
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 5.3
Im letzten Schuljahr kam die Wärme früh. Schon Ende Februar lag der Geruch von frischer Erde in der Luft, der allem Lebendigen verkündete, dass die Welt aus dem Winterschlaf erwacht war und der Frühling begonnen hatte.
Nachdem Adrian den vergangenen Sommer ein Praktikum im deutschen Konsulat in Warschau absolviert hatte, hoffte er, dort auch eine feste Anstellung zu bekommen. Ein rotes Diplom, die Beherrschung von drei Fremdsprachen – abgesehen von Ukrainisch, das er von klein auf sprach – und gute Empfehlungen aus dem Praktikum trugen Früchte und Adrian erhielt eine Stelle als Attaché im selben Konsulat. Natürlich war ihm klar, dass der Name Oberlan im Auswahlverfahren nicht unbemerkt geblieben war. Er dachte, dass es nach all den Jahren der Demütigung nun an der Zeit sei, auch eine gewisse Kompensation zu erhalten.
Sein Onkel war nicht gerade begeistert davon, dass sein Neffe einen anderen Weg eingeschlagen hatte als erwartet, stellte ihm jedoch keine Hindernisse in den Weg. Beim Weihnachtsessen deutete er allerdings an, dass Adrian unter diesen Umständen nicht auf die Bauunternehmen der Familie hoffen könne.
Er wird wohl doch sein Testament umschreiben, dachte der junge Mann düster, doch er blieb den ganzen Abend über charmant und zuvorkommend. Kasper strahlte vor Glück, als er erkannte, dass Leszek sich an die Entscheidung seiner verstorbenen Frau hielt und redete ununterbrochen, während er dem Onkel in allem zustimmte.
Es war für den Onkel ein Leichtes gewesen, den Willen seines Vaters zu ändern – und damit eine jahrhundertealte Familientradition zu brechen.
Selbst aus der Hölle heraus will mir diese Tante eins auswischen, dachte Adrian und blinzelte wütend. Dumme Gans. Aber gut, das werde ich nicht einfach so hinnehmen.
„Tja, das Leben ist gelungen“, sagte der Brünette und streckte zum Abschied die Hand aus. Nach zwanzig Jahren hatte Kasper sich ordentlich verändert – sein Gesicht war aufgedunsen, und unter dem Hemd zeichnete sich ein rundlicher Bauch ab.
In zehn Jahren wirst du aussehen wie ein Marshmallow-Geist, aber ganz sicher nicht wie der freundliche Casper aus dem alten Zeichentrickfilm, dachte Adrian spöttisch.
Mit einem kalten Blick musterte er denjenigen, der sich nicht nur einen festen Platz im Herzen seines Onkels, sondern bald auch in dessen Testament gesichert hatte.
„Ja, gelungen“, sagte er mit gezwungenem Lächeln und drückte Kaspers pummelige Hand kräftig.
Ein Stöhnen entwich dem jungen Mann, und er zog die Hand sofort zurück.
Das wird noch nicht das Schmerzhafteste sein, dachte Adrian, als er zu seinem Wagen ging. Egal wie sehr du dich anstrengst, Fettsack, du wirst es nicht schaffen. Die Taktik des Abwartens hat nicht funktioniert, also ist es Zeit für eine weniger sanfte Methode.
Er musste nur Tante Mayas Neffen loswerden – nicht jedoch die Firmen ruinieren, die nur ihm gehören sollten. Deshalb verwarf Adrian jeden Gedanken an einen plötzlichen Besuch durch das Finanzamt. Obwohl sein Onkel das Geschäft ehrlich führte, gab es dennoch einige „Unregelmäßigkeiten“ in den Bilanzen der Unternehmen.
Er musste etwas finden, das direkt mit Kasper zu tun hatte. Für jeden lässt sich ein Skandal finden, dachte Adrian entschlossen. Niemand hatte das Recht, sich zu nehmen, was ihm gehörte.
Die Firma seines Vaters und die Hälfte der Anteile des Unternehmens, das vom Großvater geerbt wurde, konnten ihm eine gute Zukunft sichern – und die Kontakte in der Diplomatie seine gesellschaftliche Position festigen. Doch selbst unter diesen Voraussetzungen hatte Adrian nicht vor, ein großes Stück vom Erbe des Onkels kampflos aufzugeben.
