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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 3.1)

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Lucia bei einer ausgiebigen Trainingseinheit im Wald.
Lucia bei einer ausgiebigen Trainingseinheit im Wald. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 3.1

Das Mädchen sprang mühelos über den umgestürzten Stamm einer Mammutbaumsequoie und betrat einen der Wanderwege, die mit Bänken gesäumt waren. Vom Ozean wehte eine kühle Brise, als Lucia auf dem Hügel ankam. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die blaugrün schimmernde Wasseroberfläche, die sich bis zum Horizont erstreckte und dort mit dem Himmel verschmolz, der allmählich eine gräuliche Färbung annahm.

Nachdem sie einige Meter gelaufen war, bog das Mädchen vom Weg ab und lief in das Dickicht der Bäume, wobei sie über mit Moos bewachsene Stellen sprang. Die spitzen Blätter der niedrig wachsenden Farne schwankten im starken Luftstrom, der Lucia wie ein Schleier folgte. Der morgendliche Nebel kroch über den Boden und verbarg plötzlich auftauchende Hindernisse wie umgestürzte Baumstämme und abgebrochene Äste. Der dichte Nebel war in dieser Region Amerikas im Sommer oder bei Temperaturschwankungen ganz normal, und die Nächte im Februar waren noch recht kühl.

In den frühen Morgenstunden waren keine Besucher im Park und Lucia hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, diese Zeit für ihr körperliches Training zu nutzen. Zumal sich in der Nähe ein Camp befand, zu dem sie nach ihrem Morgentraining gleich zur Arbeit ging. Lucia verzog das Gesicht. Das Wort „Arbeit“ passte nicht wirklich zu dem, was sie tat. Die Ausführung von Elijahs Aufträgen war für sie kein alltäglicher Lebensstil. Die Hauptaufgabe eines Racheengels bestand schließlich in der Vernichtung von Dämonen.

Neben einem Eukalyptusbaum machte Lucia eine geschickte halbe Drehung in der Luft und landete geräuschlos auf dem Boden. Ohne das Tempo zu verringern, setzte sie ihren Lauf fort und entfernte sich von den Stellen, an denen bald die ersten Besucher auftauchen könnten. Ihre einzigen Begleiter waren nun wilde Hirsche, die auf einer Lichtung im Wald grasten und Füchse, deren feuerrote Schweife aus dem feuchten Schleier am Boden auftauchten.

Als sie beim nächsten Eukalyptusbaum ankam, sprang Lucia hoch, griff mit beiden Händen nach einem Ast und begann Klimmzüge zu machen. Als sie die zweihundert überschritt, zog sie sich noch einmal hoch und stellte sich auf den Ast. Mit einem Salto sprang sie zurück auf den Boden.

Die Anwesenheit eines gefährlichen Tieres mit sandfarbenem Fell, das Lucia nicht aus den Augen ließ, erschreckte sie nicht. Sie erwiderte den Blick des Luchses, der sich im Farn versteckt hatte. Der linke Mundwinkel von Lucia zuckte nach oben. Nach ein paar Sekunden dieses Blickduells wandte das Tier den Kopf ab. Lucia lief weiter und ließ den Luchs an dem Ort zurück, an dem sie ihn entdeckt hatte. Seine spitzen Ohren mit schwarzen Quasten zuckten nicht einmal, als Lucia hinter den Bäumen verschwand. Das Tier gähnte, öffnete sein Maul weit und zeigte seine langen, scharfen Zähne. Lucia drehte sich noch einmal um. Der Luchs mit dem fahl-rauchigen Fell und rötlich-rostigem Schimmer verwandelte sich langsam in eine kleine, gesprenkelte Gestalt und verschwand bald ganz aus ihrem Blickfeld.

Ein Wettrennen wäre jetzt zwecklos, dachte Lucia. Du bist müde von der nächtlichen Jagd, und ich muss ins Camp.

Die hohen Stämme der Mammutbäume mit ihren kegelförmigen Kronen ließen kaum Licht durch, sodass es dort recht düster war. Doch Lucia wich geschickt aus und vermied es, eine Schnecke zu zerquetschen, die langsam auf einen Baum zuschlich.

