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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 7.2)

Lucia und Leo betreten das ungastliche Haus der drei Wächter. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Lucia und Leo betreten das ungastliche Haus der drei Wächter. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 7.2

Lucia stellte den Motor der Ducati ab und nahm die Motorradbrille ab. In der vergangenen Woche war das Wetter in Frisco sonnig, ohne eine einzige Wolke am klaren Himmel. Und wäre da nicht die leichte Brise gewesen, die sowohl von der Bucht als auch vom Ozean her wehte, hätte man sich über die Hitze beschweren können.

Das Mädchen atmete die von Meersalz durchzogene Luft ein, in der winzige Sandkörner schwebten, die in die weiter vom Zentrum entfernten Stadtviertel geweht wurden. Zum gewohnten Geruch gesellte sich der Gestank von Alter und Vernachlässigung. Riesige Risse im Asphalt, verlassene Vorgärten mit vertrockneten Rosenbüschen vom letzten Jahr und zerfallene steinerne Umzäunungen.

Heute trug Lucia Schwarz. Obwohl keine Überwachung zu erwarten war. Und sie hatte mehr Waffen bei sich, als das Treffen erforderte – je ein Dolch in den Hosentaschen ihrer Jeans und je einer in den Öffnungen an der Rückseite ihrer Sneakers. Man weiß ja nie, was den Leuten, denen sie lieber aus dem Weg gegangen wäre, so durch den Kopf geht – aber ein Befehl ist ein Befehl.

Leo stellte seine Kawasaki neben Lucias Motorrad ab, das neben zwei dreißig Jahre alten Autos geparkt war, und eilte auf das zweistöckige Gebäude zu. Das Mädchen wartete bereits auf der Veranda auf ihn.

Das Ziegelgebäude, dessen Fassade dringend renoviert werden musste, passte perfekt in die Reihe genauso trostloser Häuser. Von Staub beschmutzte Fenster mit abgeplatztem Lack an den Rahmen, flatternde Wäsche auf den Balkonen, die vom Wind hin und her geweht wurde, schwarze, von Dreck überzogene Dachziegel, alte Regenrinnen, die beim nächsten Sturm in Stücke zerfallen würden.

Lucia stieß die Eisentür auf und trat ins Treppenhaus. Sie verzog das Gesicht wegen des schweren Geruchs nach Feuchtigkeit und dem Verwesungsgestank einer toten Ratte im Keller. Durch kleine Fenster unter der Decke fiel Sonnenlicht herein. Die ehemals weißen Wände hatten sich in gelb-graue Flächen verwandelt, mit dunklem Schimmelbefall in den Ecken.

„Wir müssen ins Erdgeschoss“, sagte Leo. Ihm war es egal, wo er hinmusste, um Elijahs Auftrag auszuführen, aber dieses extrem arme Viertel war wirklich erbärmlich. Leo fasste das Geländer an, zog die Hand jedoch sofort wieder zurück und betrachtete seine staubverschmierte Handfläche.
„Das ist nicht nur das abgelegenste Viertel von San Francisco“, pfiff er durch die Zähne, „sondern auch das schmutzigste. Und ausgerechnet nach Bayview-Hunters Point hat es sie verschlagen.“

Lucia stieg die alten Steintreppen hinauf, wich festgetretenen Dreckklumpen aus, die von den Hausbewohnern großzügig hinterlassen worden waren, und blieb auf dem Treppenabsatz stehen.

„Du kennst doch den Grund, Leo“, sagte sie und drehte sich um. „Und wir müssen sicherstellen, ob das wirklich so ist.“ Das Mädchen hob den Kopf und versuchte, in den schmutzig-grauen Schlieren an der Decke ein Bild zu erkennen. Es sah entweder aus wie ein riesiger Kopf eines schlappohrigen Hundes ohne Augen, oder wie ein löchriger Stiefel mit einem Klumpen Dreck, oder wie eine lange Nase mit einer großen Warze.
„Obwohl ohnehin klar ist, dass sich hier keine Mieter darum reißen.“

Leo grinste.
„Da täuschst du dich, Süße“, sagte er und war im Nu die Treppe hochgelaufen, stand nun neben dem Mädchen. „Du wirst es nicht glauben, aber mittellose Einwanderer lassen sich genau in solchen Häusern nieder.“

„Woher weißt du das?“ Lucia hörte auf, die Decke zu betrachten, und richtete den Blick auf die Wohnungstüren – hinter einer von ihnen wurden sie bereits erwartet.

„Es gibt da so ein Wunder namens Internet“, sagte der Junge, küsste sie auf die Wange und stupste sie mit der Fingerspitze sanft auf die Nasenspitze.

