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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 3.3)

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Lucia und Leo unterstützen die junge Patsy, die von ihren Mitschüöern gemobbt wird.
Lucia und Leo unterstützen die junge Patsy, die von ihren Mitschüöern gemobbt wird. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 3.3

Patsy betrat die Mensa, als die meisten Kinder bereits gefrühstückt hatten. Die jüngeren Schüler hatten hastig ihr gekochtes Ei und ihr Butterbrot mit heißem Tee hinuntergespült. Einige von ihnen verbrannten sich dabei die Lippen am kochend heißen Getränk, was durch leise Aufschreie bezeugt wurde. Nach etwa zehn Minuten sprangen die Kinder vom langen Tisch auf – der eigens für die Grundschüler vorgesehen war –, warfen sich ihre Rucksäcke über die Schultern und verließen in einer Gruppe die Mensa.

Im quadratischen Raum mit den bodentiefen Fenstern blieben nur die älteren Schüler zurück. Patsy ging zum Ausgabefenster, hinter dem der Koch stand, und nahm ein Tablett mit Essen entgegen.

Lucia saß an dem Tisch, der für die Lehrer reserviert war. Lehrer frühstückten dort allerdings nie – sie kamen lediglich zum Mittagessen ins Lager, da sie aus ihren eigenen Häusern anreisten.

„Da ist sie ja“, sagte Leo leise, als Patsy mit unsicherem Gang auf die freien Stühle an dem Tisch zusteuerte, an dem die Jugendlichen saßen. Der Junge fragte Lucia, warum sie die Schülerin nicht verteidigt habe, woraufhin das Mädchen erwiderte, sie habe den Kindern überlassen, ihre Probleme selbst zu lösen.

Leo kaute noch an seinem Butterbrot, schluckte das nächste Stück hinunter und nahm einen Schluck Kaffee. Das aromatische Getränk war im Lager ausschließlich für Erwachsene vorgesehen. Man ging davon aus, dass Kinder ohnehin oft überdreht seien. Nur bei besonderen Anlässen machte man eine Ausnahme und brühte auch für die Oberstufenschüler Kaffee auf.

Lucia beobachtete schweigend, wie Patsy an den Schülern vorbeiging, die es nicht für nötig hielten, näher an den Tisch zu rücken, um ihre Mitschülerin durchzulassen. Sie saß mit dem Gesicht zu den Tischen und konnte daher genau sehen, was bei den älteren Schülern vorging – insgesamt zählte das Lager sieben von ihnen.

Am Anfang des Tisches war noch ein Platz frei, doch Margo, die daneben saß, legte demonstrativ die Hand auf die Rückenlehne des Nachbarstuhls und drehte sich weg, als Patsy vorbeiging.

„Besetzt“, sagte sie gedehnt und warf Campbell, die neben ihr saß, einen Blick zu.
Cash, die hinter der Engländerin saß, kicherte gehässig.

Gegenüber der bekannten Dreiergruppe saßen die Jungen. Einer von ihnen – ein dunkelhäutiger Brünette mit dichten Augenbrauen – hatte die oberen Knöpfe seines Hemdes geöffnet und zwinkerte Cash zu. Selbst die strenge Uniform konnte seine athletische Figur nicht verbergen. Als er den Hemdkragen etwas zur Seite zog, bemerkte Lucia auf seinem Schlüsselbein ein Stück einer Tätowierung, die unter der Kleidung verborgen war. Es war ein Vogelflügel, aber um zu erkennen, zu welchem Vogel er gehörte, müsste man den Brünetten mit nacktem Oberkörper sehen.

„Na, Bryan, machen wir nach dem Unterricht weiter?“, wandte sich der Junge an den braunhaarigen Mitschüler mit dem kleinen Piercing in der Augenbraue.

„Kein Ding, Kitch“, antwortete der Angesprochene und rieb sich das spitze Kinn, auf dem ein deutliches Grübchen zu sehen war. „Und nach dem Abendessen weiter?“ Er verengte die Augen.

