
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 7.1
In Erwartung von Leo setzte sich Lucia an einen Tisch. Sie senkte den Kopf. Ihr Blick fiel auf ihre Hände. Die Kratzer waren verheilt und die Haut fühlte sich wieder glatt an. Das Auftragen der Creme hatte zu einem angenehmen Gefühl von Seidigkeit beigetragen, als ihre Fingerkuppen sanft über die Handfläche strichen. Lucia biss sich auf die Unterlippe.
Ich sollte mir die Nägel machen lassen, dachte sie. Die ungleichmäßige Länge der Nägel, die Nagelhaut und die kleinen Risse ließen ihre Hände ungepflegt aussehen. Das letzte Mal war Lucia vor dem Abendessen im Salon gewesen – dem Abend, den sie mit Adrian verbracht hatte. Doch der war vor einem Monat nach Europa geflogen. Lucias Maniküre hielt nie länger als eine Woche – Schuld daran waren häufige Kämpfe, das Training im Wald oder im Fitnessstudio.
Dann rufe ich heute Abend Zoe an und mache fürs Wochenende einen Termin aus, beschloss sie.
Sie ging zum Salon „Nails and Hair’s of the South“ und hatte sich Zoe als ihre Nagelstylistin ausgesucht. Das Mädchen war nicht nur eine gute Fachkraft, sondern stellte während der Besuche auch keine überflüssigen Fragen – ein entscheidender Punkt für Lucia bei der Wahl ihres Profis. Würde Zoe genauso pausenlos plappern wie ihre Kolleginnen, während andere Frauen es genossen, sich beim Smalltalk die Zeit zu vertreiben – Lucia hätte den Salon sofort verlassen, sobald ihr die Chefin diese Mitarbeiterin vorgestellt hätte, die gerade Zeit für eine neue Kundin hatte.
Der Besuch im Nagelstudio war jedoch nicht Lucias einzige Ausgabe. Zwar bezahlte Ageor ihre Wohnung und sämtliche Rechnungen, doch alle anderen Ausgaben musste sie selbst tragen. Im Gegensatz zu Italien, wo Lucia durch ihr eigenes Geschäft ein ordentliches Einkommen erzielte, war der Lohn für ihren Job als „Mädchen für alles“ beim Psychologen geradezu lächerlich. Und so sehr sie sich auch bemühte – sie musste sich damit abfinden.
Hoffentlich dauert diese Wohltätigkeit nicht mehr lange, dachte sie ärgerlich, als das erste Gehalt auf ihrem Konto einging.
Denn so sehr Angel sich auch bemühte – der Weg würde nicht ewig bestehen.
Das Geräusch von Leos sich nähernden Schritten ließ Lucia wieder auf ihre Umgebung achten. Auch wenn der junge Mann sich fast lautlos bewegte – im Gegensatz zum Getrampel der anderen Gäste im Raum – hatte sie sein Kommen dennoch wahrgenommen.
Leo trug zwei dampfende Kaffeetassen in den Händen. Sie frühstückten oft in dem Café in der Nähe ihres Hauses, das ausgezeichneten italienischen Kaffee servierte. Lucia war beim Essen nicht wählerisch und hatte sich schnell an scharfe mexikanische Burritos gewöhnt – aber bei Kaffee blieb sie ihrer Wahl stets treu. Er erinnerte sie an das erste Land, in dem sie gelebt hatte.
Sahne und Zucker verliehen dem Getränk eine süßliche Note und Lucia trank den Kaffee in kleinen Schlucken, um den vertrauten Duft möglichst lange zu genießen – einen Duft, der sie weit über den Ozean hinwegtrug, in die laute und wunderschöne Ewige Stadt.
Am Morgen war Frisco in dichten Nebel gehüllt, der das Land vor der grellen Sonne verbarg. Das mediterrane Klima mit feuchten Wintern und warmen, trockenen Sommern war genau nach Lucias Geschmack. Sie mochte keine Kälte, aber auch die drückende Sommerhitze wie in Neapel konnte sie nicht ausstehen. Natürlich – hätte der Schöpfer entschieden, dass ihre Mission in Alaska oder Ägypten stattfinden sollte, hätte sie sich anpassen müssen.
Gott sei Dank hat Er mir diesen bösen Streich erspart, schoss es ihr durch den Kopf.