„Entschuldige, Schönheit!“ – lächelte sie und setzte ihren Weg fort.

Lucia lief leichtfüßig, als würde sie durch die Luft schweben, ihre Füße berührten kaum den Boden. Ihr Atem blieb ruhig, als würde sie gemächlich durch die Wanderwege des an den Wald angrenzenden Parks spazieren. Ihr Herz schlug im gewohnten Rhythmus, ohne laut in ihrer Brust zu dröhnen – anders als am ersten Tag des Trainings. Damals hatte Woldéri sie richtig geschunden. Er hatte sie völlig ausgelaugt und ihr sogar eine Strafaufgabe aufgebrummt. An jenem Abend hätte Lucia am liebsten den umgebracht, den Ageor ihr zugewiesen hatte, um sie zu einem der mächtigsten Engel dieser Zeit zu machen. Und das war ihm auch gelungen, musste sie sich eingestehen – ein großartiger Mentor, dieser Hüne. Lucia stieß sich mit dem Fuß vom Stamm eines Mammutbaums ab und machte einen weiten Sprung nach links, ließ dabei ein paar Bäume hinter sich.

Es ist nicht nur dein Verdienst, Mentor, dachte sie, auch meine Anstrengungen haben dazu beigetragen, dass ich mich hier auf der Erde so fühle wie einst zu Hause.

Kontrolliere deinen Atem, kontrolliere deinen Herzschlag – beim Laufen, beim Beobachten, während eines Kampfes. Diese Worte leuchteten in den ersten Monaten ihres selbständigen Lebens in Lucias Kopf in grellen roten Buchstaben auf. Entweder du unterwirfst deinen Körper deinem Willen, oder er wird den Racheengel in dir zerstören, sagte sich Lucia immer wieder, wenn sie sich auf eine neue Überwachungsmission vorbereitete. Sturheit, Fleiß und Beständigkeit hatten ihre Wirkung gezeigt, und ein halbes Jahr nach der ersten Begegnung mit Woldéri stand sie dem Riesen in nichts mehr nach.

Das Gefühl der Anwesenheit eines anderen Engels überkam Lucia, als sie das Ende der Sequoia-Anpflanzung erreichte. Sie änderte ihre Route, bog nach rechts ab und eilte zu einem Weg, der zu beiden Seiten von Eukalyptusbäumen gesäumt war. Lucia schmunzelte.

Du willst dich also messen, Liebling, dachte sie, als sie Leo bemerkte, der auf einem Ast eines besonders hohen Baumes saß, der sich von seinen Artgenossen abhob.

Der Wind rauschte in der üppigen Baumkrone und spielte mit den immergrünen Blättern, als wären sie sein Lieblingsspielzeug. Er küsste jede Blattader mit seinem Atem und schenkte ihr frische Luft.

Guten Morgen, meine Liebe,“ sagte der Junge mit einem verschmitzten Blinzeln, während ein freches Lächeln sein jungenhaftes Gesicht zierte. „Mein Frühaufsteher ist also schon auf den Beinen.“ Leo lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und streckte die Beine aus.

Lucia blieb am Fuß des Eukalyptusbaums stehen und blickte zu ihm hinauf.

„Bereit für ein bisschen Training vor der Arbeit?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Nope“, lehnte er ab und verzichtete auf die Chance, gegen seine Freundin beim Laufen zu verlieren. So sehr Leo sich auch anstrengte, er konnte mit einem Racheengel nicht mithalten. Natürlich war Leo ein guter Wächter – aber eben nur gut, nicht der Beste. „Das gestrige Training im Fitnessraum hat mir gereicht. Also, gehen wir heute auf Überwachung?“ fragte er.

„Natürlich, heute Abend“, antwortete Lucia. „In Richmond treibt ein Dämon sein Unwesen, der die Bewohner daran hindert, heimzukehren.“

„Wollen wir Ken Bescheid geben?“

Lucia hob überrascht eine Augenbraue und ging in Richtung des Lagers.

Leo räusperte sich.

„Verstanden“, sagte er spöttisch, sprang vom Baum und folgte ihr.

Im Büro des Heilers nahm Leo einen Stuhl aus der Ecke und setzte sich gegenüber von Elijah.

