Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 9.3
Lucia hatte kein Verlangen geäußert, dem Gespräch des Psychologen mit den Neulingen beizuwohnen. Stattdessen unternahm sie zusammen mit Leo einen Lauf durch den Wald.
Zum Mittag kam das Mädchen als eine der Letzten in die Kantine. Die meisten Kinder brachten gerade ihre leeren Teller zum Ausgabefenster, damit die Angestellten sie in die Spülmaschine stellen konnten.
Dina und Noris fügten sich sofort in die Gruppe ein und nahmen an einem Tisch Platz, an dem die Achtklässler saßen. Die Jungs erkundigten sich sofort bei Noris, ob die Informationen über den kalten Sommer in Stockholm der Wahrheit entsprächen. Der Schwede erzählte, dass die Sommermonate heißer und die Winter kälter geworden seien als zu Zeiten seines Großvaters.
„Mein Opa pflegte zu sagen, dass sich im August sogar die Tageszeiten deutlich voneinander unterschieden. Wenn man tagsüber im T-Shirt herumlaufen konnte, musste man abends schon eine Jacke anziehen“, berichtete Noris über das Wetter in seiner Heimat. „Aber so etwas kann ich mich gar nicht erinnern“, gestand er. „Erstickender Sommer und frostiger Winter – das ist es, womit ich mich herumschlagen muss“. Der bleiche Junge schauderte, als ob durch das geöffnete Fenster der Kantine ein kalter Nordwind wehe.
Der neben Noris sitzende Junge mit der skurrilen Igel-Frisur legte die Gabel auf den Tisch.
„So etwas gibt’s hier überhaupt nicht“, klopfte er dem Schweden auf die Schulter. „Also gewöhn dich dran!“
„Ich werde mich daran gewöhnen, Tedd, ich werde mich gewöhnen“, klang es mit einem Anflug von Niedergeschlagenheit in Noris’ Stimme.
Noch vor ein paar Tagen hatte der Junge in der Stadt seiner Kindheit gelebt, auch wenn er sich im Verwaltungsgebäude befand, und nun musste er sich an ein völlig anderes Leben in einem neuen Land gewöhnen.
Dina hingegen brauchte sich nicht an das Land zu gewöhnen. Sie war wie Sarah, mit der sie sofort eine gemeinsame Sprache gefunden hatte, in Amerika geboren. Obwohl Santa Fe siebzehn Stunden Fahrt von Frisco entfernt lag, konnte sie das Lager nicht verlassen und nach Hause zurückkehren, wo ihre Mutter sie für tot nach einem Autounfall hielt. Dina hatte wie durch ein Wunder in einem auf der Autobahn umgestürzten Bus überlebt, als sie nach dem Besuch ihrer Tante in Texas in die Stadt zurückkehrte. Ihre Mutter hatte sie allein großgezogen und konnte sich deshalb kein Flugticket leisten – so musste Dina seit ihrem zwölften Lebensjahr mit dem Bus fahren. Als sie ohne Papiere und ohne Minifon im Krankenhaus landete, kümmerten sich die Ärzte nicht um ihr weiteres Schicksal und setzten das arme Mädchen sofort auf die Liste zur „Liquidation“.
Lucia stocherte mit der Gabel in ihrem Meeresfrüchtesalat, als Leo in der Kantine erschien. Der Junge nahm sich Ofenkartoffeln mit Gemüse sowie ein Beefsteak und setzte sich ihr gegenüber.
„Nicht hungrig?“, fragte er, als er die Kartoffelreste auf Lucias Teller bemerkte. „Ich dachte, du hast Hunger. Heute Morgen hast du mir noch so etwas angedeutet“, Leo lächelte leicht.
Das Mädchen legte die Gabel an den Tellerrand. Das Metall klirrte hell auf dem Porzellan.
„Nicht angedeutet – direkt gesagt“, knirschte sie zwischen den Zähnen. „Aber das war heute Morgen und jetzt ist Mittag. Ich darf doch wohl meine Meinung ändern, oder?“
Die Kartoffel knackte zwischen Leos Zähnen, während er begann, das Beefsteak in kleine Stücke zu schneiden.
„Darfst du“, antwortete er ruhig und begann nach dem Fleisch mit dem Spargel. „Ich bin nur überrascht über deinen Sinneswandel.“
Lucia runzelte die Stirn, nahm die Gabel wieder in die Hand und spießte eine Garnele auf.
„Zufrieden?“ murmelte sie und steckte die Garnele in den Mund.
