
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Hebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 1.1
Die Sonnenstrahlen drangen durch die halb heruntergelassenen Jalousien. Lucia kniff die Augen zusammen und drehte sich zur Wand. Leo hatte wieder vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Offenbar deshalb, weil die Stadt gestern den ganzen Tag in Nebel gehüllt war und der Junge naiv angenommen hatte, dass auch heute die Straßen von einem weiß-klebrigen Schleier bedeckt sein würden.
„Hast du es denn immer noch nicht begriffen, Junge?“, tadelte sie ihn, „das Wetter in San Francisco ist unberechenbar!“
Lucia glitt aus dem Bett, streckte sich und gähnte ausgiebig, wobei sie sich die Hand vor den Mund hielt. Heute war Montag – der erste Tag der Woche. Der erste Tag ihres Auftretens im Camp. Na dann, Jungs, schauen wir mal, was ihr für Früchte seid!
Die junge Frau wusste: Teenager sind einfach hitzköpfige, oft ihren Gefühlen ausgelieferte Kinder. Es ist ein Wendepunkt im Leben eines jeden Menschen, wenn er zwischen zwölf und siebzehn Jahre alt ist – in jener Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein, in der manches erlaubt ist, manches nicht, und das Verbotene eine süße Versuchung darstellt, gegen die anzukämpfen nicht leicht ist. Ein Teenager sieht die Welt durch das Prisma seiner Gefühle – hitzig, manchmal unbeschreiblich.
Lucia schmunzelte. „Hormone spielen verrückt.“ Das ist also die Antwort auf alle plötzlichen Stimmungsschwankungen im Laufe des Tages. Sie ging ins Badezimmer – nackt, ungeniert und schön, hätte Leo noch hinzugefügt. Lucia schüttelte den Kopf, ihre schwarzen Haare fielen über die Schultern und streichelten die Haut. Dann schloss sie die Augen und leckte sich über die Lippen, während sie sich an die schlaflose Nacht mit Leo erinnerte. Zehn Jahre war es her, seit sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten – und doch schien sich seit jenem Abend nichts verändert zu haben. Nein, verbesserte sie sich, es war besser geworden. Sie kannten jeden Zentimeter des Körpers des anderen, wussten genau, wie sie sich gegenseitig Freude bereiten konnten und die Gefühle waren stärker und tiefer geworden, da sie nicht nur körperliche Anziehung verband, sondern auch das gemeinsam Erlebte. Das Gute und das Schlechte. Vom Guten war mehr da. Und möge es so bleiben.
Die Tropfen des warmen Wassers rissen Lucia aus ihren Gedanken an die gemeinsame Zeit mit ihrem Freund und holten sie zurück zu den Aufgaben des heutigen Tages.
Mit seinem wahrhaft frühlingshaften Wetter brachte San Francisco Lucia Freude und Hoffnung ins Herz – die Hoffnung, dass alles gelingen würde. Elijah im Camp helfen, Menschen vom Weg in die Hölle abbringen, Dämonen vernichten – je mehr, desto besser. Sie seufzte. Der Umzug in ein anderes Land, in eine fremde Stadt, hatte Veränderungen gefordert. Und er hatte eine Gegenleistung verlangt – und für eine Leistung muss man sich erkenntlich zeigen. In ihrem Fall war die Bezahlung sofort erfolgt: der Verlust der Freiheit. Ab heute waren sie und Leo Teil von Elijahs Team, halfen ihm bei der Arbeit mit den Jugendlichen und erfüllten die Aufgaben, die der Psychologe ihnen auftrug. Nein, sie waren immer noch Wächter, aber jetzt Wächter im Dienste von Ageors Anführer.
Lucia warf das nasse Handtuch auf den Boden. Nie, hört ihr, nie würde sie sich einem Arzt unterordnen – auch wenn er ein Engel war! Nur ihrem Aranit. Und Angel. Genervt schnaubte sie, während sie sich eine Jeans überzog. „Und warum bist du mir letzten Monat über den Weg gelaufen, Angel? Ich hätte es alleine geschafft. Ja, es gab die Möglichkeit, den Sonnenaufgang nicht mehr zu erleben, aber sich einem Heiler zu unterwerfen – das ist zu viel.“ Doch der Befehl des Erzengels war nicht anzufechten – dieser Gedanke trieb Lucia zur Akzeptanz ihrer neuen Rolle.