Lucia schmunzelte ironisch.
„Na schön, der Umgang mit mir zeigt Wirkung.“

Leo trat an die Treppe heran und blieb vor einer in grelles Grün gestrichenen Tür stehen, auf der die Zahl Zwei befestigt war. Er ballte die Hand zur Faust, um zu klopfen – doch da wurde die Tür schon weit aufgerissen, und der Treppenabsatz wurde in gelbes Licht getaucht.

„Wie normale Leute herzukommen, funktioniert nicht“, sagte der Junge, warf Lucia einen Blick zu und sah dann zu Patrick, der im Türrahmen stand.

„Wir sind eben nicht normal“, erwiderte die raue Stimme des Mannes, die durch das düstere Treppenhaus hallte. „Kommt rein“, forderte er die Gäste auf.

Lucia war im Handumdrehen bei der Tür und betrat die Wohnung dicht hinter Leo.

„Und warum ist es draußen so menschenleer?“, fragte sie, ganz in der Rolle einer gewöhnlichen Besucherin. „Sind etwa alle ausgestorben?“

Der Flur der Wohnung war schmal und die drei Wächter sorgten für ein beachtliches Gedränge.

„Vergiss nicht, Lucia“, antwortete Patrick, „du befindest dich nicht nur im ärmsten, sondern auch im brutalsten Viertel.“
„Und der Abend naht. Wo eine Bande geht, kommt die nächste. Wenn ein Krimineller verschwindet, fängt oft ein braver Bürger, den dieser gestern noch tyrannisiert hat, an, seine Nachbarn zu schikanieren.“

„Hat das Gesetz 91 hier nie Einzug gehalten?“ Lucia zog überrascht eine Augenbraue hoch.

„Doch“, antwortete Patrick, „und wie du siehst, sogar recht erfolgreich. Die Hälfte der Bewohner von Bayview Hunters ist schon weg. Aber du kennst doch die verderbliche Neigung der Menschen – sich über die eigenen zu erheben.“

Obwohl der Wächter gesprächig war und Lucias Fragen ohne Zögern beantwortete, herrschte in der Wohnung eine gespannte Atmosphäre. Die Spannung ging nicht nur von den Wächtern im Wohnzimmer aus, sondern auch von Patrick selbst – obwohl er sich bemühte, den freundlichen Gastgeber zu mimen. Die Wohnung stand aufgrund der „Säuberung“ leer. Oder war vorübergehend unzugänglich, wenn man Leo und seinen Internetrecherchen glauben durfte.

„Ich weiß“, sagte Lucia und schlug die Tür hinter sich zu, was den kleinen, quadratischen Flur noch enger erscheinen ließ.

Na, wirst du uns endlich ins Zimmer einladen, Patrick, oder bleiben wir hier wie Sardinen in der Dose aneinandergepresst stehen? dachte das Mädchen und musterte den Mann mit strengem Blick.

Patrick presste die Lippen aufeinander und wich zurück. Er überschritt die Schwelle und trat in ein Zimmer, in dem kein Licht brannte.

Und wo ist deine große Klappe hin, Wächter von San Francisco? stellte Lucia die abrupte Verhaltensänderung des Mannes im Vergleich zu ihrer ersten Begegnung fest. Seid ihr jetzt doch nicht mehr die Helden?

„Und warum habt ihr euch ausgerechnet hier niedergelassen?“ fragte Leo, trat nach der Einladung ins Wohnzimmer ein.

„Nicht niedergelassen – wir haben ein Treffen arrangiert“, erklang eine Frauenstimme aus dem Raum. „Komm rein, Lucia“, sagte Erin mit freundlichem Ton, in dem jedoch ein falscher Unterton mitschwang.

Das Wohnzimmer war überraschend hell, mit sauberen Fenstern – erstaunlich für ein so verfallenes Haus – und durchaus gemütlich. Ein weiches Sofa mit zerfetzten Löchern, aus denen weißer Schaumstoff quoll, stand an der Wand.

Mit gespreizten Beinen hatte sich Ken auf dem Sofa niedergelassen. Es gab keine Beleuchtung im Raum, doch das einbrechende Grau des Abends erlaubte Lucia, eine kleine Falte auf seiner Stirn zu erkennen. Als sich ihre Blicke trafen, verzog der Wächter die Lippen zu einem Lächeln, wodurch sich auch um seinen Mund Falten bildeten.

„Freut mich, euch wiederzusehen“, begrüßte Ken die Gäste mit einem Nicken.

Lucia schnaubte, erwiderte jedoch seine Begrüßung mit demselben Nicken. Leo ging zu dem Mann und reichte ihm die Hand.

Zwei weiche Sessel standen im hinteren Teil des Raumes und waren erst sichtbar, wenn man den Raum betrat. In einem davon saß Erin. Die dunklen, kastanienbraunen Locken fielen über das tiefe Dekolleté ihrer roten Bluse. In der Hand hielt sie eine halbvolle Flasche Ale. Neben dem Sessel stand ein kleiner Holztisch mit ungleich langen Beinen, weshalb er schiefstand. Zwei verschlossene Flaschen Ale warteten unter dem Tisch auf ihren Einsatz.

