Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 1 – Tödlicher Schlag
Aus dem Russischen
Kapitel 1.1
Die bunten Pullover, ausgestellten Röcke und Jeans passten überhaupt nicht. Lucia warf einen letzten, frustrierten Blick auf die Kleidung, die über das Bett verteilt lag. Aus dem ganzen Haufen hätte sie höchstens die Jeans gewählt, wären diese nicht mit glänzenden Nieten übersät gewesen.
Julietta, die neben ihr stand, hob die Hände.
„Na, wenn dir das auch nicht passt, weiß ich wirklich nicht mehr weiter“, seufzte sie hoffnungslos. Lucia sah Julietta an, und ein Gedanke blitzte in ihrem Kopf auf.
„Die da“, sagte sie und deutete auf die Hose, die Julietta trug.
Julietta blickte hinunter auf ihre Alltagskleidung und runzelte verwirrt die Stirn.
„Aber die sind doch schwarz“, protestierte sie widerwillig, sich nur ungern von ihrem bequemen Kleidungsstück trennend.
„Perfekt, das passt“, murmelte Lucia gedankenverloren und musterte die Hose. „Hast du auch einen Pullover?“, fragte sie.
„Auch schwarz?“ Julietta blinzelte, als ihr klar wurde, dass sie bald alles, was schwarz war, abgeben musste. „Ich habe einen aus Wolle!“ Lucia winkte ab.
„Fürs Erste reicht das“, sagte sie. „Glaubst du etwa, ich finde nicht noch was Cooles für mich?“
„Klauen?“ fragte Julietta scherzhaft. „Oder vielleicht etwas Schlimmeres…“ Ihre Augen weiteten sich, und sie hielt sich die Hand vor den Mund. Lucia brach in schallendes Gelächter aus.
„Hältst du mich etwa für eine Verbrecherin? Nein, natürlich werde ich es kaufen“, sagte sie und krempelte entschlossen die Ärmel ihres Schlafanzugs hoch. „Also, gibst du sie mir?“ Julietta seufzte resigniert und öffnete den Reißverschluss ihrer Hose.
Besser so, dachte Lucia, anstatt mich wie einen Clown anzuziehen. Sie streckte sich und gähnte, den Mund weit aufgerissen.
„Solange du die Hose holst und den Pullover suchst, gehe ich duschen“, sagte sie und verließ das Schlafzimmer.
Unter der Dusche ließ Lucia ihren Schlafanzug auf den Boden fallen, drehte den Wasserhahn auf und stellte sich unter den warmen Wasserstrahl. Es waren drei Tage vergangen, seit sie in Rom angekommen war. In den ersten Minuten hatte sie sich an ihren geschwächten Körper gewöhnen müssen, den sie für ihre Mission erhalten hatte, an die Stimmen, die in ihrem Kopf hallten, und sie musste lernen, das brennende Verlangen zu kontrollieren, alles zu zerstören, was ihr in den Weg kam.
–
Lucia lag im Gras, über ihr schwankten die Zweige einer Zeder im Takt des Windes. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Obwohl die Sonnenstrahlen den Boden noch erleuchteten, fror sie schrecklich. Instinktiv rollte sich Lucia zusammen und umklammerte ihre Schultern. Die Berührung ihrer Haut löste gemischte Gefühle aus – Liebe zu ihrem neuen Selbst, Angst vor ihrer neu gewonnenen Verwundbarkeit und eine süße, unbekannte Zärtlichkeit, als ihre Fingerspitzen ihre Haut streiften.
Lucia spannte sich an. Zwischen dem Rascheln der Herbstblätter und den Pfoten kleiner Tiere hörte sie deutlich ein fremdes Geräusch. Jemand näherte sich ihr vorsichtig. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Sie würde jeden Angriff abwehren, auch wenn sie kaum genug Kraft hatte, sich auf den Boden zu stützen.
„Du wirst mich nicht verraten“, befahl sie ihrem widerspenstigen Körper. Der Fremde trat so leise auf, dass kein einziges Tier erschrocken davonlief. Lucia atmete tief durch und entspannte sich. Sie erkannte ihre Verbündeten immer.
Die Zweige des Buschs teilten sich, und ein Mädchen trat hervor. In den Händen hielt sie eine Decke.
