Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 17.3
Das Taxi hielt vor einem 35-stöckigen Gebäude in South Beach. Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen waren, gingen Angie und Niku auf die Eingangstüren zu. Mit dem gläsernen Aufzug fuhren sie bis in die oberste Etage. Den ganzen Weg von Twin Peaks bis zur Wohnungstür schwieg das Mädchen. Auch Niku sagte kein Wort. Beide hielten ein Gespräch in Anwesenheit des Fahrers für unangebracht. Außerdem konnte die plötzliche Einladung nicht ohne Einfluss auf die Stimmung des jungen Mannes bleiben.
Obwohl Niku sich bemühte, Angies Umgang mit ihrem langjährigen Freund – und zugleich ihrem Exfreund – nicht schlechtzureden, hätte ihr Gespräch in dieser Situation allzu angespannt ausfallen können.
Die Aufzugtüren öffneten sich und Angie und Niku fanden sich in einem riesigen Wohnzimmer wieder.
Das Erste, was ins Auge fiel, waren die großen Fenster mit einem wunderbaren Blick auf die Bucht, über der sich majestätisch die metallene Konstruktion der Brücke erhob. Für einen Moment ließ das Mädchen ihren Blick am Fenster verweilen und genoss das sich bietende Bild.
„Nicht schlecht, nicht wahr?“, erklang rechts eine Stimme, die Angies Aufmerksamkeit auf sich zog.
Auf einer erhöhten Fläche, zu der Stufen hinaufführten, stand eine gemütliche Sitzgruppe.
Lässig hatte es sich Adrian auf einem kleinen Sofa bequem gemacht, ein Bein über das andere geschlagen. Der Mann hob sein Glas mit Brandy zum Gruß der Gäste. Die oberen Knöpfe seines Hemdes waren geöffnet, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und die grauen Hosen leicht zerknittert.
Offenbar hatte er sich nach der Reise noch nicht umgezogen, dachte das Mädchen.
Mit einer Handbewegung lud der Brünette das Paar ein, auf den neben ihm freien Sesseln Platz zu nehmen.
Angie lächelte angespannt.
Er will wohl den gastfreundlichen Hausherrn geben, schoss es ihr durch den Kopf.
Das Mädchen hatte sich von den unangenehmen Erlebnissen in Deutschland und dem langen Flug nach Amerika noch nicht vollständig erholt, weshalb sie am Abend Müdigkeit verspürte. Doch jetzt musste sie sich zusammenreißen. Begegnungen mit Adrian brachten nicht immer das erhoffte Ergebnis.
Angie hob das Kinn. Ohne den Blick von den braunen Augen des Mannes abzuwenden, ging sie mit sicherem Schritt auf den Sessel zu.
Die Narbe auf Adrians linker Wange zog sich zusammen, als sich auf seinen Lippen ein zufriedenes Lächeln zeigte.
Hinter sich hörte das Mädchen ein unterdrücktes Husten, als wolle Niku etwas sagen, doch plötzlich kratzte es ihm im Hals. Insgeheim freute sie sich darüber, dass es dem Jungen unmöglich war, seinen Kommentar zur herzlichen Begrüßung des Polen abzugeben. Die Atmosphäre war ohnehin bis zum Äußersten angespannt und es fehlte nur noch ein wütender Ausbruch, der unweigerlich folgen würde, sobald ein unbedachtes Wort ausgesprochen wurde.
„Ich halte mich hier nur eine Woche auf“, brach Adrian als Erster das Schweigen, während er beobachtete, wie die Gäste ihm gegenüber Platz nahmen und in den weichen Sesseln versanken. „Ein Freund von mir hat mir angeboten, hier zu wohnen, solange er auf den Seychellen Urlaub macht“, sagte er und deutete mit der Hand auf das Wohnzimmer. „Ein Penthouse mit all seinen Vorzügen, aber ich würde dennoch ein Haus vorziehen.“
„Du sprichst mir aus der Seele“, sagte Angie ruhig, um das Gespräch aufrechtzuerhalten, wohl wissend, dass sie sich ungezwungener verhalten musste. So, als wäre der Anlass ihres Treffens ein bloßer Höflichkeitsbesuch und nicht die Notwendigkeit, um Hilfe zu bitten. Wie schon vor zwei Tagen in Frankfurt hatte sie jedoch auch hier nicht vor, ihren Freund anzuflehen, sondern mit ihm auf Augenhöhe zu verhandeln.
