SOLINGEN (bgl) – Einmal im Jahr verlassen sie den Alltag im Städtischen Klinikum Solingen und fliegen in eine völlig andere Welt: Die Anästhesistinnen Dr. Svenja Wildfeuer und Charlotte Stehn reisen regelmäßig nach Angola, um dort gemeinsam mit einem ehrenamtlichen Ärzteteam Kindern zu helfen, die mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten geboren wurden. Für die kleinen Patientinnen und Patienten bedeutet die Operation nicht nur ein besseres Aussehen – es geht um elementare Dinge wie Essen, Sprechen und soziale Teilhabe.
Kleine Gesichter, große Herausforderungen
Die Initiative geht auf den Düsseldorfer Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen Dr. Thomas Clasen zurück, der 2012 das Projekt ins Leben rief. „Ich bin damals von einem OP-Pfleger darauf aufmerksam gemacht worden und wurde eingeladen, als Anästhesistin mitzukommen“, erinnert sich Charlotte Stehn. Schon beim ersten Einsatz wurde deutlich, wie groß der Bedarf in Angola ist. 2017 stieß schließlich auch ihre Kollegin Dr. Svenja Wildfeuer zum Team. Seitdem sind beide fester Bestandteil des Projekts, das jedes Jahr aufs Neue Dutzenden Kindern Hoffnung schenkt.
Die Eingriffe konzentrieren sich vor allem auf Kinder ab einem Jahr, die unter ein- oder beidseitigen Lippenspalten oder Gaumenspalten leiden. „Das Hauptalter liegt bei drei- bis vierjährigen Kindern, ganz selten operieren wir auch Erwachsene“, erläutert Anästhesistin Stehn. Die Eingriffe sind technisch anspruchsvoll, insbesondere bei doppelseitigen Lippenspalten oder bei Operationen im Gaumen, wo Nachblutungen eine ernste Gefahr darstellen können. Trotzdem gelingt es dem Team, in einer Einsatzwoche bis zu 40 oder 50 Kinder zu operieren – ein immenser Aufwand, den die Ärzte und Pflegekräfte in ihrer privaten Urlaubszeit leisten.
Angola: Im OP ist auch Improvisationstalent gefragt
Dass die Patienten überhaupt zu den Operationen gelangen, ist dem angolanischen Partnerverein Kimbo Liombembwa zu verdanken. Dessen Mitglieder sorgen nicht nur für Öffentlichkeitsarbeit, indem sie in Geburtskliniken Flyer verteilen, sondern legen für jedes betroffene Kind eine Karteikarte an, überwachen die medizinische Grundversorgung und koordinieren den Kontakt mit den Familien. „Angola ist viermal so groß wie Deutschland. Manche Familien reisen über tausend Kilometer, sind ein bis zwei Tage unterwegs, nur um zu uns zu kommen“, schildert Dr. Svenja Wildfeuer eindrücklich. Für die Eltern bedeutet der Weg oft große Opfer, für die Kinder jedoch die Chance auf ein normales Leben.
Operiert wird in einem Bezirkskrankenhaus in Benguela, einer Küstenstadt im Südwesten Angolas. Der Operationssaal ist grundsätzlich vorhanden, doch wie er sich bei Ankunft präsentiert, ist jedes Jahr ein kleines Überraschungspaket. „Es kann sein, dass die Klimaanlage nicht funktioniert, dass die Geräte verschimmelt sind oder dass wir mitten in der OP Stromausfälle haben“, berichtet Charlotte Stehn. In einem Land, in dem Stromausfälle zum Alltag gehören, muss das Team auf alles vorbereitet sein. Akkubetriebene Stirnlampen, Notfallbeatmungsgeräte und mobile Spritzenpumpen gehören deshalb fest zum Gepäck.
Verbrauchsmaterial wird aus Deutschland mitgebracht
Und das Gepäck ist ohnehin eine logistische Herausforderung. Während die Chirurgen ihre Instrumente meist vor Ort sterilisieren können, muss das Anästhesieteam nahezu das gesamte Verbrauchsmaterial aus Deutschland mitbringen: Infusionen, Kanülen, Schläuche, Medikamente. „Unser Hauptgepäck besteht aus Material für die Narkosen. Da bleibt für Privates kaum Platz“, erklärt Dr. Svenja Wildfeuer. Jede noch so kleine Packung wird abgewogen, jede Tasche auf Gewicht optimiert. Selbst das Passieren des Zolls ist jedes Mal ein Nervenkitzel – ob alle Kisten durchgehen, weiß man erst, wenn man das Land betreten hat.