„Da habe ich dich also gefunden“, sagte das Mädchen, kniete sich hin und hüllte Lucia ein. „Ich heiße Julietta Bardi“, sagte sie und eine Haarsträhne fiel auf ihre Stirn. „Ich komme gerade von der Arbeit, habe keine Ersatzkleidung dabei“, fügte sie hinzu. Sie gehörte offensichtlich nicht zu den Wächtern, die ihre Zielpersonen im Handumdrehen finden würden. Wächter, geborene Fährtenleser, die geschaffen wurden, um dunkle Wesen zu jagen und zu vernichten, hätten sofort gewusst, wohin sie gehen mussten, und Lucia hätte nicht lange auf dem Boden frieren müssen.
„Lucia“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Julietta strich sich die Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte sanft.
„Ich helfe dir, zum Auto zu kommen“, sagte Julietta und hielt sie vorsichtig am Arm fest. Lucias Beine gaben nach, doch sie ließ sich nichts anmerken. Sobald sie auf den kalten Boden trat, zog sie ihre Hand weg. Sie sollte nicht denken, dass ich schwach bin, dachte Lucia und folgte Julietta mit unsicherem Schritt.
Die Mädchen bahnten sich ihren Weg durch den Nadelwald und erreichten schließlich die Straße. Am Straßenrand stand ein weißer Kia.
„Deiner?“ Lucia nickte in Richtung des Autos.
„Ja“, antwortete Julietta. Sie öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, und Lucia ließ sich auf den Ledersitz fallen. Sie verzog das Gesicht, als Julietta ihr den Sicherheitsgurt anlegte. Sie hatte kaum Zeit gehabt, sich an ihren Körper zu gewöhnen, und schon wurde sie in etwas gefesselt – wenn auch nicht in stählerne Ketten.
„Und bitte, sprich leiser“, sagte Julietta, als der Motor ansprang. „Wir müssen alle unsere Kräfte im Zaum halten.“
Na toll, dachte Lucia, ich bin doch nicht gekommen, um meine Kräfte zurückzuhalten, sondern um sie zu nutzen.
„Wo sind wir?“ fragte sie leise. Es wurde wärmer im Auto, und langsam begann sie, sich aufzuwärmen.
„In Italien“, antwortete Julietta und bog auf die Autobahn ab. „Genauer gesagt, in Rom.“
Die verschiedenen Gerüche im Auto lösten in Lucia einen scharfen Schmerz im Magen aus. Sie schluckte schwer.
„Bist du hungrig?“ Julietta warf einen flüchtigen Blick auf sie. „Das nennt man Hunger“, erklärte sie. „Der Körper braucht Energie.“ Sie beugte sich zum Handschuhfach, öffnete es und zog eine Packung Kekse heraus. „Das ist zwar keine echte Batterie, aber es bringt dich nach Hause. Es ist eine Sache, den Hunger theoretisch zu kennen, und eine andere, ihn wirklich zu spüren.“
Lucia riss die Verpackung auf und die Kekse fielen auf ihre Knie. Vielleicht sollte sie auf Juliettas Rat hören, die mindestens zehn Jahre älter war als sie. Lucias Nasenflügel weiteten sich, als sie den Duft der Kekse einatmete. Ihr Inneres bebte, ihr Mund füllte sich mit Speichel, und ihr Magen knurrte.
„Isst du oder nicht?“ Julietta deutete auf die Kekse. „Sonst wird dein Magen dir ordentlich die Meinung sagen.“
Lucia nahm einen Keks, brach ein Stück ab und steckte es in den Mund. Sie schloss die Augen, als der Speichel das Keksstück auflöste und sich ein süßer Geschmack in ihrem Mund ausbreitete.
„Der Körper verlangt ständig nach etwas“, fuhr Julietta fort. „Wenn du ihm nichts gibst, rebelliert er.“ Lucia nickte zustimmend, während sie das erste Essen ihres irdischen Lebens genoss. Der Körper verlangt tatsächlich seinen Teil.
„In den ersten Tagen will man nur essen und schlafen. Wir müssen Kräfte sammeln“, sagte Julietta. Das Auto fuhr in die Stadt, und Lucia betrachtete interessiert die vorbeiziehenden Gebäude.
„Später verlangt der Körper auch nach anderen Dingen. Daran kommst du nicht vorbei“, fügte Julietta mit einem rätselhaften Lächeln hinzu. Lucia hatte inzwischen die ganze Packung Kekse leergegessen, ohne es zu bemerken.