Angie betrachtete den Raum mit den unfassbar teuren Möbeln absichtlich nicht genauer. Allein der Wandteppich, der japanische Samurai zeigte, die in voller Rüstung auf ihren Pferden dahinjagten, war beeindruckend. Sie hielten ihre geschwungenen Schwerter – Katana – erhoben, bereit, sich in den Kampf zu stürzen. An Mut und Tapferkeit mangelte es den Samurai nicht; sie wurden in Strenge und Ehrfurcht vor den Älteren erzogen und waren bereit, ihr eigenes Leben für einen anderen zu opfern.
Angie seufzte bitter.
Nun ja, schade, dass sich die Erziehung heutzutage von den weisen Methoden der Japaner unterscheidet, ging es ihr durch den Kopf, deshalb wachsen auch so weichliche Faulpelze heran.
„Mein Freund ist Japanologe“, erklärte Adrian, als er bemerkte, mit welchem Interesse das Mädchen den hinter ihm hängenden Wandteppich betrachtete. „In jedem Zimmer findet man bei ihm ein Souvenir aus dem Land der aufgehenden Sonne. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich auf seiner Villa eines Tages eine Sakura sehe. Seine Leidenschaft für die japanische Kultur hat Brandon sogar dazu gebracht, eine Japanerin zu heiraten.“
„Warum lebt er dann nicht in Japan?“, erkundigte sich Angie und spielte weiterhin die Rolle der netten Gästin.
„Er lebt mit seiner Frau in zwei Ländern. Mal hier, in San Francisco, mal in Nagoya“, Adrian nahm einen Schluck Brandy. „Übrigens“, wandte er sich an die Gäste und deutete auf die Bartheke neben der Sitzgruppe, „bedient euch. Bei dieser Zeitverschiebung bin ich völlig neben mir.“
„Ausgerechnet du sagst das?“, ein spöttischer Blick aus Angies braunen Augen glitt über das Gesicht des Brünetten.
„Eine Reise in Begleitung von ‚Freunden‘ und ein zwölfstündiger Flug“, fiel Niku Angie unterstützend bei und schnaubte verärgert. „Besser geht’s kaum. Und du hattest es auch nicht eilig einzugreifen …“
„Schluss jetzt“, sagte das Mädchen kühl und hielt den Jungen von einem möglichen Wortgefecht mit Adrian ab. „Wir sind nicht deswegen hier, mein Lieber“, sie berührte Nikus Hand. „Bring mir bitte etwas zu trinken.“
Die Lippen des Jungen verzogen sich zu einer Parodie eines Lächelns, als sich sein Blick mit dem Adrians kreuzte. Er seufzte düster, gab der Bitte des Mädchens nach und erhob sich.
„Was soll ich dir einschenken, Angie?“
„Martini.“
„In Ordnung“, sagte er. „Und ich würde jetzt auch nicht nein zu einem Bier sagen.“
Angie sah zu Adrian.
Der Mann zeigte nicht die geringste Reue wegen Olivers Verschwinden und beeilte sich auch nicht, die entstandene Situation zu besprechen. Angie hingegen wälzte Dutzende von Möglichkeiten, wie sie den Jungen finden könnten. Ihre Blicke trafen sich. Für ein paar Sekunden sahen sie sich schweigend an, dann zwinkerte der Mann Angie zu.
„Hast du mich vermisst, meine Liebe?“, fragte er und nutzte die Abwesenheit von Niku. Ein verschmitztes Grinsen umspielte die Lippen des Brünetten.