Leo lächelte schwach und aß weiter, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Vom Tisch der Zehntklässler erhoben sich Will und Justin. Sie brachten ihr schmutziges Geschirr zum Fenster und gingen in Richtung Ausgang der Kantine. Offenbar stellte Will weder eine Bedrohung für Justins Freundschaft mit Felix noch für ihre unangefochtene Führungsposition unter den Gleichaltrigen dar und so nahmen die Jungs ihn bedenkenlos in den Kreis ihrer Anhänger auf.
Mit gelangweitem Blick verfolgte Lucia, wie die beiden Jungen durch die Türen der Kantine verschwanden und machte sich daran, ihren Salat aufzuessen.
Was die älteren Schüler anging, hätte ihre Eingliederung in die Gruppe weniger reibungslos verlaufen können als bei den anderen. Im Gegensatz zu Mrs. Brown, die auf den durchtrainierten Brünetten gesetzt hatte, kümmerte sich Trevor weder um Lucia noch um Elijah besonders. Schwierigkeiten konnten vor allem unter den Mädchen entstehen. Cash wollte wohl kaum das Zimmer mit Phoebe teilen, die schon in den ersten Minuten der Begegnung im Festsaal zu verstehen gegeben hatte, dass sie einer aufsässigen Brünetten keine bissige Bemerkung durchgehen lassen würde.
Während des Mittagessens bemerkte Lucia den feindseligen Blick, mit dem Cash das neue Mädchen bedachte, das neben Patsy saß. Wenn Phoebe bei der Brünetten einziehen sollte – und das konnte gut passieren, sonst würde Cash einen Skandal anzetteln – würde sich bald auch Campbell der Neuen anschließen. Die Engländerin gehörte zwar nicht zu denen, die sich sofort von anderen beeinflussen lassen, aber das Zusammenleben unter einem Dach konnte seinen Effekt haben. Zumal die Schönheit bereits ihre Unzufriedenheit mit Freundinnen geäußert hatte, die sich über die Zimmernachbarin lustig machten und Witze auf Ians Kosten rissen.
Lucia warf einen Blick auf den lockigen Brünetten, der die Reihe der Jungen am Tisch abschloss. Auf seinem scharf geschnittenen Gesicht lag Neugier. Ian verstand ebenso wie alle anderen Klassenkameraden, dass Reibereien unvermeidlich waren. Und während zwischen Phoebe und Cash bisher eine stille Abneigung herrschte, spiegelten sich in jedem Gestus und Blick von Kitch pure Aggression. Die Feindseligkeit des Jungen richtete sich jedoch nicht gegen einen Gegner seiner Gewichtsklasse, sondern gegen Roy, der mit kühler Gelassenheit ein Stück Kartoffel auf seine Gabel spießte.
Lucia lächelte spöttisch. Leo hob den Blick von seinem Teller, auf dem nur noch ein paar grüne Erbsen lagen, und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
„Kaum im Lager angekommen und schon einen Feind gefunden. Was meinst du, wie er reagieren wird?“ – Der Wächter nickte in Richtung des Jungen mit den gold-honigfarbenen Haaren.
„Dem Aussehen nach tritt Rob Roy selbstsicher auf“, antwortete Lucia und nahm einen Schluck Apfelsaft aus ihrem Glas. „Alle Fragen an Elijah“, erklärte das Mädchen rasch und gab dem Blondschopf damit den Namen eines weltberühmten Helden. Ihre Augen verengten sich. „Aber man muss auch seinen inneren Zustand berücksichtigen. Und der ist, wie wir beide wissen, weit von Ruhe entfernt. Nein, Rob Roy hat am ersten Tag nicht in Panik geraten, als er auf Opposition stieß. Er ist kein Panikmacher, sonst wäre er jetzt nicht im Lager. Man könnte ihn mit einem Wort beschreiben – Bereitschaft.“
Leo verschränkte die Arme vor der Brust.
„Er wird nicht als Erster eine Schlägerei anfangen.“
„Nein“, bestätigte das Mädchen. „Die Fäuste kommen erst zum Einsatz, wenn es wirklich brenzlig wird. Zumal er jetzt nicht nur für sich selbst verantwortlich ist.“
„Lilibet ist also bei Violetta geblieben?“, fragte der Junge, ohne die älteren Schüler aus den Augen zu lassen, die gerade ihr Mittagessen beendeten.
„Ja“, nickte Lucia und trank den Saft aus. „Violetta meinte, es sei besser, wenn das Mädchen heute bei ihr bleibt. Offenbar“, sie schnalzte mit der Zunge, „hat sich der Mutterinstinkt gemeldet.“
Leo stand auf und nahm das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr in die Hand.
