Website-Icon Das SolingenMagazin

Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 15.2)

Wionot und Emma sind ein Liebespaar. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Wionot und Emma sind ein Liebespaar. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 15.2

Der Ford Mondeo bog in die Lindemannstraße ein und Wionot warf einen Blick in den Rückspiegel. Emma wandte sich dem Fenster zu und zog es vor, Schweigen zu spielen. In ihrem flammend roten Abendkleid wirkte sie sehr erwachsen. Der junge Mann hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die letzten Jahre vergangen waren und wie das Kind, das plötzlich in sein Leben getreten war, sich in ein wunderschönes Mädchen verwandelt hatte.

„Du bist zu spät“, verzog Emma die Lippen und sah in den Spiegel. Haselnussbraune Augen blickten den jungen Mann vorwurfsvoll an.
„Nur zwei Minuten, Emma“, entgegnete Wionot und lenkte den Wagen nach rechts.
„Seit Jahresanfang sag ich dir, dass heute mein Abschlussball ist“, murrte das Mädchen. „Wie kann man nur das Datum vergessen? Am 23. Juni 2042 ist mein Abschlussball!“ Sie zog den Träger ihres Kleides hoch, der auf die Schulter gerutscht war.
„Ich hab’s nicht vergessen. Es war einfach Stau auf der Straße. Sei froh, dass ich überhaupt gekommen bin…“

Emma schnaubte empört.
„Und du wolltest, dass ich zu Fuß zur Schule gehe? Elke und Dean hätten sich totgelacht! Und Ursula, die im Dienstwagen ihres Vaters kommt, hätte mich sofort fertiggemacht“, sie drehte mit dem Finger an der Schläfe. „Bist du verrückt geworden? So etwas passiert höchstens in einem Albtraum.“

In der Ferne tauchte das blaue Schuldach auf, an der Emma lernte. Normalerweise ging sie zu Fuß oder fuhr zwei Haltestellen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Gymnasium lag nicht weit vom Haus entfernt. Aber heute war ein besonderer Tag und sie hatte Wionot gebeten, sie zu fahren. Alle Klassenkameraden kamen mit Autos, manche mit eigenen, andere mit denen ihrer Eltern und Emma wollte sich nicht blamieren.

Das Gymnasium, in dem sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch unterrichtet wurde, galt als eines der angesehensten der Stadt. Laut dem Zeugnis, das aus München gekommen war, war Wionot überzeugt, dass das Mädchen eine gute Ausbildung erhalten sollte.

„Im Juli fangen deine Kurse an“, erinnerte der junge Mann sie, während er den Ford Mondeo zwischen den teuren Wagen parkte.
„Ja. Und ich werde alles schaffen, glaub mir“, Emma griff nach ihrer weißen Handtasche und zog an der Tür. „Und ab dem neuen Jahr fahre ich selbst“, sie sprang aus dem Auto. „Puh“, seufzte sie und betrachtete ihr Spiegelbild in der hinteren Türscheibe. „Wie sehe ich aus?“ fragte sie instinktiv.
„Gut“, antwortete Wionot und lehnte sich mit dem linken Arm an die geöffnete Fahrertür.

Das Mädchen warf ihm einen ironischen Blick zu.
„Du hast wie immer Unrecht. Ich bin klein, dünn“, flüsterte sie. „Deshalb hat Uwe Katharina gewählt. Sie hat eine tolle Oberweite und einen perfekten Hintern.“

Wionot lächelte, als er Emmas Beschreibung der Freundin hörte, mit der ihr ehemaliger Schwarm jetzt zusammen war.
„Dann muss ich mich wohl mit Elke zufriedengeben“, seufzte das Mädchen bitter. „Na gut, ich geh dann. Elke bringt mich gegen Mitternacht zurück.“
„Um zwölf bist du zu Hause, Emma“, mahnte Wionot und startete den Motor. „Und denk dran, falls was ist, benutz ein Kondom.“

Emma drehte sich um und verzog genervt das Gesicht.
„Hör auf, Papa“, zischte sie durch die Zähne, als sie sah, wie sich ein Klassenkamerad dem Ford näherte. „Ich bin alt genug, um solche Dinge zu wissen.“

Ein hochgewachsener Junge kam auf Emma zu und küsste sie auf die Wange.
„Hi, Emma“, sagte er und musterte sie bewundernd. „Du siehst heute wirklich toll aus.“ Dann warf der Absolvent einen Blick auf den im Wagen sitzenden Wionot.
„Guten Abend, Herr Neumann.“
„Hallo, Elke“, antwortete dieser.

„Machen Sie sich keine Sorgen, ich bringe Emma heil und sicher nach Hause.“
„Daran zweifle ich nicht“, lächelte Wionot und winkte Emma zum Abschied, bevor er den Wagen aus dem Schulhof lenkte.