„Du gehörst nicht zu denen, nach denen man sich sehnt“, giftete das Mädchen und hatte nicht vor, die Latte niedriger zu legen oder in die Rolle der Bittstellerin zu schlüpfen.
Aus Adrians Brust entwich ein resignierter Seufzer.
„Brich mir nicht das Herz, Liebste“, der Mann nahm einen weiteren Schluck Brandy.
„Hast du denn eins?“, das ironische Lächeln auf Angies Lippen schien den Polen nur zu amüsieren. Er leckte sich über die Lippen und lehnte sich zurück, während sein Blick jeden Millimeter von Angies Gesicht abtastete.
Angie senkte den Blick nicht und biss die Zähne zusammen, um ihr Herz zu beruhigen, das unter Adrians durchdringendem Blick schneller zu schlagen begann. Verräterisch stieg ihr die Röte in die Wangen und sie hätte sich vor Wut am liebsten angeschrien, als ihr bewusst wurde, dass sie den Mann vor sich noch immer nicht aus dem Kopf bekommen hatte.
Das wird nichts, mein Lieber, streng dich gar nicht erst an. Du wirst für immer ein Verlierer bleiben. Bei diesem Gedanken beruhigte sich Angie, fasste sich wieder und vertrieb die süßen Erinnerungen an die Sommernächte in Danzig.
Als Niku zu ihr trat, nahm sie den Martini aus seiner Hand entgegen und lächelte lieblich, wohl wissend, dass Adrian nichts entgehen würde.
„Danke, mein Schatz“, betonte sie das letzte Wort demonstrativ laut und genoss es, dass es den Freund treffen musste, der davon träumte, wieder mehr für sie zu sein.
Die Aufzugtüren öffneten sich. Eine zierliche Brünette, ganz in Schwarz gekleidet, erschien im Wohnzimmer. Dem Aussehen nach war das Mädchen nicht älter als 20.
Angie hob überrascht die Augenbrauen und Niku drehte sich ruckartig um.
„Darf ich vorstellen: Lucia Neri“, stellte Adrian die Brünette den Gästen vor. „Lucia, ich möchte dir meine Freunde vorstellen: Angie Kalvinski und Niku Georgescu. Sie sind gestern aus Deutschland angekommen.“
Die Brünette trat zu Niku und schüttelte ihm die Hand.
„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte sie anschließend und reichte Angie die Hand.
Angie entging nicht, mit welchem Blick Lucia sie bedachte. So prüfend und bis in die Seele dringlich, als taste er jeden Winkel des Bewusstseins ab. Einen solchen Blick kannte Angie bislang nur von einer einzigen Person, mit der sie bis heute zu tun gehabt hatte: Wionot.
„Möchtest du etwas trinken, Lucia?“, erkundigte sich Adrian und wandte sich an sie, als wären sie gute Bekannte. Dabei machte es auf den ersten Blick den Anschein, dass Lucia – genau wie Angie – von der Gesellschaft des Polen wenig begeistert war. Und der erste Eindruck täuscht selten.
„Nein, danke“, lehnte die Brünette den Alkohol ab und ließ sich neben Adrian auf das Sofa fallen. „Also, warum hast du mich hergerufen?“, fragte sie.
In den Mundwinkeln Angies spielte ein Lächeln.
Lucia erlaubte sich, den Mann spöttisch anzusehen, als wäre nicht sie seine Gästin, sondern er der ihre.
Das Mädchen tauschte einen Blick mit Niku.
Der Junge öffnete eine Flasche Bier und beobachtete schweigend das Geschehen.
„Genau deshalb habe ich dich gerufen“, antwortete Adrian ruhig. „Um euch miteinander bekannt zu machen. Und nicht nur das. Ich möchte ein paar Dinge besprechen.“
„In Bezug auf die Zerschlagung der Abteilungen?“, ließ Lucia nicht locker.
Angie hustete nervös, Niku fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 46-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

