der Brust der Oberstufenschülerin und legte die Hand auf ihr Gesicht, um ihr die Augen zu schließen. – „Das eine ist der Körper. Wir erweisen der Toten Respekt und begraben sie, wie es sich gehört.“
Mitleid für das unglückliche Mädchen verspürte Lucia nicht. Vielleicht, weil noch vor kurzem ein Dämon in Phoebe gewohnt hatte und es war nun einmal ihre Aufgabe, Ungeheuer zu vernichten. Vielleicht aber auch, weil jetzt keine Zeit zum Trauern war – sie musste sich um die Lebenden kümmern. Im Gegensatz zu ihrer toten Mitschülerin hatten diese unzählige Fragen.
Diesmal wird es kein Entkommen geben, seufzte Lucia, im Bewusstsein, dass dieser Tag gekommen war.
Das Mädchen wischte die blutverschmierte Klinge des Dolchs an ihrer Hose ab, versteckte die Waffe im Futter ihrer Sneakers und ging zum Ausgang des Saals.
„Wir rufen Leo, er wird sich darum kümmern. Und Elijah kommt auch gleich“, sprach Lucia zu den beiden Jungen und winkte ihnen, ihr zu folgen. Vor allem musste sie sie vom Tatort wegbringen. Kein Grund, auf ein totes Mädchen zu starren, dachte sie. – „Niemandem ein Wort über mich, Kitsh, verstanden? Und sag deinen Mitschülern, sie sollen schweigen über das, was sie gesehen haben. Einverstanden?“ – Mit fragendem Blick musterte sie die Schüler. – „Also, kommt ihr jetzt, oder nicht?“
Der herrische Ton der Psychologen-Assistentin riss die Jungen, die paralysiert auf die Leiche blickten, aus ihrer Erstarrung. Sie zuckten zusammen und trotteten schweigend hinter Lucia her. Erst als die Oberstufenschüler den hell erleuchteten Korridor erreichten, durchbrach Ian die Stille.
„Und was ist die zweite Sache?“, erkundigte er sich.
„Den Mörder von Phoebe finden“, antwortete das Mädchen und drehte sich um.
Ian schluckte heftig, im Bewusstsein, dass die Brünette womöglich von ihm sprach.
Als Elijah, Alicia und Violetta das Lager erreichten, hatte Leo bereits den entstellten Körper von Phoebe auf die Bühne gelegt und mit einem Laken bedeckt. Danach sammelte er die Splitter des zerbrochenen Tisches und die Scherben der geplatzten Glühbirnen auf, wischte das Blut vom Boden und stellte die Stühle wieder so hin, wie sie gewöhnlich standen. Er verschloss die Türen von innen, damit keines der Kinder auf die Idee kam, den Saal zu betreten und erneut dem Anblick ausgesetzt zu sein, auf den selbst die Kulissenbauer eines Horrorfilms neidisch gewesen wären. Außerdem hatte der Wächter nicht die Absicht, seine Fähigkeit zu verraten, mit blitzartiger Geschwindigkeit aufzuräumen, bevor die Engel beschlossen, wem und auf welche Weise man ihr Geheimnis anvertrauen sollte.
Nachdem er seine Arbeit erledigt hatte, verließ Leo den Saal mit zwei riesigen, bis zum Rand gefüllten Müllsäcken. Durch den Hinterausgang trat er hinaus in die Nacht und warf die Last, die für einen Menschen unmöglich zu tragen gewesen wäre, in den nächsten städtischen Müllcontainer. Gerade rechtzeitig kehrte er zurück, als Autos in den Hof einfuhren, in dem sich die verängstigten Kinder drängten.
Mr. Peterson bemühte sich, die Mittelstufenschüler zu beruhigen, die von den Schreien der älteren Kinder erschreckt worden waren, die im Festsaal gewesen waren, als die Tote plötzlich die Augen geöffnet hatte. Die Kleineren hatten sich um den Hausmeister, Mr. Mason, geschart. Paul fragte Lucia, die auf den Stufen der breiten Treppe zum Eingang stand, ob er die Kinder ins Gebäude lassen dürfe.
Lucia bemerkte, dass Leo das Lager verlassen hatte und in der abendlichen Dämmerung verschwunden war. Sie ließ den Blick über die Menge der Kinder gleiten. Zuerst mussten die jüngeren Schüler beruhigt werden. Mit den Teenagern wollte sie sich später befassen. Den leisen Gesprächen nach zu urteilen, hatte Kitsh nichts von dem erzählt, was er hatte miterleben müssen. Lucia nickte ihm leicht dankend zu, als sich ihre Blicke trafen.
Das Mädchen hob die Hand, um die Schüler zur Ruhe zu bringen. Dutzende Kinderaugen richteten sich erwartungsvoll auf die Psychologen-Assistentin, in der Hoffnung, ihre Worte würden die Angst vertreiben und Frieden bringen.
„Jetzt geht bitte alle in eure Zimmer und bereitet euch auf die Nachtruhe vor“, ihre befehlende Stimme hallte über die Köpfe hinweg und ein Luftzug fuhr durch die Haare der Kinder. – „Es war ein schwerer Tag.“ Lucia sah erneut zu Kitsh hinüber. Der Junge stand schweigend abseits seiner Mitschüler. In seinem dunklen Gesicht spiegelte sich ernste Strenge. Selbst Brians alberne Scherze über die Kraft des Valentinstags, die angeblich das Unmögliche wiedererweckt habe – ein klarer Seitenhieb auf die Leiche im Festsaal – brachten nicht die gewünschte Reaktion. Der Brünette wandte sich schließlich Margot zu, die nur gezwungen lächelte, als er ihr etwas ins Ohr flüsterte.
„Und wir brauchen Ruhe. Der Schmerz des Verlusts wird lange bleiben“, sagte Lucia über Phoebes plötzlichen Tod, „doch wir werden weiterleben und der Trauer nicht gestatten, uns in den Abgrund zu reißen.“
Neben Rob Roy wischte sich Lilibet mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht und sah das Mädchen aufmerksam mit ihren smaragdgrünen Augen an. Ihr Gesicht war so bleich wie Kreide. Ein fünfjähriges Kind hatte etwas gesehen, das selbst einen Erwachsenen zutiefst erschüttert hätte. Lucia verstand, dass sich der Psychologe auch darum würde kümmern müssen.
Doch so groß die Angst auch war – sie war besser als ein schrecklicher Tod, dachte das Mädchen.
„Überlasst die Beerdigung uns Erwachsenen“, fuhr sie fort und warf einen flüchtigen Blick auf Mr. Peterson, „und ihr kehrt zurück zu eurem gewohnten Leben.“ Die letzten Worte sprach Lucia ohne den geringsten Zweifel. Denn Dämonen zu vernichten, das war ihre Aufgabe – während die Kinder ihre altersgerechten Dinge weitermachen sollten.
„Und ich bitte euch eindringlich: Verlasst das Lager nicht ohne Begleitung der Lehrer. Der Mörder von Phoebe streift durch die Stadt.“ Ein bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die unverfälschte Angst in den Augen der Schüler bemerkte. Na schön, das wird sie wenigstens zum Nachdenken bringen, bevor sie wieder auf dumme Ideen kommen, schnaubte das Mädchen innerlich.
„Man wird ihn fassen, keine Sorge“, versicherte Lucia den Kindern und deutete mit einer Geste auf die Türen hinter sich. „Geht nun zurück ins Gebäude.“
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.