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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 7.3)

Lucia und Leo im Gespräch mit den drei verdächtigen Wächtern. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Lucia und Leo im Gespräch mit den drei verdächtigen Wächtern. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 7.3

„Ihr seid ja wirklich sehr beschäftigt, wie ich sehe“, sagte Ken in demselben schroffen Ton weiter. Er tauschte einen Blick mit Erin. Die Brünet­te stellte ihre leere Flasche neben den Sessel und spannte sich sichtlich an. Aus Patricks Brust entwich ein nervöses Kichern.

„Ja“, antwortete Lucia ungerührt und hielt sich weiter an den zuvor gefassten Plan für den Abend. „Die Vorbereitungen für die Ankunft von Berchard in San Francisco. Obwohl ich denke, dass ihr davon schon wisst.“ Sie winkte beiläufig ab.

Leo nickte zur Bestätigung ihrer Worte. Natürlich hatten sie in Wirklichkeit nicht vor, irgendwo in der Nacht hinzugehen. Die Ankunft des obersten Heilers in der Stadt entsprach zwar der Wahrheit, aber alle organisatorischen Aufgaben lagen auf den Schultern von Elijah. Schließlich war Berchard sein Aranit – und sie selbst nutzten lediglich die Gelegenheit, den Wächtern in Erinnerung zu rufen, dass das allsehende Auge von Ageor alle Engel beobachtet.

Berchard kam aus ganz anderen Gründen nach Frisco – um Elijah zu treffen, der für die psychologische Betreuung der Kinder im Lager verantwortlich war. Nicht etwa, weil ein paar Wächter mit dem Gedanken an Verrat spielten. Aber das werden wir ihnen natürlich nicht sagen, entschied Lucia – so hatten sie es mit Leo besprochen, um die Wahrheit herauszufinden und die Gerüchte zu bestätigen.

Ken schüttelte den Kopf und wischte sich eine hellrötliche Strähne aus der Stirn. Die Sommersprossen auf seinem Gesicht zuckten leicht – ein Vorbote nahender Falten.
„Hältst du uns für Narren, Lucia?“ – Seine Augen füllten sich mit Zorn. „Ich lebe hier schon viel länger und weiß genau, was in jeder dunklen Ecke dieser wundervoll beschäftigten Stadt vor sich geht.“

„Daran zweifle ich nicht“, entgegnete das Mädchen ruhig, obwohl der Engel kurz davor war zu explodieren.

Erin warf einen giftigen Blick unter gesenkten Augenbrauen. Nur Patrick verhielt sich noch halbwegs vernünftig – soweit man das Verhalten eines Mannes wie ihn vernünftig nennen konnte. Er schnappte nicht zurück, stand still an seinem Platz. Als er merkte, dass zwischen Lucia und Ken gleich ein Wortgefecht ausbrechen könnte, schluckte er krampfhaft. Seine Augen begannen nervös umherzuwandern und auf seiner Glatze bildete sich ein feiner Schweißfilm.

„Ken, sie sind doch Gäste. Reiß dich zusammen“, erinnerte Patrick seinen Freund an den Anstand. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Stirn trocken.

Du bist nervös, mein Lieber, dachte Lucia. Vielleicht ist doch noch nicht alles für dich verloren?

In dem halbdunklen Raum warfen die Silhouetten der Engel und die spärliche Einrichtung düstere Schatten auf die kahlen Wände.

„Ich bin ruhig, Patrick. Ruhig!“, knurrte der Rothaarige als Antwort auf Patricks Einwand.

Lucia bemerkte, wie Erin die Armlehnen des Sessels so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Ihr Gesicht war wie versteinert, beide Füße fest auf dem Boden – als wäre sie bereit, jeden Moment aus dem Wohnzimmer zu stürmen, sobald sie den Namen des Araniten der Heiler hörte. Doch das Untätigbleiben der Männer hielt sie in lauernder Starre.

„Bist du hergekommen, um uns Vorschriften zu machen, Lucia?“ – Vor lauter Empörung über die vermeintliche Ungerechtigkeit ihr gegenüber war Kens Gesicht knallrot angelaufen, seine Nasenflügel bebten. Er sah aus wie eine Tomate.

