Von Dr. Christoph Glumm
Weihnachten 1944. Es war dieser Heilige Abend, von dem mein Vater oft erzählte. Ein Sonntag. Der letzte Heilige Abend im Zweiten Weltkrieg. Nur das konnte er damals nicht wissen. Die Gräuel des Krieges waren für ihn, wie für alle, grausame Gegenwart an diesem 24. Dezember, ohne ein absehbares Ende. Jeder Tag brachte neue Entbehrungen und Ängste mit sich. Solingen lag in Schutt und Asche. Bei den Angriffen am 4. und 5. November warfen 165 britische Bomber annähernd 1.000 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die Stadt. Es wurden mindestens 100 Großfeuer gezählt. Unzählige mittlere und kleinere Brände wüteten allerorten. Tagelang lag der beißende Brandgeruch über der Stadt. 1.700 Menschen verloren ihr Leben und 20.000 Solinger hatten in diesem überaus strengen Winter 1944 kein Dach mehr über dem Kopf. Darunter auch mein Vater und seine Familie.
Am zweiten Tag der Bombardierung wurde das elterliche Schieferhaus in Schutt und Asche gelegt. Seine Eltern und die jüngeren Geschwister hatte das Inferno hautnah miterlebt. Sie spürten die Druckwellen, den schwankenden Boden, die Erde und den Staub, der zwischen den Holzplanken ihres kleinen Erdbunkers bei jeder ohrenbetäubenden Detonation auf ihre Köpfe und Hände rieselte. Eng zusammengedrängt kauerten sie in diesem kleinen Erdloch, das mein Opa im Garten gegraben hatte. Zum Glück, muss man sagen. Hätten sie, wie es üblich war, Schutz im Keller gesucht, wären sie wahrscheinlich nicht mehr am Leben, so wie eine Nachbarfamilie, die dort, nach einer quälend langen Zeit, erstickte, ohne dass man ihnen helfen konnte. Mein Vater war am Angriffstag im sogenannten „Bärenloch“, einem großen verwilderten Areal unterhalb des Elternhauses, in dem er, zusammen mit seinen Freunden, in der Regel die Tage verbracht. Die Jungen hatten dort Schutz gefunden und in relativer Entfernung diese Hölle miterlebt. Sie waren unverletzt geblieben.
In den darauffolgenden Tagen rettete die Familie aus den Trümmern das wenige, was noch zu retten war. Darunter wundersamerweise auch die aus einer Baumwurzel von meinem Urgroßvater gebaute Familienkrippe. Sie hatte, zusammen mit Maria und Josef, dem Christuskind und einigen Schafen, keinen Kratzer abbekommen. Ein besonderer Umstand, den mein Vater immer hervorhob. Damals – 1944 – war diese Krippe Teil des überschaubaren Gepäcks, das die Familie mit in die Nachbarstadt nach Cronenberg nahm, zu Tante Henriette und Onkel Paul, der Schwester und dem Schwager meiner Oma. Das Paar hatte eine noch intakte Wohnung, was in diesen eisigen Tagen, neben dem eigenen Leben, der größte Besitz war. Auf den wenigen Quadratmetern rückte und raufte man sich so gut es ging zusammen und plante, trotz allem Ungemach, auch das Weihnachtsfest angemessen zu feiern. Allerdings wollte die Stimmung, verständlicherweise, nicht weihnachtlich werden, was meinen Vater in besonderer Weise betrübte. Er war, und das sein Leben lang, der absolute „Weihnachtsmensch“, was mir und uns allen wundervolle Momente geschenkt hat. Doch stellte sich eben dieses wohlige Gefühl, und die damit verbundene Ehrfurcht vor der eigentlichen Botschaft des Festes, an diesem Heiligen Abend 1944 bei ihm und den anderen nicht ein.
Meine Erzählung könnte an dieser Stelle enden, sicherlich traurig, aber mit einem gewissen Sinn. Ich hätte eine Kriegsweihnacht beschrieben, wie es sie in abgewandelter Form tausendfach gab. Im Idealfall hätte meine Darstellung bewirkt noch einmal inne zu halten, die eigenen Alltagssorgen an dem Geschilderten zu messen, um vielleicht wieder dankbarer zu werden, zufriedener mit dem Leben und die eigene „Wichtigkeit“ noch einmal neu einzunorden. Aber die Erzählung meines Vaters geht weiter.