Kitch tauschte einen Blick mit Cash aus. Die Brünette hatte ihr Frühstück beendet und schminkte sich nun mit einem leuchtend roten Lippenstift die Lippen, während sie in ein Spiegelchen aus dem Rucksack sah.

„Ich hab abends ein anderes Training“, zwinkerte der Junge seiner Klassenkameradin verschmitzt zu.

Bryan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ seinen Blick über Cashs zwei Freundinnen schweifen.

„Vielleicht sollte ich auch mal zusätzlich trainieren?“ Er leckte sich über die Lippen.

„Frechdachs“, winkte Margo lachend ab und schmollte kokett mit den Lippen, als ob Bryans Vorschlag sie gar nicht beleidigt hätte.

Natürlich, dachte Lucia trocken, wie sollte dich auch ein Junge beleidigen, mit dem du schläfst, Margaret.

Campbell reagierte auf das Gespräch der Jungs mit Schweigen. Sie strich sich die Haare hinters Ohr und warf, während ihre Freundinnen mit den Klassenkameraden flirteten, einen flüchtigen Blick auf Ian. Der grünäugige Schüler beteiligte sich weder am Gespräch noch an den Gemeinheiten gegenüber Patsy – er hatte sich vom Rest der Welt abgekapselt und war in seine Gedanken versunken.

Deine Gleichgültigkeit ist uns nicht entgangen, mein Lieber, dachte Lucia, als sie Campbells Blick verfolgte.

Ian hatte den Kopf über seine Teetasse gesenkt, als würde er etwas auf dem Boden der Tasse betrachten. Strähnen seines lockigen Haars fielen ihm in die Stirn, aber das störte ihn nicht.

Hinter dem Stuhl, auf dem Cash saß, waren noch einige Plätze frei und Patsy steuerte auf sie zu. Lucia musste nicht einmal raten, was gleich passieren würde. Sie hatte die hinterhältige Idee, die sich im Kopf Cash formte, deutlich erkannt – und in ihr loderte Empörung auf.

Leo warf das angebissene Butterbrot auf den Teller und sprang auf, während Lucia ihren Stuhl ruckartig drehte. Die Metallbeine quietschten über die Fliesen, genau in dem Moment, als Cash ihr Bein vor der auf sie zukommenden Patsy ausstreckte.
Das schreckliche Quietschen lenkte Cashs Aufmerksamkeit auf sich – sie zog das Bein augenblicklich zurück. Kitch und Bryan verstummten und warfen den beiden nur wenige Jahre älteren Personen verständnislose Blicke zu.

Als Patsy erkannte, was ihre Mitschülerin geplant hatte, schnappte sie erschrocken nach Luft und blieb wie angewurzelt stehen. Ian löste sich aus der Betrachtung des Unsichtbaren in der dunklen Flüssigkeit. Die Mädchen drehten sich ruckartig um. Campbell blinzelte erschrocken und Margo schluckte krampfhaft.

In der Mensa breitete sich eine zähe Stille aus. Selbst der Küchenchef, Mr. Lloyd, der bei dem schrillen Geräusch aus dem Ausgabefenster hervorschaute, erstarrte in abwartender Haltung. Der Mann mischte sich nie in die Angelegenheiten der Kinder ein und überließ es ihnen, ihre Konflikte selbst zu klären.

„So wird der Charakter geformt“, hatte Harry einmal Mrs. Brown erklärt, als sie den Koch an einem Tag wütend zur Rede stellte, weil er zugelassen hatte, dass sich Schüler der Mittelstufe gegenseitig verprügelten. „Und es ist doch nichts passiert“, meinte der Mann und deutete auf zwei rotgesichtige Jungen. „Für Dennis ist es gut, zu lernen, seine Meinung zu verteidigen“, zwinkerte Mr. Lloyd den Jungen zu, die keinerlei Reue wegen der Prügelei zeigten.