Nicht ohne die Hilfe eines Privatdetektivs, der Adrian unter dem Namen Swjatoslaw Bogdanowski kannte, wurde Kaspers Geheimnis aufgedeckt. Das Skelett im Schrank des dicken Mannes war gewaltig und abstoßend. Was Adrian herausgefunden hatte, hätte selbst den abgebrühtesten Partygänger mit Vorliebe für Alkohol und One-Night-Stands schockiert. Der junge stellvertretende Direktor eines angesehenen Unternehmens, ein guter Freund und ein netter Verlobter – Kasper Krzyżanowski besuchte von Zeit zu Zeit ein Etablissement, das nur Eingeweihten bekannt war.
Was fehlt dir eigentlich, du kleiner Eber?, schnaubte Adrian. Suchst du den Nervenkitzel? Den wirst du bekommen, darauf kannst du dich verlassen.
Für eine anständige Summe Geldes beauftragte er den Detektiv, Fotos von dem zu machen, was sich in den Räumen einer teuren Bar am Rande der Hauptstadt abspielte. Der Ermittler musste dafür sogar Mitglied in einem exklusiven Club werden. Adrian konnte sich diesen Dienst leisten – immerhin war er nicht erst seit gestern Attaché. Und außerdem sollten ihm laut Testament nach dem dreißigsten Lebensjahr sowohl die Firma seines Vaters als auch die Anteile vom Großvater zufallen.
Mit den Beweisen für Kaspers strafbares Verhalten in der Hand hatte Adrian nun die Möglichkeit, den Erbschleicher endgültig auszuschalten.
Doch er hatte es nicht eilig, die Fotos dem Gericht zu übergeben. Ein Richter würde schockiert sein, wenn er sähe, wie ein angesehener Mann in der Stadt kleine Mädchen im Alter von kaum fünfzehn Jahren umarmt. Vielleicht würde er nicht mehr auf die gesellschaftliche Stellung des Angeklagten achten – und es könnte einer der aufsehenerregendsten Prozesse des Jahrzehnts werden.
„Ja, Geld und Macht verderben – nicht wahr, Kasper?“, murmelte Adrian und betrachtete das Foto, auf dem ein bunt geschminktes Schulmädchen schüchtern lächelte und sich als Unnahbare zu inszenieren versuchte. Hinter der dicken Schicht Make-up versteckte sich ein minderjähriges Kind, das glaubte, Geld sei auf einfache Weise zu bekommen. Erst Jahre später würde sie sich eingestehen, dass der „nette Herr“ gar nicht so freundlich war – und dass sie ihre Abscheu hinter einer Maske der Gleichgültigkeit versteckt hatte.
Adrians Ziel war es nicht, den zwielichtigen Ort auffliegen zu lassen, sondern Kasper vom Erbe fernzuhalten. Deshalb begann er, dem Brünette anonyme Nachrichten zu schicken. Darin machte er deutlich, dass er über dessen geheimes Doppelleben Bescheid wusste – und drohte, alles öffentlich zu machen.
Kasper reagierte nicht sofort auf die Drohungen, in der Hoffnung, der Erpresser würde von selbst aufhören.
Bei einem weiteren Besuch im Haus seines Onkels bemerkte Adrian den flackernden Blick von Tante Mayas Neffen, als das Gespräch auf „Vergnügungen“ kam.
Du wirst mir noch ganz anders singen, Fettsack, durchzuckte es Adrian bissig. Der Onkel hält dich für einen braven, gefügigen Jungen und sieht mich als schwarzen Schaf der Familie – aber ich weiß genau, wer hier Dreck am Stecken hat.
Von seinem Fund erzählte Adrian nur Richard.
„Wir eliminieren die Konkurrenz“, pfiff sein Freund und drehte das Foto in den Händen. Ein rothaariges Mädchen umarmte Kasper am Hals, während sie auf seinem Schoß saß. „Dieser Idiot ist wirklich das Letzte.“ Er betrachtete das Schulmädchen genau. „Sie ist im Alter meiner Schwester. Den könnte man sofort einsperren. Warum zögerst du, Adrian?“
Adrian riss ihm das Foto aus der Hand.
