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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 15.3)

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Wionot und Emma im Gespräch.
Wionot und Emma im Gespräch. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 15.3

Wionot öffnete die Augen. Der graue Himmel grollte bedrohlich und kündigte ein Unwetter an. Das ruhige Atmen von Emma, die auf seiner Brust schlief, verlockte den jungen Mann, wieder in den süßen Schlummer zurückzusinken, in dem die Sonne hell schien. Doch so sehr er auch den Wunsch verspürte, den ganzen Morgen im Bett zu verbringen, das Treffen mit einem Kunden war auf neun Uhr angesetzt und Wiоnot hatte nicht die Angewohnheit, Verabredungen zu verschieben. Es sei denn, es gab einen triftigen Grund.

Behutsam befreite er seinen Arm, legte Emmas Kopf vorsichtig auf ihr Kissen und glitt unter der Decke hervor. Ein tiefer Seufzer entfuhr Emmas Brust, ihre Wimpern zitterten, und ihre rechte Hand berührte das Kissen, auf dem noch vor einem Augenblick Wiоnot gelegen hatte. Sie strich über den noch warmen Stoff und, als sie begriff, dass sie allein war, öffnete sie die Augen.

„Gehst du schon?“, fragte sie mit verschlafener Stimme und streckte sich.
Wiоnot drehte sich um, während er den Reißverschluss seiner Hose schloss.
„Ich habe heute Morgen einen Kunden“, sagte er und zog sein Hemd an. „Lass uns um zwei treffen und gemeinsam essen“, schlug er vor.

Emma lächelte.
„An unserem Platz?“, vergewisserte sie sich.
„Natürlich“, antwortete Wiоnot und beugte sich zu ihr hinunter, um sie auf die Lippen zu küssen.

Emma fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und schloss kurz die Augen.
„Das wird nichts, Wiоnot“, sagte sie betrübt. Der junge Mann kannte den Grund bereits, ließ sie aber ausreden.
„Um eins muss ich ins Labor. Schon gestern habe ich versprochen, die Fotos in die Redaktion zu bringen“, erklärte sie und setzte sich im Bett auf, wobei sie ihren nackten Körper mit der Decke bedeckte. „Ich bin so müde, Wiоnot“, klagte sie. „Ich habe immer davon geträumt, mein eigenes Fotolabor zu haben. Und nun muss ich fast durch die ganze Stadt fahren, nur um die beste Qualität zu bekommen.“

Der junge Mann erstarrte und hatte noch nicht einmal begonnen, die Knöpfe seines Hemdes zu schließen. Als er Emmas Gedanken las, verstand er, wohin dieses Gespräch führen konnte. Ein wunder Punkt, den Wiоnot nie anrühren wollte, schimmerte in der Ecke ihres Bewusstseins auf. Dieses „Nomadenleben“, wie Emma ihre häufigen Umzüge nannte, ließ keine stabile Karriere und keine Ruhe zu. Obwohl sie erst zweimal umgezogen waren, klagte Emma seit dem letzten Herbst über die Unannehmlichkeiten, den Verlust ihrer gewohnten Umgebung, ihrer Freunde und Kollegen.

„Nachdem wir den Führerschein gemacht hatten, sind wir nach Hamburg gezogen. Gut, dort habe ich mein Studium im Fach Mediendesign an der Kunsthochschule abgeschlossen. Ja, sie war besser als die in Düsseldorf, also hatte ich nichts dagegen. Nach fast zwölf Jahren Arbeit in einem Modemagazin ziehen wir plötzlich nach Berlin. Und jetzt versuche ich seit zwei Jahren, eine Stelle in einem angesehenen Magazin zu bekommen“, sagte sie und griff sich an den Kopf. „Nicht einmal dieses verdammte Beauty-Magazin will mich. Und das ist nicht einmal mein Traum, Wiоnot. Ich wollte immer etwas anderes schaffen. Etwas, das sich von den üblichen Modeschauen unterscheidet. Zum Beispiel eine Ausstellung meiner eigenen Fotografien machen.“