„Jetzt würdest du im Büro des Direktors sitzen, Cash, und Patsy wäre mit Verbrennungen im Sanitätsraum“, durchbrach Lucias eisiger Ton die spannungsgeladene Luft im Raum. „Ich sehe, dich schrecken die Konsequenzen deines Vorhabens überhaupt nicht ab.“

Die Starre löste sich, und als die Jugendlichen begriffen, dass die kleine Brünette, die mit dem Psychologen zusammenarbeitete, keine Moralpredigt über Tischmanieren halten würde, wurden sie mutiger. Cash erhob sich vom Stuhl, nickte Kitch zu und warf Lucia einen verächtlichen Blick zu.

„Na und? Was hab ich denn gemacht?“, fragte sie mit spöttischem Ton, schwang sich den Rucksack über die Schulter und ging zur Tür.

Ein wütender Seufzer entfuhr Lucias Brust. Sie wollte dem Mädchen, das sich als unschuldiges Engelchen aufspielte, etwas entgegnen, doch der durchdringende Blick von Mr. Lloyd hielt sie zurück. Sie biss die Zähne zusammen. Harry grinste und tauchte wieder im Ausgabefenster unter.

Kitch trat vom Tisch zurück, holte seine Klassenkameradin ein und grinste hämisch, als das Paar sich auf Höhe von Lucia und Leo befand.

„Es ist Zeit für den Unterricht, Leute“, sagte Leo ruhig – seine Stimme wirkte beruhigend.

Die Jugendlichen begannen sich zu bewegen. Ian verließ als Erster die Mensa. Er warf allen Anwesenden einen gleichgültigen Blick zu, schob seinen Teller mit dem angebissenen Frühstück beiseite und folgte seinen Klassenkameraden. Bryan folgte ihm – die Hände in den Hosentaschen, ging er mit demonstrativer Lässigkeit an den Psychologenhelfern vorbei. Margo und Campbell beeilten sich hinterher. Als sie Bryan eingeholt hatten, schmiegte sich die Blondine an ihn und Bryan legte den Arm um ihre Schultern.

Lucia sah auf Patsy, die allein zwischen den leeren Tischen zurückgeblieben war. Die Oberstufenschülerin hatte ihr Tablett auf den Tisch gestellt und wollte dem Rest folgen, doch das Mädchen hielt sie mit einer Geste zurück.

„Iss erst mal etwas“, sagte Lucia mit sanfterem Ton. „Du hast fünf Minuten.“

Sie trat zu Patsy, schob einen Stuhl zurück und lud die Schülerin mit einer Geste ein, Platz zu nehmen.

„Ich heiße Lucia“, sagte sie und warf einen Blick auf den Jungen hinter ihr. „Und das ist Leo. Wir helfen…“

„Ich weiß“, flüsterte Patsy. Sie setzte sich auf den angebotenen Stuhl und biss in ihr Butterbrot.
„Warum?“, fragte das Mädchen, hob den Kopf und sah Lucia, die sich über sie beugte, erschrocken an.
„Warum habt ihr das gemacht? Ich hätte es auch allein geschafft.“

„Ich hab mich davon schon in der Dusche überzeugt“, schnaubte Lucia leise.
Du hast Angst, dass du jetzt noch mehr einstecken musst, dachte sie.

Patsy seufzte bitter.

Lucia setzte sich auf den Nachbarstuhl und drehte sich der Schülerin zu.

Es ist Zeit, dir zu helfen, Kleines, dachte sie und presste die Lippen mitfühlend zusammen.