„Und du?“
„Dem kann man nicht entkommen“, wiederholte Julietta. „Übrigens“, sie klickte mit der Zunge, „du hast einen ganz guten Körper. Nur die Brust könnte größer sein, das gefällt den Männern.“
Mir ist egal, was ihnen gefällt, dachte Lucia und berührte ihre kleine, wohlgeformte Brust mit den aufwärts gerichteten Brustwarzen. Sie gefiel ihr so, wie sie war, und das war die Hauptsache.
Der Kia bog in den Hof eines zweistöckigen Hauses ein und hielt vor der Eingangstür. „Auch wenn es inzwischen das Jahr 2067 ist, läuft man nicht nur in einer Decke herum“, kicherte Julietta und öffnete die Tür. „Also, schnell raus und rein ins Haus. Meine Wohnung ist im Erdgeschoss.“
Juliettas Wohnung konnte man kaum als Apartment bezeichnen: Zwei Zimmer und eine kleine Küche. Die Mädchen aßen zu Abend, und Lucia legte sich sofort schlafen. Der Pyjama störte sie, also zog sie ihn aus und blieb nackt unter der Decke liegen. Sie zog die Bettdecke bis ans Kinn. Es war der 14. November und selbst in Italien war es zu dieser Jahreszeit nicht mehr warm. Der 14. November – mein erster Tag auf der Erde. Mein Geburtstag, dachte sie und schloss die Augen.
Seit Anbeginn der Menschheit hat diese nie wirklich akzeptiert, dass die unsichtbare Welt direkt neben ihr existiert. Nehmen wir uns, die Engel, als Beispiel. Seit Jahrhunderten sind wir immer in der Nähe: Wir mieten Wohnungen im Nachbarhaus, arbeiten im Büro ein Stockwerk höher, spazieren durch denselben Park. Als Engel in menschlicher Gestalt leben wir ein Leben wie gewöhnliche Menschen und erfüllen dabei unsere Mission. Die menschliche Welt ist eine Kopie unserer eigenen, mit ihrer eigenen Hierarchie und ihren eigenen Gesetzen.
Die Ältesten unter uns sind die Erzengel, und jede Sphäre ihrer Verantwortung ist ihnen zugeteilt. Die Engel, die ihnen unterstellt sind, müssen die Aufgaben erfüllen, für die sie geschaffen wurden. Die Erdpfleger sorgen für die Natur und alles, was damit zu tun hat. Als Bauern, Agronomen und Tierärzte unterstützen sie die Menschen, die ihr Leben der Natur gewidmet haben. Die Beschützer wachen über die schwächsten Menschen – Kinder und alte Menschen – und arbeiten in Schulen und sozialen Diensten. Die Heiler, wie der Name schon sagt, haben nicht die Macht zu heilen, aber sie sind hervorragende Ärzte und Psychologen.
Die Vermittler sind Mittler zwischen der spirituellen und physischen Welt, aber auch zwischen Menschen. Sie sind Diplomaten, Redner und Journalisten. Die Inspiratoren unterstützen das kreative Potenzial der Menschheit. Sie helfen Künstlern und Musikern bei ihrer Arbeit und werden von den Menschen als Musen betrachtet. Das ist in Ordnung, solange sie ihr Werk nicht aufgeben.
Die Gesetzeshüter sehen sich als die wichtigsten unter uns. Sie sind Berater der Herrscher und haben Einfluss auf das Schicksal ganzer Völker. Die Beschützer betreuen Menschen, die vom rechten Weg abgekommen sind. Sie sind oft die letzte Chance, eine Seele zu retten, und arbeiten in Gefängnissen und Rehabilitationszentren, um Menschen wieder auf den richtigen Weg zu bringen – manchmal bis in ihre letzten Momente.
Und schließlich gibt es die Wächter, geschaffen, um die dunklen Mächte zu vernichten. Sie sind Krieger. Engel kämpfen seit jeher gegen jene, die die Freiheit der Menschen bedrohen. Auf der Erde sind sie als Polizisten, Soldaten und Spezialeinheiten in jedem Land tätig. Zu den Wächtern zählen auch die Racheengel. Es gibt nicht viele von ihnen, aber ihre Stärke und Entschlossenheit sind so groß, dass Dämonen sie am meisten fürchten. Diese Engel wollen die Dämonen entweder vernichten oder auf ihre Seite ziehen.
– Fortsetzung folgt –
Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 44-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.
Hallo!
Ich dachte bisher, das man Hörbücher anhören kann, wie der Name schon besagt und nicht angewiesen ist, es zu lesen!
Guten Morgen, wo in diesem Artikel steht das Wort „Hörbuch“?