
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 7.4
Ken beobachtete die Gäste schweigend, ohne seine Haltung zu verändern. Im Wohnzimmer herrschte eine zähe, drückende Stille. Lucia spitzte die Ohren, damit das Rauschen des Wassers und das Klacken der Schranktür sie nicht daran hinderten, die Schritte der Engel in der Küche zu hören. Erin und Patrick hatten sich anscheinend absichtlich hinter der Backsteinwand vor ihrem durchdringenden Blick versteckt.
„Vorsicht!“, zischte die Brünette, und das Klirren eines Löffels ertönte gleichzeitig mit dem dumpfen Aufsetzen der Tassen auf der Holzoberfläche des Tisches.
Wieder erklang das Rauschen von Wasser. Beinahe lautlose Schritte mischten sich mit dem Heulen des Wasserkochers und dem Klang der sich öffnenden Zuckerdose.
Lucia bemerkte, wie Kens Augen im Dunkeln aufblitzten, doch der Mann rührte sich nicht, blieb regungslos auf seinem Platz sitzen, wie eine Statue aus Marmor. Das Mädchen blinzelte, als würde ihr ein Schleier die Sicht versperren. Nein, es hatte sich nichts verändert. Und es gab keinen Schleier. Sie hatte sich nicht geirrt. Kens Gesicht war tatsächlich so bleich geworden, dass es schien, als säße ihr kein Lebewesen gegenüber, sondern eine Skulptur aus schneeweißem Marmor, in deren Adern kein Blut mehr floss.
Ein durchdringender Pfeifton zerschnitt die Stille und Lucia presste die Zähne zusammen, um nicht zu fluchen. Der Deckel des Wasserkochers hüpfte auf und ab, während das kochende Wasser auf das Metall spritzte. Lucia warf den Kopf in den Nacken. Ein kaum hörbares Klicken des Griffs. Die Frische der Nacht lüftete die stickige Luft der Wohnung. Sie sprang auf und stürmte in die Küche.
„Halt Ken auf!“, rief Lucia an Leo gewandt.
Wassertropfen liefen über die Wölbung des Wasserkochers hinunter und verursachten rote Funken, als sie die Flamme löschten. Das Wasser erreichte bedrohlich den Rand der Spüle. Ein schmutzig-graues Tuch versperrte den Ablauf. Auf dem Tisch lagen verlassene Bestecke. Zuckerkristalle bildeten eine kleine Spur von der Zuckerdose zur Tasse. Der Teelöffel lag noch immer einsam auf den blauen Fliesen. Das Fenster über der Spüle stand offen und Lucia erhaschte noch den Blick auf eine Gestalt in einer roten Bluse, die in Richtung Osten davonrannte.
Nicht vergiften oder betäuben – einfach abhauen, schnaubte Lucia. Und damit habt ihr eure Karten offen gelegt, Leute.
Lucia stürzte zum Herd und drehte das Gas ab. Dann schloss sie den Wasserhahn. In völliger Stille hörte sie deutlich einen dumpfen Aufprall gegen eine Wand, das Öffnen einer Tür und das Poltern von Sprüngen über das Treppengeländer.
Sie überließ es Leo, sich um Ken zu kümmern, sprang auf die Spüle und kletterte von dort auf das staubige Fensterbrett. Die alte Feuertreppe befand sich einen Meter vom Fenster entfernt. Na, so seid ihr also verschwunden, dachte Lucia mit einem Schnauben. Sie stieß sich vom Fensterrahmen ab und sprang auf eine der Stufen. Die Treppe knarrte bedrohlich und zitterte unter ihrem Gewicht. Schrauben in der Wand begannen sich zu bewegen, und rostige Kappen traten hervor, enthüllten die gerillten Gewinde. Nicht gerade sicher, hier runterzuklettern, dachte das Mädchen und sprang, die parallelen Geländer umfassend, von der Stufe hinab. Die raue Oberfläche zerkratzte ihre zarte Haut, doch Lucia wollte keine Sekunde verlieren – wie ihre Hände danach aussehen würden, war ihr egal. Vom Maniküre-Termin bei Zoë am Samstag musste sie wohl wieder Abstand nehmen, dachte sie, im Wissen, dass sich die Wächter nicht kampflos ergeben würden.