„Wir waren in Algerien. Deine Fotos von den Dünen im Abendlicht sind einfach wunderbar.“
„Das war vor einem Jahr“, sagte Emma mit einem bitteren Lächeln und erinnerte sich an eine der Afrikareisen. „Ich habe mich auf den ersten Blick in dieses geheimnisvolle Land verliebt und will der Welt zeigen, dass die Wüste nicht einfach nur ein Haufen Sand ist. Sie lebt, sie ist real. Wenn du durch den Sand gehst, scheint er unter deinen Füßen zu atmen. Und der Wind erzählt die Legenden der alten Berber.“

„Also gut, ich halte dich nicht in Berlin fest. Du kannst schon morgen dorthin fliegen – ich komme später nach“, sagte Wiоnot.

„Ich weiß“, sagte das Mädchen leise. „Aber das wird nichts ändern …“
„Du willst Ruhe in Deutschland, um dann nach Afrika zu fliegen und dort deiner Leidenschaft nachzugehen“, unterbrach Wiоnot sie.

In Emmas haselnussbraunen Augen blitzte Angst auf.
„Ich mache mir Sorgen“, gestand sie. Eine der wahren Gründe, warum sie dieses schmerzhafte Thema wieder ansprach. „Nein“, schüttelte Emma den Kopf, „das wäre falsch. Ich habe Angst um dich, Wiоnot. Angst, dass ich eines Tages nach Hause komme und du bist nicht da. Oder dass mich der Vermieter deines Büros anruft und sagt, du hättest nicht bezahlt, weil … Oder ein Kunde ruft an und fragt, warum du nicht zum Treffen erschienen bist.“

„Dasselbe könnte ich auch über dich sagen“, erwiderte Wiоnot ruhig und begann, die Knöpfe seines Hemdes zu schließen. „Ich bin kein Wächter, meine Liebe“, fügte er mit einem leisen Lächeln hinzu.

„Aber du bist ein Engel“, widersprach Emma. „Wenn auch ein Heiler. Ein Dämon kann auch dich töten.“
„Wie jeden anderen Menschen auch“, sagte Wiоnot. Er steckte das Hemd in die Hose und ging in Richtung Schlafzimmertür. „Und ich bin nicht so schwach, wie du denkst. Außerdem habe ich immer eine Waffe bei mir.“

„Aber du bist nicht dazu berufen, zu töten“, gab Emma nicht nach. Sie warf die Decke zurück, sprang aus dem Bett, schnappte sich Wiоnot’s T-Shirt, zog es über und lief ihm hinterher. „Ich bin es leid, mir Sorgen zu machen. Leid, mich zu fürchten“, sagte sie und legte ihre Hand auf Wiоnot’s Handgelenk, um ihn an der Tür aufzuhalten. „Ich werde verrückt, wenn du nicht antwortest.“

Der junge Mann drehte sich um und strich ihr sanft über das Haar.
„Ich bin bei dir“, flüsterte er und küsste sie auf die Wange. „Ich habe es dir doch versprochen, erinnerst du dich?“ Seine himmelblauen Augen ruhten auf ihrem Gesicht, als sähen sie bis in ihre Seele hinein. „Und ich werde dich niemals verlassen.“

„Ich hoffe es“, murmelte Emma.
„Ich liebe dich“, flüsterte Wiоnot weiter.
Emma senkte den Blick.
„Und ich liebe dich“, antwortete sie leise.

Wiоnot zog sie an sich. Der Duft ihres Körpers lockte ihn, zu bleiben, alles andere zu vergessen. Er betörte ihn, ließ Zeit und Pflicht verschwimmen, wenn der Moment des Abschieds kam. Wiоnot wollte, dass Emma sich zuerst löste, unfähig, die Welle des Verlangens zu stoppen, die ihn beim Berühren ihrer Haut überkam.