Im Rückspiegel sah der junge Mann, wie Elke das Mädchen an der Taille umarmte. Gemeinsam eilten die beiden Abgänger zu den Eingangstüren, wo sie in der bunten Menge festlich gekleideter Schüler verschwanden.

Das Ziffernblatt seiner Armbanduhr zeigte halb zwei. Die Straßen waren wie ausgestorben. Vielleicht hatte die späte Stunde die feiernden Schüler auseinandergetrieben. Vielleicht aber auch der Regen, der kurz nach acht eingesetzt hatte.

Wionot fuhr über die Brücke, bemüht, die innerstädtische Geschwindigkeitsbegrenzung nicht zu überschreiten. Bis zur Schule würde er etwa zwanzig Minuten brauchen. Zwanzig Minuten, in denen Emma in einem leeren Flur auf ihn warten musste. Gegen ein Uhr waren die Kinder längst zu Hause, die Erwachsenen hatten den Saal abgeschlossen und die Reinigung auf den nächsten Morgen verschoben. Nun befanden sich nur noch der Hausmeister – und Emma – im Gebäude.

Wionot schlug mit der Hand aufs Lenkrad.
„Warum hast du mich nicht gleich angerufen?“, murmelte er halblaut. „Und dieser Elke…“

Bis Mitternacht hatte Emmas Klassenkamerad so viel getrunken, dass er nicht mehr fahrtüchtig war. Während Emma jemanden suchte, der sie nach Hause bringen konnte, waren die meisten bereits verschwunden.

Emma hatte Wionot bis zuletzt nicht angerufen. Sie wollte das Problem allein lösen. Der junge Mann kannte sie gut: In den sechs Jahren ihrer gemeinsamen Zeit als Vormund hatte er oft ihren sturen Charakter erlebt, der ihr manchmal übel mitspielte. Wie auch diesmal: statt sofort anzurufen, als sie merkte, dass Elke sie nicht fahren würde, wartete sie fast eine Stunde. Erst als die letzten Schüler die Aula verlassen hatten, griff sie zum Minifon und bat um Hilfe.

Da Wionot wusste, dass Emma erst spät nach Hause kommen würde, hatte er sich im Büro in Oberkassel aufgehalten. Nachdem er den letzten Kunden verabschiedet hatte, kümmerte er sich um die Buchhaltung.

Der Ford Mondeo hielt schließlich vor dem Eingang. Wionot sprang hinaus und seine Kleidung war im Nu durchnässt, schwere Regentropfen prasselten schmerzhaft auf seinen Kopf.

Im leeren Flur blickte er sich um. Kein Zeichen von Emma. Er eilte in das Wachzimmer.
„Sie war gerade noch hier“, sagte der bärtige Mann und nippte an seinem heißen Tee. Auf dem Teller vor ihm lag ein Stück Kuchen, den ihm die Abgänger dagelassen hatten.

Wionot trat wieder hinaus.
Ein undeutliches Gefühl, jemand näherte sich dem Schulgebäude. Er ging in den Hof.

Aus dem Regenschleier trat Emma hervor. Der Saum ihres Kleides war schmutzverschmiert, die Frisur völlig zerfallen. Nasse, kastanienbraune Strähnen klebten an ihren nackten Schultern. Klein, zerbrechlich – und dabei so wunderschön und zugleich so schutzlos.

Das menschliche Leben ist so kurz. Wie die Blüte auf den Bäumen, wie eine Rose, deren Blätter fallen, sobald die Kälte kommt. Der Gedanke ließ ihn frösteln. Ja, Wionot wusste das seit dem ersten Augenblick seiner Existenz, aber als er Emma auf sich zukommen sah, krampfte sich sein Herz zusammen. Aus der schmerzlichen Erkenntnis, dass er ihr keine Ewigkeit schenken konnte.

Er stürzte auf das Mädchen zu und legte die Arme um ihre Schultern.
„Emma“, flüsterte er. „Mein Mädchen.“
„Ich bin dir entgegengegangen, aber dann bin ich zurück, weil ich dachte, du… Und dann wurde der Regen noch stärker…“
„Ich war bei der Arbeit, ich kam von der anderen Seite“, antwortete er leise.

Emma zitterte, ihre Zähne klapperten, als würden sie einen geheimen Rhythmus schlagen.
„Komm, wir gehen nach Hause“, sagte der junge Mann. Doch er blieb stehen, ohne die Umarmung zu lösen.