„So einfach ist das nicht“, erklärte er. „Man muss das Tier langsam zur Strecke bringen, bis es von selbst zusammenbricht.“ Er versteckte den unwiderlegbaren Beweis für Kaspers abscheuliche Tat zwischen den Seiten eines Gedichtbandes von Adam Mickiewicz.
Richard schüttelte den Kopf.
„Du willst Kasper von der Bürde des Erbes befreien, aber zögerst.“
„Und was schlägst du vor?!“, fuhr Adrian ihn an, die Stimme lauter werdend. „Wenn der Mistkerl merkt, woher der Wind weht, dann gräbt er auch bei mir was aus! In dieser Sache ist Geduld entscheidend.“
„Aha“, grummelte Richard unzufrieden, „und währenddessen steckt er sich dein ganzes Geld ein.“ Er musterte Adrian neugierig. „Gibt es denn bei dir was, woran man sich aufhängen könnte?“
Adrian verzog das Gesicht.
„Es gibt immer etwas, das wir nicht so machen, wie es von uns erwartet wird.“
„Na gut“, gab Richard nach und stimmte Adrians Argument zu, die Dinge nicht zu überstürzen. „Was hast du als Nächstes vor?“
„Wie ich schon sagte – ihn weiter in den Wahnsinn treiben…“
„Und?“
„Was heißt hier und?“
Richard konnte sich nicht beherrschen und stampfte wütend mit dem Fuß auf den Parkettboden.
„Ich kann es einfach nicht verstehen… Es geht mir nicht in den Kopf… Und was, wenn das Kataszyna gewesen wäre?“
Der Junge ballte die Fäuste und fluchte. Wütende Funken blitzten in Richards Augen auf, seine Wangen färbten sich rot.
„Tut mir leid, ich kann das nicht“, sagte er, schnappte sich seine Jacke und stapfte mit großen Schritten zur Tür hinaus.
„Wohin gehst du?“ fragte Adrian, völlig überrumpelt vom Verhalten seines Freundes.
„Wir warten nicht länger“, sagte Richard, während er an der Schwelle stehen blieb und sich noch einmal umdrehte. „Wir spielen jetzt Katz und Maus. Zeit, die Falle zuschnappen zu lassen. Kommst du mit?“
Adrian räusperte sich, um sich einen Moment zu verschaffen. Ihm war klar, dass kein Zureden Richard von seinem Plan abbringen würde. Dann war es besser, ihn zu begleiten – falls es zu weit ging.
„Aber nur spielen wir“, warnte Adrian, während er seine Jacke von der Garderobe nahm.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Lippen seines Freundes.
„Dann auf zu den Wagen, Bruder.“
–
Adrian bog mit dem Nissan in Richtung Żoliborz ab, als das Minifon klingelte.
„Wo bist du, Kumpel?“ Richards fröhliche Stimme tönte durch die Lautsprecher im Auto.
„In Żoliborz. Und du?“
„Ich fahre direkt hinter ihm her. Jetzt kriegen wir dich, du Mistkerl!“
„Sei nicht dumm, Richard, die Straßen sind glatt.“
„Aber wir spielen doch! Ach, willst du etwa abhauen, du Schwein? Das wird nichts!“
Die Straße war nach dem Regen nass und rutschig – gefährlich für ein Rennen. Zwar waren abends weniger Menschen unterwegs, aber es würde reichen, damit Richard einen Fußgänger erwischen oder einen Unfall bauen konnte.
„Wo bist du, Richard?“ wiederholte Adrian seine Frage.
„Er fährt gerade auf Mokotów raus, der Dreckskerl! Da kriegen wir dich! Gleich ist’s aus, du Bastard!“
„Ich komme“, sagte Adrian und schaltete das Mikrofon ab.
In der Ferne erschien ein Schild, das anzeigte, dass der «Nissan» in eines der wohlhabenden Viertel der Hauptstadt einfuhr. Adrian nahm das Tempo raus, um nicht die Aufmerksamkeit der Verkehrspolizei auf sich zu ziehen. Das Navi zeigte an, dass Richards Auto nur ein paar Blocks weiter hinter einer Kurve angehalten hatte.
Dann klingelte das Minifon erneut. Wieder war es Richard.