Lucia nahm einen weiteren Schluck. Leo lächelte, beugte sich über den Tisch und strich mit dem Zeigefinger Sahne von ihren Lippen.
„Meine süße Kleine“, flüsterte er.
Lucias Lippen umspielte ein Lächeln.
„Was denn sonst?“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.
Leo beugte sich zu ihren Lippen und küsste sie.
„Mmm“, flüsterte er. „Von deinen Lippen möchte man sich gar nicht mehr lösen.“
Er ließ sich auf das Ledersofa sinken.
Lucia stellte die leere Tasse zur Seite und verschränkte die Beine unter dem Tisch, während sie darauf wartete, dass Leo seinen Kaffee austrank.
„Hat Elijah etwas über den nächsten Auftrag gesagt?“, fragte sie.
Leo nahm die Tasse in die Hand. „Vielleicht sind wir diese Woche auf uns allein gestellt“, mutmaßte er. „Und können endlich mal durch die Stadt schlendern. Bisher hat es ja nie geklappt.“ Er nahm einen Schluck. „Auch wenn heute Nebel ist – es ist Sommer. Wäre schade, so eine Gelegenheit zu verpassen.“
„Was hast du denn gegen unsere nächtlichen Ausflüge in die verschiedenen Viertel?“
„Aber die sind doch nachts“, entgegnete er. „Und dabei denkt man nicht an Spaziergänge, sondern an etwas anderes.“
Er sah Lucia direkt in die Augen.
„Zumal die Dämonen jetzt stärker und… boshafter geworden sind – wenn man das überhaupt über abscheuliche Kreaturen sagen kann, deren Wesen das reine Böse ist“, fügte er fast unhörbar für menschliche Ohren hinzu.
Lucia schwieg. Sie wusste, dass Leo mit der Bemerkung über die Stärke der Dämonen auf jenen Vorfall anspielte, bei dem sie sich beinahe selbst hätte die Wunde nähen müssen – wenn Violetta nicht rechtzeitig aufgetaucht wäre. Lucia murmelte missmutig etwas Unverständliches vor sich hin.
Danke an dieselbe Ärztin, dachte sie.
Hätte die Frau sich nicht in Leos Gegenwart vom Zustand Lucias überzeugt, hätte er von dem Vorfall gar nichts erfahren. Zwar sprach er es jetzt nicht direkt an, doch sein Ton verriet, dass es ihn innerlich aufgewühlt hatte.
Natürlich wussten die Wächter, welches Risiko sie eingingen, wenn sie das Böse jagten und vernichteten – aber Leo wünschte sich, dass ihre Beziehung länger anhielt und nicht gleich im ersten Jahrzehnt ein jähes Ende fand.
„Aber am Ende ist alles gut ausgegangen“, sagte Lucia ernst, als sie bemerkte, dass Leo regungslos dasaß und auf ihre Worte wartete.
Leo zog die Augenbrauen zusammen.
„Diesmal“, sagte er kühl.
„Wir sollten im Training mehr Zeit auf Kampftaktiken verwenden“, fuhr Lucia fort, ohne auf den Tonfall des Jungen einzugehen.
„Natürlich“, nickte Leo. „Aber ich denke, nach diesem Vorfall…“ – seine Stimme stockte – „…sollten wir die Überwachung gemeinsam übernehmen.“
Lucia schnaubte verärgert. „Willst du dich jetzt als Babysitter eintragen? Vergiss es.“ Sie schüttelte den Kopf. „Einer von uns muss im Lager bleiben oder wenigstens mal in seinem eigenen Bett schlafen. Ohne Erholung bist du kein Wächter, sondern ein Wrack. Dann bringt dich schon ein gewöhnlicher Mensch um, geschweige denn…“
„Lucia!“ – Leos strenger Blick ließ sie innehalten.
„Ich hab’s gesagt, und damit basta, Leo!“, entgegnete Lucia lautstark – und verstummte augenblicklich. Falls der scharfe Ausruf Leo nicht erschreckte, so warf doch das übrige Café-Publikum ihr misstrauische Blicke zu.
Lucia lächelte entschuldigend.
„Lass uns später zu Hause darüber sprechen“, fuhr sie dann leise fort. „Oder besser: Wir machen es so, wie ich gesagt habe.“
Leo strich sich eine hellblonde Haarsträhne aus der Stirn, die ein starker Luftstoß aus Lucias Mund aus der Frisur gerissen hatte. „Was das Training betrifft…“
Der Junge wollte gerade widersprechen, als er sich plötzlich zur Tür umdrehte. Lucia richtete sich auf und erstarrte in angespannter Haltung. Beide begriffen sofort, dass der sich nähernde Fremde keine Bedrohung darstellte – doch wer er war, galt es noch herauszufinden.