Lucia war kurz davor, zu lächeln, doch sie atmete tief durch. Sie wollte sich nicht auf eine Provokation einlassen – nicht auf ein Wortgefecht, das in eine Prügelei ausarten könnte. Und sie hatte auch nicht vor, Ken selbst dazu zu provozieren. Sie war hergekommen, um Antworten zu finden – nicht, um zu kämpfen. Und Antworten hatte sie bereits erhalten.
Den Worten der Gastgeber nach war klar: Ageor hatte recht. Und nicht nur die Worte verrieten es – das Gefühl sagte ihr das gleiche. Die Spannung in der Luft war durchzogen von einer Wut, die Engeln fremd war – etwas Wildes, Fremdes, Ungebändigtes.

Ein Gefühl von Ekel überkam sie. Die Wut hatte sie längst gepackt, trug sie mit reißender Strömung mitten ins Herz der Finsternis, in einen düsteren Abgrund, der alles um sie herum zerstörte. Elijah hatte recht mit dem, was er über solche Engel sagte, stellte Lucia für sich fest. Dunkle Gedanken kreisen wie Raben ständig über unseren Köpfen – aber diese Wächter haben ihnen erlaubt, dort ein Nest zu bauen. Doch solange ein Gedanke noch kein Wort geworden ist und ein Wort sich noch nicht in eine Tat verwandelt hat, kann man Engel noch retten und auf den rechten Weg zurückbringen.

Lucia stellte sich vor, wie zwei der Wächter – Patrick nahm sie da bewusst aus, denn sie glaubte, er steckte nicht so tief in der Lüge wie die anderen – sich von diesen Gedanken hatten mitreißen lassen, weg von der Realität, hin zu einem anderen, gegensätzlichen Leben. Zu Verrat. Einer von euch dreien muss doch gemerkt haben, was sich verändert hat und versucht haben, die Freunde zurückzuholen, überlegte Lucia. Vielleicht ist es ja Patrick. Sie sah ihn an. Er war immer noch nervös, wischte sich ständig über die Glatze. Zu oft, dachte Lucia und verengte die Augen. Kleinigkeiten führen zur Wahrheit. Lucia blickte zu Ken. Der Rothaarige hatte sich beruhigt. Er wirkte nicht mehr zornig, sondern eher kühl und verschlossen. Was spielt ihr hier eigentlich für ein Spiel, Leute?, fragte sie sich.

Leo hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und stand breitbeinig. „Letzte Woche habe ich einen Dämon in South of Market vernichtet“, sagte er und hielt sich damit strikt an ihren Plan. „Habt ihr nicht bemerkt, dass die Unreinen in letzter Zeit doppelt so stark geworden sind?“ Er atmete aus.

Provoziere sie nicht, Leo, dachte Lucia bei seinem Auftreten. Sonst halten sie dich noch für aggressiv eingestellt. Doch die Reaktion der Wächter fiel ganz anders aus, als sie erwartet hatte. Auf Kens sommersprossigem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Patrick seufzte – vielleicht aus Zustimmung, vielleicht aus einem anderen Grund. Und Erin löste endlich ihre verkrampften Finger, schlug die Beine übereinander und ließ sich in den Sessel zurücksinken.

„Man könnte auch sagen, sie sind einfach dreister geworden“, meinte Ken und löste sich schließlich vom Sofa. Mit den Ellbogen auf den Knien sah er Lucia aufmerksam an.

Na los, leg schon die Karten auf den Tisch, Anführer, hätte Lucia ihm am liebsten entgegengeschleudert. Diese Spielchen haben wir langsam satt. Denn es war längst bekannt, dass sie Überwachungen durchließen und wenn sie Dämonen töteten, dann nur, um Arbeit vorzutäuschen. Sie hätten längst Hilfe beim Aranit oder einem anderen Bruder im Licht suchen sollen – aber die Lüge vom eigenen Allmachtkomplex saß zu tief und erstickte jeden Funken freien Denkens.

„Ja“, sagte Patrick. „Kam auch schon zu Begegnungen.“ Er drehte sich um und stellte die leere Flasche auf das Fensterbrett. Erin nickte nur stumm.

„Vielleicht könnten wir diese Biester mal gemeinsam in eine Falle locken und ausschalten?“ schlug Leo vor. Erin lächelte gezwungen.