Die größte Veränderung war jedoch der Umgang mit den Kindern – mit denen, die sie stets für Egoisten gehalten hatte. Und sie hatte ihre Meinung nicht geändert und würde es auch nicht. Ganz sicher nicht. Kleine Rotznasen, die ihre Zeit vergeudeten und die Nerven strapazierten. Keine Disziplin, keine Ordnung bei euch. Doch weder das eine noch das andere würde ihr bei den Jugendlichen Respekt verschaffen – vielmehr würde es sie in ihren Augen herabwürdigen, selbst trotz übernatürlicher Kräfte. Sie musste es anders angehen. Lucia band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz. Und sie wusste bereits, wie.
Bevor sie ins Camp fuhr, schaute Lucia in ein nahegelegenes Café. Sie liebte große Städte – laut, voller Menschen auf den Straßen, pulsierend vor Leben aus allen Ecken der Welt. San Francisco war eine Stadt der Kontraste, in der jede Straße mit ihrer bunten Vielfalt von einer alten, spannenden Geschichte erzählte – durchdrungen von verschiedenen Kulturen und Denkweisen. Das Haight-Ashbury-Viertel, dessen Wände mit Graffiti bemalt waren, strahlte Freiheit und Liebe aus, während Richmond, das sich bis zur Küste des Pazifiks erstreckte, als das neue Chinatown galt. In Mission lebten vor allem Einwanderer aus Mexiko und Südamerika, während Marina – ein märchenhaftes Viertel am Ufer der Bucht – von wohlhabenden Bürgern bewohnt wurde.
Lucias und Leos Apartment befand sich in einem der gläsernen Wolkenkratzer in South Beach. Sie hatte diesen Stadtteil nicht etwa deshalb gewählt, weil er zu den nobelsten zählte, sondern weil man von den Fenstern ihrer Wohnung im 31. Stockwerk aus den Sonnenuntergang über der nach der Stadt benannten Bucht bewundern konnte.
Während sie ihren schwarzen Kaffee ohne Zucker trank, bog sie nach rechts ab, wo eine Ducati geparkt war. In Italien hatten sie Bianca gebeten, ihre Motorräder zu verkaufen, und sich nach ihrer Ankunft neue gekauft. Lucia blieb ihrer Vorliebe treu und wählte erneut ihre Lieblingsmarke. Ageor half bei der Wohnung – die Diener mieteten immer Wohnungen in bestimmten Gebäuden – doch was den Transport betraf, mussten sich die Neuankömmlinge selbst darum kümmern. Zum Glück hatte Lucia Geld auf ihrem Konto, und auch Leo hatte in den Jahren beim Amt für sozialen Bevölkerungsschutz eine ordentliche Summe angespart. So mussten sie nicht warten, bis Bianca den Verkaufserlös überwies, sondern konnten sich bereits nach wenigen Tagen ein neues Fahrzeug leisten.
Leo war schon zum Camp gefahren, noch bevor der letzte Stern am Himmel verblasst war, aber sie hatte beschlossen, etwas später nachzukommen. Was sie an der Zusammenarbeit mit Elijah wirklich reizte, waren – das musste sie zugeben – die Bezahlung. Ja, sie war ein Engel, aber ein Engel, der in einem menschlichen Körper auf der Erde lebte und das bedeutete: essen, wohnen und alles Notwendige besitzen, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Lucia verzog das Gesicht. „Himmlische Mächte, der Kaffee schmeckt süßlich und abgestanden.“ Enttäuscht seufzte sie und sah sich um. In der Nähe stand ein Mülleimer. Das Mädchen machte einen Schritt nach vorne und warf den Plastikbecher – ein perfekter Treffer.
„Wunderbar“, rieb sie sich die Hände. „Ich muss ein anderes Café finden. Am besten ein italienisches – sonst bringt mich dieser Pipi-Ersatz noch um.“
Lucia setzte ihre Motorradbrille auf und vor ihren Augen erschien ein digitales Bedienfeld. Sie wählte die gewünschte Route und lenkte die Ducati über die von Sonne durchfluteten Straßen in Richtung Süden.