Am 24. Dezember 1944 bat ihn, er war damals 14 Jahre alt, seine Mutter noch einmal das zerstörte Familienhaus aufzusuchen, um dort etwas zu holen. Nachdem er sich dick vermummt und warm eingepackt hatte, machte er sich zu Fuß auf den Weg. Zunächst von Cronenberg steil hinunter in die Kohlfurth, dann hinauf zum Haus auf der Hasselstraße und wieder zurück nach Cronenberg. Eine Strecke für die er zwei oder auch drei Stunden benötigen würde. Zu der geplanten Feier am Abend wäre er wieder zurück in der warmen Stube. Es war wirklich bitterkalt. Und auf dem Rückweg dunkel. Stockdunkel, denn Lichter waren verboten. Verstöße wurden scharf geahndet. Doch die Atmosphäre in dieser Dunkelheit, in dieser speziellen Nacht, war außergewöhnlich: Ein silbrig heller Mond, ein sternenklarer, wolkenloser Nachthimmel und Stille. Totenstille. Das Knarren der Schritte im frisch gefallenen Pulverschnee, der Herzschlag und sein Atem waren die einzigen Geräusche, die er unter der dicken Wollmütze hörte. Er war alleine unterwegs, entlang dieser Straßenbahnlinie zwischen Cronenberg und Solingen, die seit den Luftangriffen vor sieben Wochen nicht mehr genutzt wurde.
Die Trasse führte durch mehrere Wäldchen und einen Tunnel. Der war ihm unheimlich. Die alten, feuchten Mauern machten ihm ein mulmiges Gefühl und er war froh nach einigen Minuten die Sterne wieder sehen zu können. Der Kontrast zwischen der modrigen Finsternis und den im Mondlicht tausendfach glitzernden Eiskristallen, die sich wie ein Teppich aus Diamanten vor ihm ausbreiteten, war überwältigend. Ein magischer Moment. Er blieb stehen und sog die kalte frische Luft tief in seine Lungen. Von dort beobachtete er, wie sich in der Ferne schemenhaft ein Schatten aus der Baumgruppe löste. Ein hoch gewachsener schlanker Mann, dessen Umrisse klarer wurden, mit jedem bedächtigen Schritt, den dieser auf ihn zu machte, blieb nach kurzer Zeit vor ihm stehen. So nah, dass mein Vater die warmen Nebelwolken seines Atems auf dem Gesicht spüren konnte. Der Mann blickte ihm in die Augen. Mit klarer und fester Stimme sagte er: „Hab keine Angst! Heute ist der Heiland geboren!“ In dieser besonderen Situation waren es Worte, die durch Mark und Bein gingen. Die sein Innerstes berührten. Mein Vater blieb wie angewurzelt stehen, wusste nichts zu erwidern und beobachtete, wie dieser Mensch seinen Weg fortsetzte, um im Dunkel des Tunnels zu verschwinden, genauso plötzlich und unerwartet, wie er gekommen war.
„Das war ein surrealer Moment, nicht von dieser Welt“, sagte mein Vater. „Es fühlte sich an, wie die Begegnung mit einem Engel, der in dunkelster Nacht plötzlich erscheint, der alle Sorgen und Nöte kennt, den Krieg, die Zerstörung, die Ängste. Der Hoffnung bringt in der Hoffnungslosigkeit, denn uns ist der Retter geboren, der Erlöser, von aller Ungerechtigkeit und allem menschlichen Ungemach. Manchmal sehen wir diese Erlösung schon in unserem Erdenleben. Das ist dann Gnade. Sicherlich aber in der anderen Welt“. So sein Credo!
„Hab keine Angst. Heute ist der Heiland geboren.“
Mit diesen Worten im Gepäck traf mein Vater am Heiligen Abend 1944 wieder in Cronenberg ein. Vermutlich wird er dort von seinem Erlebnis berichtet haben. Vermutlich hat seine Weihnachtsbotschaft das anstehende Fest etwas erhellen können. Ich weiß es nicht. Darüber haben wir nie gesprochen. Ich weiß aber, dass mein Vater diese besondere Begegnung nie vergessen hat. Sie hat ihn durchs Leben begleitet.