„Hör zu, Patsy“, begann sie so sanft wie möglich, „es ist sehr wichtig, dass dich jemand unterstützt. Das ist völlig normal. Lass es uns sein – Leo und ich.“ Lucia drehte sich um und sah über ihre Schulter zu dem Jungen. In der Zwischenzeit war Leo näher getreten und stellte sich hinter Lucias Stuhl. Er nickte zustimmend zu ihren Worten.
„Aber so stark die Unterstützung auch sein mag – die Krallen zeigen musst du selbst. Ich weiß, es ist nicht leicht“, fügte Lucia hastig hinzu, als sie bemerkte, dass die Oberstufenschülerin aufgehört hatte zu kauen und nun reglos auf ihrem Stuhl saß, als würde sie auf ein Urteil warten. „Aber es ist nicht unmöglich. Heute, als ich im Wald war, habe ich einen roten Luchs gesehen.“

Patsy schluckte und nahm wieder einen Bissen vom Butterbrot, den sie mit einem Schluck Tee hinunterspülte. Ein Hauch von Neugier flackerte in ihrem Blick auf, und sie unterbrach Lucia nicht mehr.

„Du weißt ja, dass es in unseren Wäldern nicht nur harmlose Füchse gibt, sondern auch Bären und Luchse“, sagte Lucia mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Und das Tier hat mich nicht angerührt – ist mir nicht einmal nähergekommen. Ich hatte das Gefühl, der Luchs wollte mir gar nichts tun. Obwohl er es gekonnt hätte. Luchse sind schnelle Tiere, sie können bis zu vierzig Meilen pro Stunde laufen. Und glaub mir, ich säße jetzt nicht hier vor dir, wenn der Luchs mich heute zum Frühstück hätte haben wollen.“
Lucia warf Leo einen verschwörerischen Blick zu.
„Und was denkst du, warum hat er mich nicht angegriffen? Weil er meine innere Haltung gespürt hat“, antwortete sie selbst, bevor Patsy etwas sagen konnte. „Er hat in mir niemanden erkannt, der Angst vor ihm hatte. Die Haltung eines Opfers bringt sogar jemanden zu Fall, der eigentlich viel stärker ist als sein Gegner. Der Luchs hat in mir einen Jäger gesehen – kein schwaches, bemitleidenswertes Wesen, das ihm als Beute dient.“ Lucia beugte sich leicht vor, näher zu der Schülerin, und flüsterte: „Und was meinst du – wer bist du? Opfer oder Jäger?“

Lucia stellte die leere Tasse auf den Tisch und legte die Hände in den Schoß. Aus der Richtung des Ausgabefensters klapperte das Geschirr, aber nicht einmal das konnte den laut pochenden Herzschlag in Patsys Brust übertönen. Lucia sah die Oberstufenschülerin eindringlich an. Ihre Narben röteten sich leicht, als sich ihre Blicke kreuzten. Patsy senkte sofort den Blick zu Boden – sie wusste die Antwort nur zu gut.

Aber was soll ich tun, las Lucia in ihren Gedanken, ich bin nicht so selbstsicher und mutig wie du.

Plötzlich richtete sich Lucia auf und sah zur Tür. Nach ein paar Sekunden erschien Elijah im Eingang.

„Ich weiß, was hier passiert ist“, sagte der Heiler, trat an Patsy heran und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Und in der Dusche auch. Wie geht es dir?“ Der sanfte Klang seiner Stimme ließ das Mädchen aufblicken. „Willst du mit mir mitkommen?“ schlug Elijah vor, während er die Hand wieder zurückzog.

Patsy nickte bejahend, legte das Butterbrot zurück auf den Teller, rückte das Haargummi in ihrem kastanienbraunen Haar zurecht und erhob sich vom Stuhl.

„Wir sehen uns wie besprochen“, sagte der Mann an die beiden Italiener gerichtet und verließ gemeinsam mit dem Mädchen die Mensa.

Danke für die Hilfe, hörte Lucia Elijahs Gedanken in ihrem Kopf – und ein selbstzufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Wir haben es geschafft, Chef, dachte sie. Und du hast geglaubt, es würde nicht funktionieren? Ein Racheengel kann eben mehr als nur Gesichter polieren.

„Und jetzt ist es Zeit für einen Spaziergang, meine Liebe“, sagte Leo. Als Lucia vom Stuhl aufstand, trat er zu ihr und küsste sie auf die Lippen.

– Fortsetzung folgt –

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Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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