Es gab genug Engel in San Francisco, doch Lucia war nicht darauf erpicht, mit ihnen Freundschaften zu schließen. Sie zog es vor, lediglich auf Bekanntschaftsbasis zu bleiben – ein paar ausgetauschte Worte bei zufälligen Begegnungen reichten ihr vollkommen. Der Umgang mit den Wächtern reichte ihr völlig: ihre aufgeblasene Selbstwichtigkeit und ihr ständiger Drang, das Sagen zu haben, gingen ihr auf die Nerven. Drei Engel kamen an Lucia in keiner Weise heran, doch die Wächter benahmen sich ihr gegenüber, als seien sie es – und nicht Lucia –, die von einem unstillbaren Verlangen nach Rache angetrieben wurden.
In der Tür erschien eine bekannte Gestalt und Lucia legte sich die gewohnte Maske der Gleichgültigkeit auf. Obwohl Elijah nur zwei Blocks von ihrem Haus entfernt wohnte, war sie noch nie bei ihm zu Besuch gewesen. Der Psychologe hatte nie eingeladen, und sie hatte sich nie aufgedrängt. Die Engel trafen sich im Lager, besprachen Pläne in seinem Büro – und gingen dann wieder ihrer Wege.
Und dann sagen sie, ich sei ein Einzelgänger, schnaubte Lucia innerlich.
Der strenge Anzug ließ den Mann unter den Cafébesuchern sofort herausstechen. South Beach war schließlich nicht das Finanzzentrum der Stadt, daher waren Anzugträger hier eine Seltenheit.
Elijah nickte zur Begrüßung und ging zur Theke. Eine Minute später kehrte er zurück – mit einem Becher in der Hand. Er kam gemächlich auf den Tisch zu.
„Guten Morgen!“, sagte der Psychologe als Erster und schüttelte Leo die Hand.
„Morgen“, erwiderte Lucia mit einem knappen Lächeln.
In einem halben Jahr als Nachbarn war dieser Morgen das erste Mal, dass sie Elijah zufällig auf der Straße begegneten. Die Gründe dafür konnten vielfältig sein: Elijahs nächtliche Sitzungen im Lager, Lucias und Leos abendliche Observationen, ihre Treffen ausschließlich in formellem Rahmen. Lucia war es egal, ob ihre Liste der Begegnungen außerhalb des Büros länger wurde oder nicht. Es schien, als sei auch dem Heiler wenig daran gelegen, dass es keine gemeinsamen Abendessen gab.
Obwohl… wer weiß, dachte Lucia. Vielleicht will er sich einfach nicht in unser Privatleben einmischen. Ich kann ja nicht seine Gedanken lesen.
„Hab gehört, hier soll es guten Kaffee geben, also dachte ich, ich schau mal vorbei und hol mir einen für unterwegs“, sagte der Psychologe und nickte auf den Becher in seiner Hand.
„Nicht gut – hervorragend“, korrigierte ihn Lucia.
Ein Lächeln huschte über die Lippen des Mannes.
„Ich zweifle nicht an deinem Geschmack, Lucia“, sagte er. „Wer, wenn nicht du, weiß einen ausgezeichneten italienischen Kaffee zu schätzen.“
Leo grinste.
„Natürlich – über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten“, mischte er sich ein. „Manche bevorzugen brasilianischen oder türkischen…“
Lucias Augen funkelten.
„Dann trink doch deinen türkischen“, knurrte sie ihn verärgert an.
Sie sah zu Elijah auf. Der vor ihr stehende Mann wirkte noch größer, während sie auf dem Sofa saß.
„Gehst du zur Arbeit?“, fragte Lucia, um das Thema zu wechseln.
„Ja“, nickte der Brünette.
„Dann kommen wir mit“, sagte sie und wollte sich erheben.
Doch der Heiler gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie sitzen bleiben sollte.
„Ich brauche euch dort nicht“, erklärte der Mann.