„Schon gut“, sagte Emma schließlich und glitt aus seinen Armen. „Du musst los“, drängte sie ihn und zeigte Richtung Küche. „Den Kaffee machst du dir selbst.“

Wiоnot grinste, während er zusah, wie Emma ihr Höschen und dann ihre bequemen Haushosen anzog.

Das Mädchen, das er einst spätabends aus dem Haus von Irme Wagner geholt hatte, war längst eine erwachsene Frau geworden. Eine, die wusste, was sie vom Leben wollte, mit großen Hoffnungen auf die Zukunft und einem beachtlichen Gepäck aus der Vergangenheit. Und selbst wenn sie jetzt beide gleich alt wirkten, wäre es Wiоnot egal, was die Leute eines Tages sagen würden, wenn sie ihn in einigen Jahrzehnten mit einer älteren Frau sähen.

Während seines Lebens auf der Erde hatte Wiоnot beobachtet, wie sich die Technologien und die Sichtweisen der Menschen veränderten. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass Wandel ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur ist.

Von winzigen, preiswerten „Spatz“-Kleinwagen und noblen Mercedes-Benz-Limousinen bis hin zu Elektroautos verschiedenster Marken, deren Bordsysteme bereits im Voraus wissen, wo es freie Parkplätze gibt. Von Motorrädern, bei denen man noch einen Helm tragen musste, um sich zu schützen, bis zu modernen „Moto-Brillen“ mit integrierten Steuerungspanels. Von Haustelefonen, bei denen man warten musste, bis die Vermittlungsstelle die Verbindung herstellte, bis hin zu Smartphones und später zu Minifones, kaum größer als ein kleiner Finger, die Ende der Fünfziger populär wurden und auf Knopfdruck ein holografisches Zahlenfeld einblenden konnten.

Die Veränderungen betrafen auch das gesellschaftliche Leben. Wenn der Mensch noch in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts frei gewesen war, so wurde er mit dem Aufkommen des Internets, der allgegenwärtigen Überwachungs- und Erfassungsgeräte sowie der Politik der Kontrolle und des Eingreifens in das Privatleben – unter dem Vorwand, Frieden und Stabilität in Europa zu bewahren – zu einer Marionette, der man alles Mögliche einreden konnte. Die europäischen Staaten verloren ihre führende Rolle auf der politischen Bühne als demokratische Union. Und je mehr sie auseinanderzubrechen drohte, desto härter wurden alle Versuche der Menschen, sich ihre Freiheit zurückzuerobern, unterdrückt.

Die Abkehr von den Gründungsprinzipien der Europäischen Union geschah nicht über Nacht. Sie kroch, wie eine schleichende Schlange, durch Dornen zu ihrer Beute, wuchs wie eine Krankheit im ganzen Körper. Und das, was den Menschen gestern noch entsetzt hätte, war heute für ihn bereits zur Gewohnheit geworden.

Natürlich wäre es falsch, die Veränderungen in Emmas Verhalten mit den gesellschaftlichen Umwälzungen zu vergleichen. Denn sie war in erster Linie eine selbstständige Persönlichkeit, auf die niemand Druck ausübte – zumindest er nicht.

Wiоnot hatte ihr völlige Handlungsfreiheit gegeben, sobald sie die Schwelle seines Hauses überschritten hatte. Er überließ ihr die Wahl, ob sie in Düsseldorf bleiben oder nach bestandener Fahrprüfung sofort mit ihm mitkommen wollte. Und berauscht von den Gefühlen, die sie damals überfluteten, hatte Emma dem Umzug zugestimmt.

Selbst fünf Jahre später, als Wiоnot ihr seine wahre Natur offenbarte – überzeugt, dass sie eines Tages bemerken würde, dass er nicht alterte –, ließ er ihr die Entscheidung. Er wartete mit klopfendem Herzen auf ihre Antwort, nachdem er ihr erlaubt hatte, alles sorgfältig abzuwägen.