Nachdem sie einen Park hinter sich gelassen hatte, der sanft in einen kleinen Wald überging, bog sie in Richtung eines hellgrauen Gebäudes ab, das zwischen den Bäumen auftauchte. Nachdem sie die weiß aufgemalte Markierung überfahren hatte, befand sich Lucia auf einem Hof mit ordentlich gestutztem Rasen. Sie parkte ihr Motorrad und ging die breite Treppe hinauf, die zu den Eingangstüren führte. Zwei Frauen kamen ihr entgegen und gingen gerade die Stufen hinunter. Eine von ihnen hielt ein Biologiebuch in der Hand und erzählte ihrer Kollegin, was einer der Schüler heute im Unterricht angestellt hatte.
„Auf den Randseiten seiner Klassenarbeit über die Flora Osteuropas“, begann die Lehrerin und strich sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht, „hat Dennis Ratakovsky – vielleicht zur besseren Veranschaulichung, ich weiß es nicht – eine Narbe gemalt.“
Sie verdrehte bedeutungsvoll die Augen.
„Und?“, fragte die andere Frau mit großen Brillen im Schildpatt-Muster überrascht. „Nichts Besonderes. Hauptsache, er hat die Frage richtig beantwortet.“
„Ernsthaft?!“ Die Biologielehrerin sah sie fassungslos an – offenbar war ihrer Kollegin nicht im Traum eingefallen, dass der Schüler mit seiner Zeichnung mehr gemeint haben könnte als ein einfaches Bild. „Er hat es so detailgetreu und realistisch gezeichnet, dass alle Schüler nun nicht nur wissen, wie Blumen sich fortpflanzen, sondern auch, wie es bei Menschen funktioniert!“
Lucia schmunzelte. Die beiden Frauen drehten sich sofort um und musterten die Fremde mit strengen Blicken. Ja, Kinder – die Blumen des Lebens, dachte Lucia, nur eben ziemlich früh erblühte Blumen. Und ihr da, Damen, was glotzt ihr so böse, als hättet ihr gerade euren Todfeind entdeckt? – wollte sie ihnen entgegenschleudern, aber sie schwieg.
Als sie auf gleicher Höhe mit den Lehrerinnen war, begrüßte Lucia sie mit einem knappen Nicken. Die Frauen erwiderten es ebenso. Haltung bewahren – immerhin seid ihr Pädagoginnen, dachte sie spöttisch.
Wer ist denn die Neue?, durchzuckte plötzlich ein fremder Gedanke Lucias Kopf. Die Biologielehrerin räusperte sich. Angst, dass du deine Neugier nicht zügeln kannst und dir die Worte rausplatzen?, schmunzelte Lucia innerlich.
Eine Lehrerin? Nein. Ärztin? Auch nicht, sie ist zu jung. Keine Schülerin, sieht älter aus. Vielleicht wurde sie vom Direktor einbestellt? Ich kann nur eines sagen – eine freche, viel zu selbstsichere Person, die sich wohl für etwas Besseres hält.
Die Gedanken der anderen Frau unterschieden sich deutlich von denen ihrer Kollegin – sie waren unangenehm abwertend und bezogen sich hauptsächlich auf Lucias äußeres Erscheinungsbild. Lucia wollte diesen Unsinn nicht länger hören. Euch kann man ja kaum was Besseres bieten als Klatsch und Tratsch, fauchte sie innerlich verärgert und errichtete eine mentale Barriere, um sich von äußeren Einflüssen abzuschirmen.
Ich habe wirklich kein großes Bedürfnis, die Gedanken von Menschen zu lesen, die besessen davon sind, andere zu verurteilen und alles abzulehnen, was anders ist als sie selbst – diese in Normvorstellungen eingezwängten Vertreter der sogenannten intelligenten Rasse.
Als sie die Treppe hinaufstieg, stand Lucia vor einer gläsernen Tür. Diese glitt sanft zur Seite und sie trat ein. Sie durchquerte einen langen Flur und bemerkte eine weitere Treppe. Der Geruch von gekochtem Huhn, Gewürzen und süßer Vanille stieg ihr in die Nase und führte sie wieder nach unten ins Erdgeschoss. Ihr Magen knurrte laut und erinnerte sie daran, dass sie heute noch nichts gefrühstückt hatte und ihr Mund füllte sich mit Speichel.