„Diese Woche habe ich andere Pläne“, wehrte sie sein Angebot hastig ab. Ja ja, wir kennen deine Pläne, Mädchen, schnaubte Lucia innerlich. Schade nur, dass man euch nicht sofort dem Rat vorgeführt hat, sondern euch noch die Chance gab, selbst zur Einsicht zu kommen. Ageor wartet, dass ihr von selbst mit reuigem Herzen zurückkommt – selbst wenn ihr inzwischen andere Engel zu dunklen Machenschaften überredet.

„Werd erstmal erwachsen, Kleiner“, spottete Ken mit betont giftiger Betonung des letzten Wortes.

Patrick wischte sich erneut über die Glatze. „Vielleicht später“, sagte er mit brüchiger, rauer Stimme. „Im Herbst oder…“

„An Halloween“, unterbrach ihn Lucia kalt. „Die Zeit, in der man sich leicht täuschen lässt – und verwechselt, wer dein Freund ist und wer dein Feind.“ Ein sarkastisches Lachen entfuhr ihr.

Die Brünet­te stimmte ihr mit einem kehlig tiefen Lachen zu, das durch das Wohnzimmer hallte. „Halloween reißt die Masken herunter“, sagte sie.

„Oder setzt sie erst auf?“ fragte Ken mit hochgezogener Braue.

„Gegen Ende des Festes ist es vielen egal, wer sich hinter der Maske verbirgt – sie brauchen sie dann nicht mehr“, erwiderte Erin kühl.

„Weil sie sich zu Tode betrinken“, warf Patrick scherzhaft ein, doch in der Situation klang es nur unangebracht.

Der Wächter merkte das wohl selbst – zumindest dem Blick nach zu urteilen, den Erin ihm zuwarf. Ihre stahlgrauen Augen hätten Patrick glatt durchbohren können, so schneidend waren sie. Dann sah die Brünet­te zu Lucia. Das Gefühl der Ähnlichkeit schnürte Lucia für einen Moment die Kehle zu. Wie damals – vor vielen Jahren – als eine überwältigende Kraft versucht hatte, ihren Schutzschild aus hundert Lichtpunkten zu durchbrechen. Wie damals in Florenz, als jemand versuchte, sie zu hypnotisieren, um aus den Tiefen ihrer Erinnerung jeden Zweifel, jedes Zögern bezüglich ihrer Mission hervorzuzerren. Bezüglich ihrer Unterordnung unter das höchste richterliche Gremium. Bezüglich ihres Gehorsams gegenüber dem mächtigsten und geheimnisvollsten Engel der Erde.

Lucia wusste, dass Leo jetzt eine ähnliche Versuchung erlebte – aber sie wagte nicht, den Kopf zu ihm zu drehen. Sie wollte Erin nicht dazu provozieren, ihre tödlichen Fähigkeiten weiter zu entfalten – Kräfte, die sie erst kürzlich erhalten hatte und die genau deshalb so verlockend in ihrer Anwendung schienen. Vor allem gegenüber Leo. Um ihn zu schützen, entschloss sie sich: Sollen sie ruhig glauben, dass sie mich brechen können. Doch sie spürte deutlich, dass Leo gar nicht daran dachte, sich brechen zu lassen. Seine innere Mauer hielt allem stand – egal, wie schwer die Gedanken dagegenprallten.

Lucia beobachtete die Männer aus dem Augenwinkel. Die Wächter hatten erkannt, dass zwischen Erin und den Gästen ein emotionaler und geistiger Kampf tobte, und erstarrten in Erwartung. Obwohl Erins Angriff kaum länger als eine Minute andauerte, hatte Patrick schon Schweißperlen von der Stirn gewischt, und Ken grinste schief.

„Vielleicht doch nicht an Halloween“, sagte Kens Stimme, plötzlich fest und klar – wie ein warmer Luftstoß, der das Heulen des eisigen Windes hinter den geistigen Mauern der Gäste unterbrach. Erin wandte den Blick ab und drehte sich halb zu Ken, ignorierte dabei Leos kaum hörbares Aufatmen. „Vielleicht sogar früher“, fuhr Ken fort. „Was haltet ihr von September?“ Er hob den Zeigefinger. „Aber nur du und ich, Lucia“, stellte er seine Bedingung für die gemeinsame Jagd.

Diese letzten Worte des Wächters lösten in Lucias Bewusstsein ein warnendes Aufleuchten aus – wie ein blinkendes rotes Licht einer Alarmsirene. Kleinigkeiten führen zur Wahrheit, dachte sie erneut. Aber ich muss mich vergewissern. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schüttelte leicht den Kopf. Die in einem Pferdeschwanz gebundenen Strähnen streiften leicht ihre Schultern.