„Wollt ihr was?“ – Erin nickte in Richtung der Flaschen.

„Nein, danke“, lehnte Lucia ab.

„Und du, Hübscher?“ – Erin wandte sich an Leo und in ihren Augen funkelte es belustigt.

Ken deutete mit einer Geste auf den freien Sessel, der – im Gegensatz zum Sofa – keine Löcher im Polster hatte, dessen Rückenlehne jedoch mit blauer Farbe verschmiert war. Dann warf er Erin einen Blick zu – der Wächterin, die sich eine gewisse Frechheit gegenüber den Gästen erlaubt hatte.

Der gute alte Patriarchat hat sich also doch nicht verändert, dachte Lucia und setzte sich an den Rand des Sessels. Mit dir sollte man wohl als Erstes abrechnen. Sie richtete den Rücken durch und sah Ken direkt an.

Der Mann legte die Arme auf die Rückenlehne des Sofas, wodurch kein Platz mehr für jemand anderen blieb.

Leo stellte sich hinter den Sessel, in dem Lucia saß.

Patrick trat an den schiefen Tisch, beugte sich und griff nach einer der Flaschen. Mit den Zähnen riss er den Kronkorken ab und spuckte ihn in hohem Bogen in eine Ecke des Zimmers. Die Metallkappe klirrte über den Boden, drehte sich mehrmals und kam schließlich zur Ruhe.

Erin hob den Kopf. Ken verengte die Augen in gespielter List.

Lucia richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf das Trio, das sich für das Zentrum der Macht in San Francisco hielt. Sie wollte keine noch so kleine Regung verpassen. Denn Kleinigkeiten führten oft auf die richtige Spur: ein Blick, ein Lächeln, ein Detail in der Kleidung, eine Gesprächsgewohnheit – ja sogar das nervöse Zucken eines Beines oder ein ausweichender Blick beim Sprechen konnten verraten, dass der Gesprächspartner log.

„Eure Reise in dieses verlassene Nest war sicher nicht aus bloßer Neugier, oder?“ – Kens Augen funkelten wütend und machten deutlich, wie wenig willkommen die Gäste hier waren.

Lucia schmunzelte sarkastisch.
Wenn man nur wüsste, was in euren Köpfen vorgeht, Leute. Aber leider seid ihr keine Menschen – sonst hätte ich eure Pläne schon beim Öffnen der Tür durchschaut, dachte sie und atmete tief durch. Dann also: improvisieren.

„Warum denn nicht?“ – gab Lucia spitzfindig zurück und behielt die beiden Wächter im Blick. Um Patrick sollte sich Leo kümmern – das hatte sie ihm durch eine kleine Kopfbewegung in Richtung des glatzköpfigen Mannes signalisiert.

Erin verzog verächtlich die Lippen und nahm einen Schluck Ale. Ken schwieg und Patrick trat an das Sofa heran und lehnte sich dagegen. Seine Flasche war schon halb leer.

Der Hals trocken, mein Lieber? Oder hat dich unser Erscheinen so nervös gemacht? dachte Lucia.

„Wie geht’s euch so?“ – Leo versuchte, das angespannte Gespräch in etwas freundlichere Bahnen zu lenken. „Ich hoffe, ihr habt das Ungeziefer in Chinatown in den Griff bekommen?“

Erin zuckte leicht zusammen, fing sich aber schnell und legte sich einen überheblichen Blick zu.
„Was, kommt ihr etwa nicht klar?“ – fragte sie mit süffisantem Lächeln und leckte sich über die leuchtend rot geschminkten Lippen.

Du solltest lieber den Mund halten, Truthenne, dachte Lucia. Solange du nicht redest, wirkst du wenigstens nicht ganz so dumm. Die Mundwinkel des Mädchens zuckten leicht nach oben.

„Bei uns läuft alles bestens“, antwortete Leo und ignorierte Erins bissigen Ton.

„Bei uns auch“, sagte Ken mit rauer Stimme, die bedrohlich durch das Wohnzimmer hallte, in dem die abgeplatzte weiße Farbe der Wände bizarre Löcher und Muster freigelegt hatte. „Wie lange gedenkt ihr zu bleiben, Freunde? Wir haben heute alle Hände voll zu tun.“

„Keine Sorge, wir halten euch nicht lange auf“, erwiderte Lucia kühl und warf, um ihrer Aussage Gewicht zu verleihen, einen Blick auf ihre Armbanduhr. „In einer Stunde haben wir ein weiteres Treffen“, fügte sie hinzu und beobachtete genau, wie die Gastgeber auf diese Information reagierten.

– Fortsetzung folgt –

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Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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