Aufhören!, befahl Lucia ihrem Magen, das hungrige Jaulen einzustellen und stieg zügig die nächste Treppe hinauf, die zu den Unterrichtsräumen führte. Sie hatte nicht vor, an den Klassenräumen vorbeizugehen, aus denen die Stimmen der Lehrer drangen. Glücklicherweise befanden sich ab dem ersten Stockwerk auf beiden Seiten des Gebäudes Treppenaufgänge.
Lucia wollte die Kinder jetzt noch nicht kennenlernen – dieser Moment würde ohnehin bald kommen, das war ihr klar. Aber lieber später, entschied sie und näherte sich den Stufen.
In dem Moment ertönte die Schulglocke. Die Türen der Klassenzimmer flogen auf und die Schüler strömten auf den Flur. Lucia machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen – die Kinder vermischten sich zu einer lärmenden Masse, wie eine Taubenschar, die durcheinanderrief, lachte, Witze rief.
Lucia erinnerte sich an ihren Besuch einer Schule in Rom in den ersten Tagen ihres Lebens auf der Erde. Damals hatte die Begegnung mit den Schülern einen unangenehmen Eindruck in ihrer Seele hinterlassen. Sie war über die Grausamkeit solcher Wesen empört gewesen – noch nicht alt genug, um über das Schicksal der Welt zu bestimmen, aber auch nicht mehr so hilflos wie Kleinkinder, die sich an die Hand ihrer Eltern klammern.
Entschlossen, sich später mit den Kindern vertraut zu machen, setzte Lucia leise einen Fuß auf die erste Treppenstufe. Doch offenbar hatte man dort oben anders entschieden – denn kaum hatte sie den Fuß gehoben, ertönte hinter ihr eine dünne, helle Stimme:
„Sind Sie die neue Lehrerin?“
Lucia stieß einen ergebenen Seufzer aus. Wer hat dir denn erlaubt, den Mund aufzumachen, Mädchen? Im Flur trat augenblicklich Stille ein.
Lucia drehte sich um. Rund zwanzig Schüler standen wie angewurzelt da und sahen sie mit unverhohlener Neugier an.
Ein Mädchen mit einem gelben Band im schwarzen Haar lächelte verschmitzt. Sie sah aus, als wäre sie etwa acht Jahre alt.
„Nein“, antwortete Lucia, bemüht, ihrem Tonfall eine friedliche Note zu verleihen.
Sofort verlor die Hälfte der Kinder das Interesse an der Fremden und machte sich auf den Weg zur Treppe.
Was glotzt ihr noch so?, schnaubte Lucia innerlich, während sie die restlichen Schüler betrachtete, die keine Anstalten machten, weiterzugehen – offensichtlich der Meinung, dass es ihre wichtigste Aufgabe sei, herauszufinden, warum ein neuer Mensch im Camp aufgetaucht war.
„Dann warum sind Sie im Camp?“, rief ein schmächtiger Junge aus der Menge. Er sprach Englisch mit einem furchtbaren Akzent.
Das ältere Mädchen neben ihm zupfte ihn am Ärmel.
„Dennis“, zischte sie.
„Was denn? Was hab ich denn gesagt?“, fauchte der Junge zurück.
Dennis, Lucias Mundwinkel zuckten amüsiert nach oben. Dennis Ratakovsky – der berüchtigte Künstler der Staubblätter.
„Ich hab doch nichts Beleidigendes gesagt, oder?“, wandte sich Dennis an die Fremde und blinzelte mit seinen ohnehin kleinen Augen. Er wuschelte sich durch das zerzauste, hellbraune Haar und rückte seinen lässig über die Schultern geworfenen Rucksack zurecht.
„Ich denke nicht“, antwortete Lucia mit einem Schulterzucken. „Aber ihr solltet langsam zum Unterricht gehen, Kinder.“
„Nö“, protestierte das achtjährige Mädchen, das sich ihr in den Weg stellte und sie nicht die Treppe hinaufgehen ließ.
Natürlich nicht, dachte Lucia trocken. Du lügst ja schon ziemlich gut, Kleine. Du hast jetzt Mathe und Sport.
„Wer ist sie?“, flüsterte einer der Schüler hinter Dennis.
„Keine Ahnung“, flüsterte der Junge zurück.
– Fortsetzung folgt –
Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.