„Na dann, Liebes, helfen wir den Jungs, sich in ihren Zimmern einzurichten.“
Lucia seufzte erschöpft und schob widerwillig ihren Stuhl zurück.
Die Mädchen wurden wie erwartet untergebracht. Phoebe nahm sofort das obere Bett über Patsys Schlafplatz ein. Dina dagegen zog ins Zimmer von Cash.
Was Lilibet betraf, waren sich viele, darunter auch Violetta und Mrs. Gable, völlig einig mit dem Psychologen, dass das Kind nicht von den anderen isoliert werden sollte. Deshalb war das vierte Bett in Patsys Zimmer für das Mädchen vorgesehen. Campbell überließ ihr bereitwillig ihr eigenes Bett, damit das Kind nicht nach oben klettern musste. Die erste Nacht würde Lilibet jedoch im Sanitätsraum zusammen mit der Ärztin verbringen, die offenbar endgültig beschlossen hatte, als Kindermädchen zu fungieren.
Für Lucia war Violettas Bereitschaft eine Erleichterung. Hätte die Frau nicht angeboten, sich um das Mädchen zu kümmern, hätte Elijah die Verantwortung für Lilibet auf Lucias Schultern abgeladen. Doch sie hatte ohnehin schon mehr als genug Kinder am Hals, und außerdem blieb die Überwachung ein wichtiger Teil des Auftrags in San Francisco. Denn je weniger Ungeheuer sich in der Stadt tummelten, desto sicherer war es für die Bewohner des Lagers.
Ohne Rob Roy weinte das Mädchen oft und wünschte sich, dass ihre Mutter käme und sie nach Hause holte. Erst als der Blonde wieder im Sanitätsraum auftauchte, beruhigte sie sich. Erdbeereis wirkte zwar hervorragend, um Lilibet von traurigen Gedanken an zu Hause abzulenken, aber man konnte das Kind ja nicht den ganzen Tag damit füttern.
Darum kam Rob Roy gleich nach dem Mittagessen in den Sanitätsraum. Der Junge brachte einen Teller mit dampfenden Kartoffeln mit und überredete das Mädchen gemeinsam mit Violetta, ein wenig zu essen. Elijah ließ sich jede Stunde im Sanitätsraum blicken. Seine sanfte Stimme und sein warmer Blick beruhigten Lilibet. Der Psychologe wollte keinen Druck auf das Kind ausüben und gab ihm Zeit, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Den Kontakt zu anderen Kindern hielt er für eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Genesung und wies Violetta an, das Mädchen noch heute in den Schlafsaal zu bringen, falls sie auch nur den kleinsten Fortschritt im Verhalten bemerken sollte. Wenn nicht, galt der morgige Morgen als spätester Zeitpunkt. Auch die anderen Kinder würden dadurch Verantwortungsgefühl entwickeln und aufhören, sich auf die Feindseligkeit mancher Mitschüler zu fixieren.
Den vereinzelten Schluchzern nach zu urteilen, die aus dem Arztzimmer drangen, würde Lilibet wohl morgen mit dem Lagerleben beginnen, dachte Lucia, als sie zusammen mit Leo in den vierten Stock hinaufstieg. Die Spannung, die in der Luft lag, drückte nicht nur auf die Jugendlichen, die sich vor dem Zimmer von Kitch und Brian drängten, sondern auch auf die Biologielehrerin.
In diesem Jahr war die Einteilung der Kinder auf die Zimmer Mrs. Gable übertragen worden, und die Frau richtete sich dabei nach den Charakterbeschreibungen, die sie vom Direktor erhalten hatte. Während sie die Mädchen ohne Probleme untergebracht hatte, hatte sie sich bei den Jungen geirrt. Genauer gesagt, hatte sich Penelope geirrt, als sie Trevor für eine klare Bedrohung der Ruhe hielt, die auf der Etage mit den Schlafsälen herrschte.
Kitch stand in der Tür seines Zimmers und versicherte Mrs. Gable, dass er vielleicht mit Trevor zusammenwohnen würde, aber was Roy betraf, sei er kategorisch dagegen.
„Aber Kitch, wie soll das denn gehen?“ – Mit zitternden Fingern strich sich die Frau eine dunkelbraune Strähne aus dem festgesteckten Dutt. – „Wo soll der Junge denn schlafen?“
Oben angekommen, blieb Lucia wie angewurzelt stehen. Leo hielt ebenfalls an.
„Ich will mich nicht einmischen“, sagte das Mädchen und warf dem Jungen einen flüchtigen Blick zu.
Leo lehnte sich an das Geländer und betrachtete interessiert die Menschenmenge.