Was ist los, Freund?, dachte Adrian und grinste. Gehen wir doch lieber in die Bar im Zentrum, trinken ein Bierchen, und dann bringt uns das Taxi heim.
„Ja?“ antwortete er auf den Anruf.
„Fahr nicht her, Adrian“, sagte Richards Stimme düster ins Minifon.
„Was ist passiert?“ Adrians Herz schlug laut in seinem Kopf, eine gewaltige Welle düsterer Vorahnung erfasste ihn.
„Ich wollte ihn nur schneiden… aber er… er wollte ausweichen… und dann… der LKW, und…“
„Was ist mit Kasper?!“, schrie Adrian.
„Zermalmt, verstehst du. Das Auto… alles…“
Hinter sich hörte Adrian das Heulen von Sirenen. Er lenkte den Nissan an den Straßenrand. Ein Krankenwagen raste vorbei, dicht gefolgt von einem Feuerwehrauto. Am anderen Ende des Minifons war nur noch Richards Atem zu hören – schwer, abgehackt.
„Richard!“ Adrian stellte den Motor ab und starrte auf die blau-rot blitzenden Lichter in der Dunkelheit. „Richard!“
Doch sein Freund schwieg. Sekunden dehnten sich zu Stunden, eine Minute wurde zur Ewigkeit. Adrians Mund war trocken, er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Richard!“, schrie er erneut, als wolle er nicht nur seinen Freund, sondern auch sich selbst aus dem Schock reißen.
„Ja, ich bin da… Ich… ich schaue nur…“
„Also, Kasper…?“
„Die Feuerwehr… sie mussten das Auto aufschneiden und…“
„Was?“ Adrians Stimme überschlug sich. Er konnte die Antwort kaum abwarten. Richards keuchender Atem vermischte sich mit den fernen Stimmen der Rettungskräfte.
„Was?!“
„Er wird nie wieder einem Mädchen etwas antun“, flüsterte Richard. „Du bist jetzt der einzige Erbe, Adrian.“
Adrian beendete das Gespräch und lehnte sich im Sitz zurück. Er schloss die Augen und hielt den Atem an, zwang sich, den Puls zu beruhigen. Er gab sich selbst gegenüber zu, dass Kaspers Tod ihm eine lang ersehnte Erleichterung verschafft hatte. Jetzt musste er sich keinen Plan mehr ausdenken, um den Brünetten zum Rückzug zu zwingen, ohne sich selbst bloßzustellen.
Es kümmerte ihn nicht, dass die Welt einen Perversen weniger zählte. Wenn ihm Kasper schon zu Lebzeiten egal war, dann würde der Tod von Tante Mayas Neffen gewiss keine Träne hervorrufen.
Zuerst müssen die Fotos verschwinden, dachte Adrian. Und die Minifons mit den Nummern, über die er mit dem Detektiv kommuniziert und Kasper bedroht hatte. Alle Spuren mussten beseitigt werden – auch das Wissen über den Ort, den er nicht der Polizei gemeldet hatte.
Er öffnete die Augen.
Seinem Onkel würde er von Kaspers Tod nichts sagen. Er würde ein überrascht-erschüttertes Gesicht machen, wenn er Leszek begegnete, dessen Haar von noch mehr grauen Strähnen durchzogen sein würde. Er würde Beileidsbekundungen wildfremder Menschen entgegennehmen müssen, eine Beerdigung organisieren. Aber trauern? Ganz sicher nicht.
Kein großer Verlust, dachte er und seine linke Mundwinkel hob sich leicht zu einem kalten Lächeln.
Adrian startete den Motor, wendete den Nissan und raste in Richtung Bar, um dort auf Richard zu warten. Sein Freund hatte unklug gehandelt – und sie würden ein Alibi brauchen. Selbst wenn die Kameras das Kennzeichen von Richards Auto aufgenommen hatten, wusste Adrian genau, wie er den Besitzer der Bar dazu bringen konnte, mit Schaum vor dem Mund zu bezeugen, dass er die beiden Freunde den ganzen Abend dort gesehen hatte.
„Werde den Land Rover sofort los“, warnte Adrian, als er Richard anrief. „Und komm mit einem anderen Wagen zur Bar.“ Dann warf er das Minifon auf den Beifahrersitz, setzte den Blinker und bog mit dem Nissan auf die Jerusalemsallee ein.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.