Das Ärzteteam reist seit Jahren in nahezu gleicher Besetzung. Neben den beiden Solinger Anästhesistinnen gehören der Projektleiter Dr. Thomas Clasen, der Salzburger Oberarzt Christian Brandtner, OP-Pfleger Marco Lo Grande sowie wechselnde Assistenzärzte und Studenten dazu. „Wir sind acht bis neun Personen, die meisten kennen sich seit vielen Jahren. Das ist ein großer Vorteil, weil man sich blind aufeinander verlassen können muss“, betont Charlotte Stehn. Gerade wenn Technik versagt oder Strom ausfällt, zeigt sich, wie wichtig dieses Vertrauen ist.
Für die Familien eine Zeit voller Geduld und Hoffnung
Für die Familien bedeutet die Operationswoche eine Zeit voller Geduld und Hoffnung. Sie wohnen in einfachen Hütten, die sie „Campingplatz“ nennen, während ihre Kinder auf die OP vorbereitet werden. Nach dem Eingriff bleiben die kleinen Patienten noch ein bis drei Nächte im Krankenhaus, wo die Eltern die Betreuung übernehmen. Postoperative Komplikationen sind selten, dennoch verlangt insbesondere die Behandlung von Gaumenspalten höchste Aufmerksamkeit. „Wir müssen unseren OP-Plan sehr genau abstimmen, damit wir Komplikationen nicht allein zurücklassen, wenn wir abreisen“, erläutert Dr. Svenja Wildfeuer.
Die Bedingungen sind oft schwierig, doch die Motivation des Teams bleibt ungebrochen. „Unser Ziel ist, dass jedes Kind gesund und in einem besseren Zustand zu seinen Eltern zurückkehrt. Dieses Versprechen müssen wir halten können“, macht Wildfeuer deutlich. Die Dankbarkeit der Familien ist riesig. Viele Eltern haben zuvor kaum Hoffnung auf Hilfe gehabt, andere müssen mit der schmerzhaften Nachricht leben, dass ihr Kind wegen Infekten oder schwerer Vorerkrankungen nicht operiert werden kann.
Weiterbildung angolanischer Ärzte bei den Operationen
Neben den medizinischen Erfolgen ist auch die Nachhaltigkeit ein wichtiger Aspekt. Immer wieder assistieren angolanische Ärzte bei den Operationen, lernen die Techniken und führen inzwischen selbst einfache Eingriffe durch. So wächst im Land langsam eine eigene Expertise, auch wenn spezialisierte Fachkräfte nach wie vor rar sind.
Finanziert wird der Einsatz durch den Verein Pro Interplast, der Spenden sammelt und die organisatorische Abwicklung übernimmt. „Ohne diese Unterstützung könnten wir weder Flüge noch Unterkunft noch das Material stemmen“, betont Stehn. In den vergangenen Jahren mussten die deutschen Ärzte immer stärker auch Kosten vor Ort übernehmen, etwa für Transport oder Inlandsflüge. Entsprechend ist das Team auf zusätzliche Spenden angewiesen, um den Fortbestand des Projekts zu sichern.
Eine Reise nach Angola, die alle Beteiligten verändert
Für die Ärztinnen der Klinik für Anästhesie, Operative Intensiv- und Palliativmedizin am Solinger Klinikum ist jeder Einsatz eine Grenzerfahrung – körperlich, logistisch und emotional. Die Reise nach Benguela dauert mit Zwischenstopps, Inlandsflügen oder gar Busfahrten oft mehr als 20 Stunden. Vor Ort wartet eine Woche voller Operationen, die alles abverlangen. Doch wenn sie nach Deutschland zurückkehren, bleiben Bilder, die den Einsatz lohnend machen: Kinder, die zum ersten Mal unbeschwert lächeln können, Eltern, die vor Dankbarkeit weinen und die Gewissheit, dass ihre Arbeit einen unmittelbaren Unterschied im Leben dieser Familien macht.
„Es ist jedes Mal eine Anstrengung, aber auch ein großes Glück. Diese Einsätze sind für uns zu einer Herzenssache geworden“, fasst Dr. Svenja Wildfeuer zusammen. Ende November wird das Team erneut nach Angola aufbrechen. Wieder werden Kisten gepackt, Geräte überprüft, Impfungen aufgefrischt und Visa beantragt. Und wieder wird in Benguela ein Operationssaal vorbereitet, in dem in einer Woche bis zu 50 kleine Patientinnen und Patienten eine neue Chance erhalten – auf ein gesundes Leben und ein unbeschwertes Lächeln.
Spendenkonto Angola-Einsatz
Pro-Interplast
Volksbank Seligenstadt e. G.
IBAN: DE24 5069 2100 0000 2802 08
BIC: GENODE51SEL
Bitte im Verwendungszweck „Angola“ und eure Adresse angeben.
Eine Spendenquittung wird selbstverständlich ausgestellt.
Kontakt
Pro-Interplast Germany e.V.
E-Mail: info@pro-interplast.de
Web: www.pro-interplast.de
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!