Die Engel bewegten sich in Richtung der Docks und Lucia rannte ihnen mit aller Kraft hinterher. Je näher sie zur Uferpromenade kam, desto mehr verwandelten sich die Gebäude – von Wohnhäusern zu Beton- und Stahlkonstruktionen. Sie hörte bereits das Plätschern des Wassers an den Bootswänden, sah das grelle Licht der großen Lampen an den Wachhäuschen, hörte die Gespräche der Männer. Der Tabakrauch ihrer Zigaretten brannte in den Nasenlöchern, doch Lucia rannte weiter und bog in einen der trockenen Docks ein. Wenn sie als Dämonenjägerin etwas konnte, dann war es die Anwesenheit von Engeln zu erspüren.
Die Stahlbetonkammer des Docks war riesig und leer. Heute Nacht lag kein Tanker darin. Doch im Gegensatz zum Schiff war Erin hier gewesen. Eine Spur ihres süß-würzigen Parfüms zog sich von der elektrischen Winde herüber. Lucia rannte auf sie zu, sprang über die Kielblöcke – Konstruktionen aus Stahlrohren, die als Auflager beim Andocken des Schiffs dienten. Plötzlich stellte sich ihr eine männliche Gestalt in den Weg. Lucia blieb abrupt stehen, fast wäre sie dem Wächter ins Gesicht geprallt.
„Himmlische Mächte! Ken, ich hätte dich beinahe…“
Obwohl sowohl natürliches als auch künstliches Licht fehlte – die Wachhäuschen mit den Lampen lagen mehrere Blocks entfernt, und der Himmel war von Regenwolken bedeckt – erkannte Lucia mühelos das Zucken der Sommersprossen im Gesicht des Mannes.
„Lass sie in Ruhe, Lucia“, sagte Ken mit eiskalter Stimme, die sie augenblicklich innehalten ließ.
Lucia ballte die Fäuste. Du bist nicht in der Position, Befehle zu erteilen, Freundchen, dachte sie zornig und schnaubte vor Empörung, dass der Wächter sich ihr in den Weg stellte.
„Geh beiseite, oder ich…“
„Was?“ unterbrach er sie mit einem bitteren Lächeln. „Wirst du mich töten?“
„Nein“, schüttelte das Mädchen den Kopf. „Ich habe kein Verlangen danach.“
Ken grunzte. „Genauer gesagt – keinen Befehl.“
Der Mann trat dicht an Lucia heran und sah ihr mit geneigtem Kopf direkt in die Augen.
„Wie hast du es herausgefunden? Immerhin hätten wir sonst nicht einfach so miteinander gesprochen…“
Der linke Mundwinkel des Mädchens hob sich leicht.
„An deinem Gesichtsausdruck, als sie in die Küche kamen. Und vorher – dein Vorschlag zur gemeinsamen Jagd und dass du den ganzen Abend versuchtest, uns zu provozieren, um unsere Wut zu schüren. Die Wut war wie eine Druckwelle, die Patricks und Erins inneren Zustand offenbarte. Und dann noch lauter Kleinigkeiten. Nur eines wusste ich nicht – wie du auf ihre Flucht reagieren würdest“, gab sie zu, was sie nicht hatte vorhersehen können. „Deshalb bat ich Leo, dich zurückzuhalten. Wie hast du es geschafft, deine Wahrheit so lange vor ihnen zu verbergen?“ fragte sie schließlich, nicht in der Lage, ihre Neugier zu zügeln. „Und wann hat das alles angefangen?“
„Vor einem Monat“, antwortete Ken. Schmerz verzerrte sein Gesicht. „Versteh mich… sie sind meine Freunde…“
Lucia senkte den Blick.
„Du weißt, dass nach mir die Diener von Ageor kommen werden.“
Ken nickte langsam und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Ja“, sagte er trocken.
„Und mit denen wirst du nicht so reden können.“
„Ich werde es versuchen“, sagte Ken, ohne seine Selbstsicherheit zu verlieren – trotz der Situation.
Lucia lächelte spöttisch.
„Deshalb hast du Ageor auch von den schlechten Nachrichten berichtet, als dir klar wurde, dass etwas faul ist“, fuhr sie fort, ohne auf seine Worte einzugehen.