„Einverstanden, Ken“, sagte sie ruhig.

Erin sprang auf. Die dunklen, kastanienbraunen Locken schwangen mit und legten für einen Moment ihre Brust frei, die sich unter dem tiefen Dekolleté ihrer Bluse wölbte.

„Was bin ich nur für eine Gastgeberin“, tadelte sie sich selbst gespielt. „Habt ihr noch ein wenig Zeit?“ fragte sie Leo.

Der Junge nickte.

„Ungefähr fünfzehn Minuten. Wieso?“

Erin tauschte einen Blick mit Ken. In seinen Augen stand eine stumme Frage, als hätte er keine Ahnung, was die Brünet­te mit den Gästen vorhatte.

Lucia verzog das Gesicht. Die bevorstehende Entwicklung gefiel ihr ganz und gar nicht – aber sie musste das Spiel zu Ende bringen.

„Möchtet ihr einen Kaffee?“, fragte Erin. „Oder lieber Tee? Man kann Gäste doch nicht hungrig und mitten in der Nacht fortschicken.“ Als ob ich dir deine Gastfreundschaft abnehme, Mädchen, dachte Lucia, ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Du streust bestimmt statt Zucker irgendein Pulver rein. Damit wir sofort umkippen – oder schlimmer noch: gleich den Löffel abgeben.

Leo zögerte, zuckte leicht mit den Schultern und warf Lucia einen unsicheren Blick zu.
„Wir sollten eigentlich schon…“

Lucia räusperte sich und unterbrach den Jungen, der gerade dabei war, das Angebot zum Tee auszuschlagen. So gewinnen wir ein bisschen Zeit, Liebling, dachte sie und richtete ihren Blick auf Erin. Aber trinken werden wir nichts. Selbst wenn sie uns nichts vergiften will – in diesem Loch gibt es bestimmt keinen anständigen Tee.
Ihr entging auch nicht die innere Abwesenheit, die die Brünet­te mühsam in den dunklen, fast schwarzen Augenwinkeln zu verbergen versuchte.

„Tee klingt gut“, sagte Lucia schnell, um Erin keinen Moment zum Umschwenken zu lassen.

Die Stimmung eines Engels, der von dämonischen Kräften beeinflusst wurde, war sprunghaft. Emotionale Instabilität zeigte sich in seinen Worten und Handlungen. Und wenn der Engel jetzt gerade in guter Laune war, konnte sich das in der nächsten Sekunde in düstere Gedanken und einen verfinsterten Gesichtsausdruck verwandeln. Ein solches Verhalten zeugte von einem inneren Kampf, bei dem mal das Gute, mal das Böse die Oberhand gewann – was bedeutete: Noch war nicht alles verloren. Es bedeutete auch, dass man nicht vorschnell handeln und den Engel zu den Gefallenen zählen durfte, sondern ihm helfen sollte, dem immensen Druck standzuhalten. Allerdings konnte man nur in den ersten Phasen der Infektion helfen. Die Zeit war knapp – es ging um Tage, vielleicht Stunden. Jemand hatte die richtige Information über die Wächter geliefert, die fremdartiges Gedankengut in ihren Geist eingelassen hatten. Und das Wichtigste: Es war rechtzeitig geschehen.

„Mit Keksen“, hallte Erins helle Stimme von den abgeblätterten Wänden des Zimmers wider und löste sich im schweren, spannungsgeladenen Raumklima auf.

„Dann beeil dich, damit wir die Gäste nicht unnötig aufhalten“, drängte Patrick sie. „Ich setz den Wasserkocher auf“, bot er seine Hilfe an. Mit großen Schritten durchquerte der Mann das Wohnzimmer und verschwand in der dunklen Küche. Erin folgte ihm mit gemessenem Gang durch die Tür. Lucia blickte nach oben. Genau wie an den Wänden war auch die Decke vom Putz befreit. An der Stelle, wo eigentlich ein Kronleuchter hängen sollte, ragten nur blanke Kabel aus dem Mauerwerk.

„Mit Licht scheint ihr’s nicht so zu haben“, bemerkte sie trocken. „In der Küche dasselbe Bild?“

„Kümmern wir uns nächste Woche drum“, kam Erins Stimme von rechts aus dem engen Flur.

– Fortsetzung folgt –

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Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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