„Warum hilfst du Mrs. Gable nicht?“
„Ich möchte den Leuten die Möglichkeit geben, das Problem selbst zu lösen“, erwiderte Lucia mit einem schiefen Lächeln. „Mrs. Gable werden sie schon nichts tun, glaub mir. Sie werden sie nur nervös machen. Ich denke gerade an …“
„Kitch?“
„An Rob Roy.“
Trevor stieß Roy mit dem Ellbogen in die Seite, und auf seinem kantigen Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
„Sieht so aus, als wollte er nicht mit dir befreundet sein, Kumpel“, dröhnte seine Stimme durch den Flur.
Neben den älteren Schülern kamen nun auch Noris und Will aus ihrem Zimmer. Justin und Felix beobachteten die Jungen schweigend und überlegten, wer wohl den Sieg davontragen würde.
„Hast du gerade was gemurmelt, Wurstfresser?“, fuhr Brian auf und ballte die Faust.
Trevor fletschte die Zähne.
„Was hast du eigentlich gegen mein Land? Und warum wolltet ihr dann unbedingt zu uns?“ – konterte der Brünette. – „Ich sag doch auch nicht, dass deine Vorfahren zu uns gekommen sind, um unsere Töpfe zu schrubben!“ Er lachte schallend. „In Zagreb hat man wohl zu wenig gezahlt für Drecksarbeit, was?“
„Du Mistkerl!“, knurrte der Kroate, empört über Trevors Worte. Er warf Kitch einen Blick zu und erwartete Unterstützung. Doch den Spanier interessierte die nicht gerade prestigeträchtige Arbeit der Bürger eines weiteren südlichen Landes wenig und er ignorierte die Provokation gegen seinen Freund. Kitch beschäftigte vielmehr das drängende Problem, auf dessen Lösung er konzentriert war.
Margo funkelte unter gesenkten Augenbrauen und flüsterte Cash bissige Bemerkungen über die Neuen ins Ohr.
„Ihr habt die Mädchen nach ihren Wünschen untergebracht“, schimpfte Brian weiter und wandte sich an die Lehrerin, „aber zu uns steckt ihr irgendwelche…“
Cash riss den Kopf hoch. Rote Strähnen mischten sich mit schwarzen Locken.
„Das stimmt nicht!“, protestierte sie. „Ich wollte überhaupt niemanden!“
Margo beugte sich erneut zu ihrer Freundin.
„Sei froh, dass du das Zimmer nicht mit Phoebe teilen musstest“, flüsterte sie.
Phoebe, die ihnen gegenüberstand, lächelte giftig. So leise die Blondine auch sprach – ihre Worte waren deutlich zu verstehen.
Mrs. Gable ließ endlich die widerspenstige Strähne in Ruhe, die wieder auf ihre breite Stirn gefallen war.
„Ich habe die Einteilung gemäß der Anweisung von Mrs. Brown vorgenommen“, sagte sie. „Und auch unter Berücksichtigung eurer Wünsche“, fügte sie im Flüsterton hinzu. „Ihr wisst ja, dass es im Lager nicht so viele Plätze gibt…“
Kitch schnaubte verächtlich und warf einen Blick auf Will und Noris.
„Und die hier atmen uns schon in den Nacken, weil sie mein Zimmer wollen!“, rief er aus. Den erhobenen Zeigefinger auf Justin gerichtet, unterbrach der Brünette den Jungen, der gerade etwas erwidern wollte. „Das gilt auch für dich, Jas! Ich habe hier noch rechtmäßige zwei Jahre, Mrs. Gable!“ – Der Spanier warf der etwas fülligen Frau einen missmutigen Blick zu. – „Zwei Jahre! Und ihr zwingt mich nicht, mir das Zimmer mit einem Dudelsackspieler zu teilen! Mag er für die Lehrer auch ein Held sein, weil er ein Kind aus dem Bus geholt hat – für mich ist er…“
Der Junge räusperte sich, als wollte er auf den Boden spucken, besann sich dann aber anders und schluckte hinunter.
„Der kann zu dem Versager gehen!“ Kitch zeigte mit dem Finger auf Ian. „Heldchen und Versager – das ist ein Paar“, lachte er laut auf.
„Der spanische Stier brüllt wieder“, murmelte Roy zu Trevor.
Der Deutsche lachte schallend und klopfte ihm auf die Schulter.
„Genau ins Schwarze, Kumpel“, sagte er.
Kitchs Gesicht färbte sich purpurrot, er machte eine Bewegung, um eine Schlägerei anzufangen, doch Brian hielt ihn zurück.