Ken schwieg. Alles, was in den letzten Wochen geschehen war, war für ihn unangenehm gewesen, aber er bemühte sich, seine innere Zerrissenheit nicht zu zeigen. Nur sein schneller werdender Herzschlag – der sich für Lucia als dumpfes Pochen in ihrem Kopf bemerkbar machte – und die Blässe, die sein Gesicht schon in der Wohnung überzogen hatte, verrieten ihn.
Denn nicht nur war es schwer, so zu tun, als wäre man auf der Seite der Freunde, sondern auch, ihre abscheulichen Lügen aufzudecken, dachte Lucia über den Wächter nach, der vor ihr stand. Dennoch verspürte sie keinerlei Mitleid mit jemandem, der noch im Winter versucht hatte, sie herumzukommandieren – ebenso wenig wie Schadenfreude.
„Ich habe Woldéri informiert“, sagte Ken nach ein paar Sekunden. „Und wir haben vereinbart, Patrick und Erin zu beobachten, aber sie wollten sich nicht von ihren dunklen Gedanken abbringen lassen.“
„Deshalb haben sie mich geschickt.“
„Ja“, seufzte der Mann.
„Heute noch wird Angel meine Antwort erhalten.“
Ken zog die Hände aus den Taschen und rieb sich die Handflächen.
„Lucia, ich habe eine Bitte“, sagte er zögernd. Sein Tonfall wandelte sich von hart zu flehend. Das Mädchen hob überrascht eine Augenbraue. Na sieh mal einer an, du gibst nach, mein Lieber, dachte sie schnaubend.
„Gib mir Zeit.“
„Wozu? Es ist doch ohnehin alles klar.“
„In ein paar Stunden kann sich alles ändern.“
„Sie werden bereuen? Das glaube ich kaum“, entgegnete Lucia spöttisch.
„Ich hoffe es. Vielleicht kann ich Erin umstimmen…“
„Also hat alles mit ihr begonnen?“ Lucia wirkte überrascht. „Der verschlossene Vogel wollte zur Sonne aufsteigen.“
„Und hat sich verbrannt“, flüsterte Ken. „Ruf Leo zurück.“
Lucia schnaubte.
„Ist er etwa mein Hund?“
„Da er mich nicht einholen konnte, hat er sich Patrick zugewandt“, sagte der Wächter und sah Lucia mit beinahe flehendem Blick an. „Bitte. Versteh mich.“
Lucia hätte sich innerlich freuen können – Ken war bereit, vor ihr auf die Knie zu gehen, seine Schwäche zu zeigen –, aber sie seufzte nur schwer. Freuen werde ich mich aus einem anderen Grund, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn Patrick und Erin sich entschließen würden, ihre Pläne aufzugeben, nicht länger das Schicksal der Engel zu verwerfen und sich in ein Wesen aus der Hölle zu verwandeln. Die Zeit, um die Ken für seine Freunde bat, konnte ihnen eine böse Falle stellen – oder… ein Umdenken bringen. Eine Reue.
Lucia spürte, dass sie ihre Entscheidung später bereuen könnte, doch etwas in ihr sagte, dass es genau so sein musste. Und vielleicht tat sie es nicht für Patrick und Erin, sondern für Ken selbst. Sie zog ein Minifon aus der Tasche ihrer Jeans.
„Gut“, sagte Lucia kalt. „Du hast eine Stunde, Ken. Keine Minute mehr.“
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte die Lippen des Mannes, und ein erleichterter Seufzer entwich seiner Brust.
„Danke, Lucia“, sagte er. „Ich werde es nie vergessen.“
„Beeil dich, Ken. Du hast eine Stunde“, erinnerte das Mädchen ihn an die Frist, die ihm blieb, bevor sich Ageor um seine Freunde kümmern würde.
Der Mann drehte sich um und ging in Richtung Ausgang des Docks.
Lucia sah ihm nach – dieser Mann, von dem sie nie gedacht hätte, dass er sich selbst und dem Himmel treu bleiben würde.
Ken sah über die Schulter zu ihr zurück. Im selben Moment verschwand er in der Dunkelheit.
– Fortsetzung folgt –
„Engelsklinge – Tödlicher Schlag“ gibt es jetzt auch als Taschenbuch. Bestellen kann man es unter anderem HIER!
Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.