Deshalb würde er sich ihrer Träume niemals in den Weg stellen. Und es ging dabei gar nicht um die Fotografie, sondern um das ruhige, maßvolle Leben, an das Emma eigentlich nicht gewöhnt war. In ihr brodelte stets eine lebendige Energie, die es ihr unmöglich machte, Abende einfach auf dem Sofa zu verbringen. Doch die Angst um Wiоnots Leben hatte in ihr den Wunsch geweckt, Frieden zu finden.

Trotzdem wussten beide, dass ein friedliches Dasein für sie nur zu Depression und Unzufriedenheit führen würde. Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen nach Ruhe und der Furcht um ihren Geliebten, dessen Mission sie nicht ändern konnte, wusste Wiоnot, dass der Tag kommen würde, an dem Emma ihre Wahl treffen musste. Und diese Wahl würde ihrer wahren Bestimmung entsprechen. Jener Rolle, für die sie geschaffen war.

Das Schicksal hatte ihn noch nie getäuscht. So wie er vor dreiundzwanzig Jahren gewusst hatte, dass Emma in Deutschland bleiben musste, so wusste Wiоnot jetzt, dass die Stunde kommen würde, in der er sie gehen lassen musste. Um das zu erfüllen, was der Himmel für sie bestimmt hatte.

Wiоnot warf sich sein Jackett über und drehte sich um. Das Bett war gemacht und im Schlafzimmer fehlten die vertrauten Dinge: die Bücher über Mediendesign, das gemeinsame Foto. Das einzige, zu dem Emma ihn überredet hatte, als sie beide dreißig waren. Und die kleinen Figuren und Nippes, die Frauen so gern sammeln.

Zwei Jahre waren vergangen, seit Emma fortgegangen war, und doch drehte sich Wiоnot jedes Mal, wenn er sich für die Arbeit fertig machte, noch einmal um, um einen Blick auf das Bett zu werfen – in der Hoffnung, die schlafende Emma dort zu sehen, obwohl er genau wusste, dass sie nicht da war.

Gestern war er aus Frankfurt zurückgekehrt, wo er das Wochenende verbracht hatte. Emma hatte ihn gebeten, zu ihr nach Hause zu kommen, aber er wollte nicht einmal in die Nähe der Stadt fahren, um alten Bekannten nicht zu begegnen. Obwohl inzwischen zwanzig Jahre vergangen waren, hatte Wiоnot nicht die Absicht, nach Düsseldorf zurückzukehren.

In zwei Monaten würde Emma Urlaub nehmen und sie würden ganze drei Wochen in Portugal verbringen. Den rostroten Sonnenuntergängen über dem Ozean zusehen, die Emma für die Eröffnung ihrer Ausstellung im Winter festzuhalten plante.

Nachdem sie ein Angebot von einer neuen Modezeitschrift erhalten hatte, war Emma nach Düsseldorf geflogen – mit dem Versprechen, sich mit Wiоnot zu treffen, wann immer es möglich war. So sehr es ihm auch widerstrebte, sie gehen zu lassen, spürte Wiоnot tief in sich, dass nun die Zeit gekommen war, in der sie das Wichtigste in ihrem Leben tun musste. Und er war bereit, sie dabei zu unterstützen.

Doch für die Erfüllung ihrer Aufgabe waren alle Voraussetzungen nötig: Zeit, Ort und Menschen. Und keines dieser drei Elemente konnte der Heiler ihr geben.

Vielleicht wird alles dort geschehen, wo es einst begann, dachte Wiоnot, als er Emma zum Flughafen brachte. Gerade Düsseldorf wird der Ort sein, an dem sich ihre Bestimmung erfüllt.

Und Wiоnot sollte recht behalten.

– Fortsetzung folgt –

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Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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