Ein plötzlicher Lichtblitz verschleierte Wionots Blick und er rang nach Atem unter der Welle von Zärtlichkeit, die schon so lange in seinem Herzen geschlummert hatte. Selbst durch den dünnen Stoff seines Hemdes brannten die Berührungen der Mädchenhände auf seiner Haut. Der junge Mann drückte Emma fester an sich, als wolle er sie vor den kalten Regentropfen, dem nächtlichen Wind, vor der ganzen äußeren Welt beschützen. Einer Welt, die bereit war, sie ganz zu verschlingen, sie in Stücke zu reißen, aus dem Gedächtnis des Universums zu tilgen.

Und da ließ Wionot zu, dass die lange schlafenden Gefühle in ihm an die Oberfläche traten. Er gestattete sich, sich selbst einzugestehen, dass er das Mädchen liebte. Das Mädchen, das ihm vom Himmel bestimmt war. Er war Emmas Beschützer, ihr ewiger Hüter und würde es bleiben bis zu seinem letzten Herzschlag.

Von dieser Minute an hängt mein ganzes Leben von ihrem Atem ab, dachte der junge Mann.

Die Welt blühte in tausend Farben auf, selbst der schmutzige Regen schimmerte nun bläulich. Seine Empfindungen wurden schärfer, das Verlangen füllte seine Gedanken.

„Ich bin hier“, flüsterte Wionot mit stockendem Atem, überwältigt von den Gefühlen. Sein physischer Körper schien es kaum zu ertragen, als wolle die innere Wesenheit des Engels aus den Fesseln ausbrechen. „Ich werde dich niemals verlassen.“

Emma hob den Kopf. Ihre haselnussbraunen Augen standen voller Tränen.
„Wirklich?“, flüsterte sie und barg ihr Gesicht wieder an seiner Brust. „Gut, dass du mich gefunden hast.“

Wionot löste die Umarmung, strich über Emmas Haar und schob eine nasse Strähne von ihrer Stirn.
Das Mädchen lächelte und wischte unsichtbare, vom Regen verborgene Tränen weg. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und streckte sich zu seinem Gesicht. Ihre weichen Lippen berührten die seinen.

Wionot wehrte Emmas Wunsch nicht ab und ein greller Blitz blendete ihn erneut.
„Meine Geliebte“, hauchte er, ohne sich von ihren süßen Lippen zu lösen.

Die Lampe über dem Schulportal erlosch und sie blieben in völliger Dunkelheit stehen.
„Komm, wir gehen nach Hause, Liebste“, zwang sich der junge Mann, sich von ihr zu lösen, nahm Emma bei der Hand und zog sie zum Wagen. „Es fehlt noch, dass du dich erkältest. In drei Tagen sind die Prüfungen.“

Emma lachte.
„Und daran hast du gedacht, als du mich geküsst hast, ja?“

Wionot öffnete die Beifahrertür und deutete auf den Sitz.
„Steig ein“, sagte er so ernst wie möglich.

Emma ließ sich auf den Sitz fallen, richtete ihr nasses Kleid und sah zu ihm hinüber, als er ins Auto stieg.
„Du liebst mich doch schon lange, Wionot, oder?“, fragte sie, als der Ford über die glitschigen Straßen fuhr und das Schulgebäude hinter ihnen lag. „Ich wusste es seit unserer ersten Begegnung bei den Wagners.“

Der junge Mann schwieg und sah auf die Straße.

Emmas Frage brachte ihn nicht aus der Fassung, denn die Liebe zu dem Mädchen, die er sich endlich einzugestehen erlaubt hatte, war schon lange in seinem Herzen erwacht. So lange, dass er sich nicht erinnern konnte, wann es geschehen war. Vielleicht, wie Emma sagte, seit ihrem ersten Blickwechsel. Oder vielleicht schon seit dem Moment, da er auf die Erde gekommen war, als er niemanden an sich heranließ, bis er derjenigen begegnete, die für immer einen Platz in seinem Herzen einnehmen sollte.

„Also… du liebst mich?“ Emmas zarte Hand legte sich auf sein Handgelenk.
„Ja“, antwortete Wionot und bog nach links, als sie vor seinem Haus ankamen.

Emma biss sich auf die Unterlippe.
Der junge Mann fragte sie nicht nach ihren Gefühlen. Er hatte sie bereits in ihren Gedanken gelesen.

Als er den Motor abstellte, löste Emma den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und rannte zu den Hauseingangstüren. Wionot stieg aus dem Wagen und eilte ihr nach.
Das Klackern ihrer Absatzschuhe hallte laut und deutlich in der nächtlichen Stille wider.

– Fortsetzung folgt –

„Engelsklinge – Tödlicher Schlag“ gibt es jetzt auch als Taschenbuch. Bestellen kann man es unter anderem HIER!

Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

Die mobile Version verlassen