„Dann sind wir also frei, Chef?“ – Ein glückliches Lächeln breitete sich auf Leos Gesicht aus. „Wir haben gerade über…“
„Nein“, unterbrach Elijah ihn mit einem einzigen Wort und zerstörte damit Leos Hoffnung auf einen Spaziergang durch die Stadt. „Ihr werdet an einem anderen Ort gebraucht.“
Lucia leckte sich über die Lippen und wartete gespannt auf neue Anweisungen.
Wenn es um die Tötung eines Dämons ging, würde sie mit Freude losstürmen. Wenn nicht – würde es dem Heiler völlig egal sein, ob seine Untergebenen enttäuscht oder unwillig waren. Ein Auftrag war ein Auftrag und ihn zu verweigern aus Frust oder Lustlosigkeit bedeutete, sich Ageors unangenehme Aufmerksamkeit einzuhandeln.
„Wie ich viel Gutes über den Kaffee gehört habe“, fuhr der Psychologe fort, „so habe ich auch von einigen Ereignissen in dieser Stadt gehört.“
„Dämonen?“, flüsterte Lucia.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen, das Blut stieg ihr ins Gesicht und ihre Finger ballten sich unbewusst zu Fäusten.
„Nein“, dieses Mal musste Elijah auch Lucia enttäuschen. „Schlimmer.“
„Was kann schlimmer sein als das Unreine?“, fragte Leo erstaunt und sah Lucia an.
Auch sie brannte darauf, die Antwort zu erfahren und die Sekunden, die zwischen Leos Frage und den folgenden Worten des Heilers vergingen, kamen ihr wie eine Ewigkeit vor.
Elijah sah sich kurz um.
„Ich erzähle es euch im Auto weiter“, schlug er vor, um das Gespräch an einem ruhigeren Ort fortzuführen.
Lucia atmete tief durch.
Willst du testen, ob ich geduldig genug bin, um auf das zu warten, was mich interessiert? dachte sie. Na schön, dann los.
„Gut“, sagte sie und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
Sie traten hinaus auf die Straße, wo bereits Motoren aufheulten, Passanten laut miteinander redeten und Musik aus zahllosen Cafés erklang, die die Menschen dazu einluden, sich vor Beginn des Arbeitstags zu stärken.
Elijahs dunkelvioletter Toyota Aqua war einen Block vom Café entfernt geparkt. Lucia eilte ihm hinterher. Sie ließ Leo zurück und ging mit dem Heiler gleichauf.
Seine ausdrucksstarken, dunkelbraunen Augen musterten sie neugierig.
„Willst du mich etwas fragen, Lucia?“, erkundigte sich Elijah und nahm einen Schluck aus seinem Becher. „Oh, tatsächlich ausgezeichnet!“ – Er bestätigte Lucias Meinung über den Kaffee.
Ein spöttisches Lächeln huschte über Lucias Lippen. Hab ich doch gesagt, dachte sie.
Doch im Moment war der Kaffee nicht das, was sie beschäftigte.
„Nicht fragen“, verbesserte sie ihn. „Ich möchte über Veinat sprechen. Und über den Pfad zur Hölle. Über alles, was geschieht.“
Der Mann ging zügig und Lucia passte sich seinem Tempo an, kontrollierte ihre Atmung und sprach klar und deutlich – etwas, das ein gewöhnlicher Mensch so im Gehen kaum geschafft hätte.
„Du weißt doch…“
„Nein“, unterbrach ihn Lucia und schüttelte den Kopf.
„Zum Portal darf ich nicht und damit hat es sich.
Aber das, was ich über sie gehört habe… Über Veynate, über die Regierung. Adrian hat mir da gereicht – bis zum Hals.
Meine Mission ist es, Dämonen zu töten, nicht mich mit denen abzugeben, die mit dem Leben ihrer Mitmenschen spielen.“
„Und?“, fragte Elijah. Seine Frage bedeutete: Was genau willst du mir damit sagen?
„Es gehört nicht zu meinen Prinzipien, mich in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen“, antwortete Lucia. „Und ich mische mich auch nicht ein.“
Der Heiler erreichte sein Auto und blieb stehen.
„Du hast dich längst eingemischt“, sagte er ruhig und öffnete die Vordertür.
„Als ich ins Lager kam?“, fragte Lucia und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Elijah schmunzelte, schloss die Tür und beugte sich zum offenen Fenster.
„Als du auf die Erde kamst“, antwortete er, zeigte Leo den Rücksitz und ging um den Toyota herum, um sich ans Steuer zu setzen.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.