Der Heiler stützte sich auf den Tisch und blickte Lucia direkt in die Augen.

„Unsere Aufgabe ist es, sie zu fragen“, sagte er, nachdem Lucia über den misslungenen Besuch in der Kirche vom Vortag berichtet hatte. „Die Priester von Ealneira sind ohnehin überlastet. Ich war mir sicher, dass sie ablehnen würden.“

Lucia verdrehte verärgert die Augen.

„Sicher?“ zischte sie. „Dann…“

„…musste man es trotzdem versuchen,“ zuckte der Mann mit den Schultern.

Deine Antwort überzeugt mich nicht, Elijah schnaubte das Mädchen. Den wahren Grund wirst du mir wohl kaum verraten. Super. Jetzt hänge ich da voll drin dachte sie und erinnerte sich an das Angebot von Angel, das sie angenommen hatte – und nun musste sie Aufgaben erledigen, bei denen selbst der Heiler an einem guten Ausgang zweifelte.

„Man kann ihnen keine Untätigkeit vorwerfen“, entschied Lucia, auf seine Taktik einzugehen, um die Wahrheit doch noch herauszufinden. „Aber sie verfolgen in ihrer Arbeit egoistische Ziele. Das bedeutet, sie werden uns nicht helfen.“ Ihre Stimme sank wieder auf den normalen Ton, während sie zu dem Stuhl trat, auf dem Leo saß und sich mit den Händen auf dessen Rücken lehnte. „Weder schwarz noch weiß – eher… graue Hirten.“

„Weder kalt noch heiß bist du“, warf der Junge ein und seufzte bitter.

„Und daran lässt sich nichts ändern“, stimmte der Psychologe zu, ohne seinen ausdrucksstarken Blick von Lucia abzuwenden.

„Aber Engel zu hassen – das ist zu viel!“ empörte sich das Mädchen, als ihr klar wurde, dass Elijah keineswegs vorhatte, ihr den wahren Grund für die Mission zu verraten – eine Aufgabe, die nur noch deutlicher machte, wie kalt und gleichgültig die Menschen sein konnten. „Wir beanspruchen doch gar nicht das Recht, die Menschen zu führen.“

„Jede Bedrohung ihres Herrschaftsanspruchs wird feindselig aufgenommen“, sagte der Mann mit zusammengepressten Lippen und bestätigte damit eine unangenehme Wahrheit über den Einfluss von Macht auf den Menschen. „Selbst wenn diese Bedrohung – wie sie glauben – von jenen ausgeht, die den Schöpfer gesehen haben.“

„Sie irren sich“, seufzte Leo erneut.

Lucia schnaubte.

„Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, dass Menschen anfangen würden, Engel anzubeten?“ Der Gedanke war ihr gerade erst gekommen, doch sie sprach ihn sofort laut aus.

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Ich glaube nicht“, antwortete er, ohne sich umzudrehen, und richtete seinen Blick auf Elijah, in Erwartung einer bestätigenden Reaktion.

Doch der Mann beeilte sich nicht, Leo zuzustimmen. Er erhob sich von seinem Stuhl und zupfte seinen makellos sitzenden Blazer zurecht – ein deutliches Zeichen, dass die Audienz beendet war.

„Wer weiß das schon“, sagte der Heiler nach einer kurzen Pause. „Unter ihnen gibt es seltsame Sonderlinge.“

Lucia schnaubte und als ihr klar wurde, dass das Gespräch für diesen Moment beendet war, ging sie zur Tür – ohne sich darum zu kümmern, dass sie sich nicht von Elijah verabschiedet hatte. Die kalte Begegnung mit den Vertretern von Ealneira und das ebenso frostige Gespräch mit dem Heiler hatten ihr für die letzten 24 Stunden gereicht. Vielleicht hilft eine warme Dusche, dieses wachsende Gefühl von Empörung in mir zu lindern, dachte sie, während sie im Gehen ihren Pullover aufknöpfte.

– Fortsetzung folgt –

„Engelsklinge – Tödlicher Schlag“ gibt es jetzt auch als Taschenbuch. Bestellen kann man es unter anderem HIER!

Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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