„Lass es, Kitch“, sagte er leise, der nach den Bemerkungen über sein Land inzwischen abgekühlt war und nicht mehr so heftig reagierte. „Nicht hier.“
Phoebe musterte Kitch mit einem verächtlichen Blick, rief Patsy zu sich und ging in ihr Zimmer.
„Hier gibt’s nichts mehr zu holen“, sagte sie. „Die Jungs klären das unter sich.“
Patsy und kurz darauf auch Campbell verschwanden in den Schlafraum und knallten laut die Tür hinter sich zu.
Margo zuckte zusammen, während Cash abfällig grinste.
„Die Ratten verlassen als Erste das sinkende Schiff“, bemerkte sie, drehte sich demonstrativ um und schaute zur Tür.
Mrs. Gable kaute nervös auf ihrer Lippe. Ihr Gehirn suchte fieberhaft nach einem Ausweg aus einer Situation, die im Begriff war, explosiv zu werden.
„Also willst du nicht, Kitch?“ – Der letzte Versuch der Biologielehrerin, die Jungs zu versöhnen, klang so schwach, dass der Spanier die Frau nicht einmal eines Blickes würdigte.
Es war ein trauriger Anblick, Mrs. Gable so zu sehen. Bei dem großen Brünetten – wie übrigens auch bei dessen Freund – genoss die Frau keinerlei Autorität. Sie redeten nur noch mit ihr, weil sie ihnen im Abschlussjahrgang in ihrem Fach noch Noten ins Zeugnis eintragen musste. Wäre das nicht der Fall, hätten die Jungs längst abgewunken und wären in ihre Zimmer verschwunden.
Müde vom langen Wortgefecht der Jungen, hatten sich viele Schüler bereits hinter den Türen ihrer Schlafräume verkrochen. Im Flur blieben nur die Oberstufenschüler zurück.
„Vielleicht sollten wir doch…“
„Es reicht, Mrs. Gable“, ertönte eine klare Stimme, die die Lehrerin unterbrach. „Lassen Sie sie beide zu mir kommen. Sie sehen doch…“
Lucia warf Leo einen Blick zu. Derjenige, der der Frau zu Hilfe kam, war Ian. Von allen hätte sie so etwas am wenigsten von dem Jungen erwartet, der dem Brünette körperlich nur halb so gewachsen war.
„Hast du gerade gebellt, du Versager?“ Kitch warf dem Jungen einen verächtlichen Blick zu und machte einen Ruck, um mit seinen Fäusten an dessen Gesicht zu kommen. „Freak!“
Mrs. Gable stieß einen Schrei aus. Trevor wollte den völlig erhitzten Spanier aufhalten, doch Roy stellte sich ihm in den Weg. Der Junge stellte sich zwischen Kitch und Ian. Im Gegensatz zu dem Gleichaltrigen war der Schotte dem Brünetten körperlich ebenbürtig.
„Beruhig dich, Kitch!“ – Roys sonore Stimme prasselte auf den Jungen wie ein Eimer kaltes Wasser. Der Spanier erstarrte mit erhobener Hand in der Luft. Er fletschte die Zähne, als er begriff, dass er in diesem Moment nichts ausrichten konnte.
„Ja, ehrlich gesagt hatte ich auch nicht sonderlich Lust, das Zimmer mit dir zu teilen.“
Kitch ließ die Hand sinken, wich aber keinen Schritt zurück. Sein Gesicht nahm wieder einen dunkleren Ton an, doch der Zorn blieb – zumal derjenige, gegen den er vorgehen wollte, ihm nicht nur keinen Vorwand zur Schlägerei lieferte, sondern ihn auch noch zu beruhigen versuchte. Der Brünette presste die Zähne zusammen, ein Knurren entwich seiner Brust.
„Ich gehe in Ians Zimmer, Mrs. Gable“, fuhr Rob Roy fort. „Trevor, kommst du mit?“ Der Blonde bot dem blauäugigen Deutschen an, das allen lästig gewordene Gespräch zu beenden. Trevor nickte.
„Okay, ich komme mit, Jungs“, grinste er. „Damit Mrs. Gable ruhig schlafen kann.“
Die Frau lächelte gezwungen.
„Dann halten wir das so fest“, sagte sie und ließ ihren immer noch verwirrten Blick über die Jungen schweifen. „Und jetzt – kümmert euch um eure Hausaufgaben“, gab die Lehrerin weitere Anweisungen. „Oder ruht euch einfach aus“, wandte sie sich an die Neuen. „Morgen früh beginnt der Unterricht.“
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.