
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 15.7
Der Junge hockte sich neben den auf dem Boden liegenden Mann. Das Leben verließ ihn, rann in einem dunkelroten Rinnsal über den Asphalt. Zum ersten Mal starb ein Mensch in Wionots Armen. Vor unerträglichem Schmerz, der ihm die Seele zerriss, hätte er am liebsten aus voller Kehle geschrien. Doch der Junge hob nur den Blick und flehte die hellen Sterne an, die über den Nachthimmel verstreut waren.
Der Mann holte einen letzten Atemzug und erstarrte reglos in einer seltsamen Pose. Der Lastwagenfahrer hatte dem Armen keine einzige Chance gelassen.
Wionot schloss dem Toten die Augen und strich mit der Hand über das noch warme Gesicht. Ein ihm unbekannter Mensch war ein weiteres Opfer des Krieges geworden. Eines Krieges, der lange vor dem Errichten der Pyramiden begonnen hatte.
Der Junge spürte die Anwesenheit eines anderen Engels, drehte sich jedoch nicht um. Nur einen Augenblick später ertönte über seinem Kopf ein unterdrücktes Stöhnen.
„Es hat begonnen“, sagte eine Männerstimme.
„Ja, es hat begonnen, Elijah“, der Junge hob den Blick.
Elijah zog seinen ohnehin makellos sitzenden Anzug zurecht und legte Wionot die Hand auf die Schulter.
„Ist es der Erste?“
Der Heiler verzog das Gesicht. Elijah wusste, dass es so war.
„Mach dir keine Sorgen, mein Freund“, fuhr der Mann fort. „Komm, ich bringe dich ins Zentrum. Mein Wagen steht um die Ecke.“
Der Junge lächelte gequält.
Elijah war eher ein Freund als ein Mentor und konnte Wünsche vorausahnen. Und Wionot wollte wirklich nicht allein mit dem Toten zurückbleiben.
„Beim ersten Mal wäre mir beinahe schlecht geworden“, gestand der Engel und sah Wionot mit Mitgefühl an. „Berhard wartet in Anaheim auf dich“, informierte er ihn, als der Junge aufstand. „Nach dem Gespräch mit dem Aranit kehrst du nach Hause zurück.“
Wionot nickte.
„Dem Gesetz nach müssen wir der Polizei melden, was passiert ist“, fuhr Elijah fort. Sie ließen den ausgestreckten Körper zurück und gingen zum Auto. „Und da ich schon hier bin, mache ich das selbst. Und du bringst deine Gedanken in Ordnung.“
„Gut“, stimmte der Junge zu.
„Dann sind wir uns einig.“ Elijah ging auf den Toyota Aqua zu. „Behalte die Lage weiter im Auge. Ich denke, Berhard wird dasselbe sagen. Gut, dass es in Europa bisher ruhig ist. Aber wenn sie in Amerika anfangen, die Unerwünschten zu beseitigen, würde es mich nicht wundern, wenn sie im Alten Kontinent weitermachen. Sie verraten sich nicht nur durch Taten, sondern auch durch Gedanken“, sagte der Engel über die Leute der Regierung und wies dem Jungen den Platz neben dem Fahrer zu.
–
Der frühe Morgen begrüßte die Bewohner mit Kühle. Die Stadt erwachte, als wäre sie aus einem Winterschlaf gekommen. Auf den Gehwegen eilten verschlafene Passanten entlang, die von Fahrern der Elektroautos an den Zebrastreifen vorbeigelassen wurden.
Wionot öffnete die Vordertür des Ford Mondeo und zog Emma, ihre Hand packend, aus dem Wagen. In derselben Sekunde flog Til zu ihnen heran.
„Schnell!“, rief er die Frau zu sich und deutete auf den gegenüber parkenden Nissan Ariya.
Das langgezogene Heulen der Sirenen kam mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit näher.
„Ich habe Roderick und Dragos gewarnt, dass sie die Demonstration absagen sollen“, flüsterte Wionot und ging schnellen Schrittes auf den Nissan zu, in den der Wächter bereits einstieg.
Emmas schweres Atmen hinter ihm zwang den Jungen, ohne Zögern zu handeln. Einen ähnlichen Vorfall wie jenen im Jahr 2077 durfte er nicht zulassen. Deshalb brachte er die Frau beim ersten Verdacht sofort aus dem Haus. Dort zu bleiben – wie auch im Büro – war nicht sicher. Die ungesunden Gedanken Wojciechowskis waren das deutlichste Warnsignal der drohenden Gefahr und Wionot zögerte nicht, in der Hoffnung, dass die Vernunft siegen und der Mann von dem Plan ablassen würde, den Standort der Zentrale preiszugeben, angelockt vom Versprechen einer Begnadigung. Jan war wirklich ein Mistkerl, dachte Wionot mit einem Hauch von Zorn und kam ihm mit seinem eigenen Zug zuvor.
„Erinnerst du dich an den Mann, der unliebsam wurde, als ich in Amerika war?“, fragte der Junge, ohne sich umzudrehen. Er erreichte den Nissan und löste seine Finger.
Emma setzte sich auf den Rücksitz. Ihre nussbraunen Augen blickten Wionot verständnisvoll an. Keine Angst, keine Panik, kein Entsetzen.
Der Junge beugte sich vor und küsste die Frau auf die Wange. Er war stolz auf Emma, deren Leben in den vergangenen 20 Jahren voller unvorhergesehener Situationen und Stress gewesen war, die jedoch nichts waren im Vergleich zu der Arbeit, die die Regierung dazu brachte, diese zarte Frau zu fürchten.
„Ich liebe dich“, flüsterte der Junge. „Fahrt!“, wandte er sich an Til und schlug die Tür zu.
Der Nissan schoss genau in dem Moment los, als hinter der Ecke ein Polizeiwagen hervorbrach.
Wionot bemerkte, dass Emma sich umdrehte. Als sie die Polizei sah, schlug sie mit der Hand gegen das Fenster.
Halte nicht an, befahl der Junge und ließ den Wächter seine Gedanken lesen. Ich kümmere mich darum.
Er wusste, dass Til außerhalb der Stadt das Auto gegen ein anderes mit neuen Kennzeichen tauschen und einen Umweg fahren würde, um jene zu verwirren, die ihnen über Drohnen folgten.
Die Freiheit, die das neue Bündnis verkündet hatte, erwies sich als ganz anders, als alle erwartet hatten. Ja, viele Gesetze der früheren Regierung waren aufgehoben worden und die Bevölkerung Europas konnte wieder frei durchatmen. Es gab keine umfassende Überwachung mehr, Vergehen wurden nicht mehr so hart bestraft und die übermäßige Willkür der Ordnungskräfte war abgeschafft worden. Die aktuelle Regierung hatte den Anschein von Demokratie geschaffen, erlaubte Wahlen und Demonstrationen. Doch wenn eine Kundgebung zu groß wurde und gleichzeitig Menschen in mehreren Städten inspirierte, wurden die Teilnehmer von Drohnen erfasst und die Polizei erschien, um die Menge auseinanderzutreiben und nach Hause zu schicken.
Die heutige Mahnwache, ausgerufen von der Organisation Saviour, richtete sich gegen die Todesstrafe, deren Gesetz das Vereinigte Europa bereits im nächsten Jahr verabschieden wollte. Die Regierung verfolgte ein edles Ziel, die Welt von unverbesserlichen Verbrechern zu befreien, deren Verhalten sich trotz jahrelanger Haft nicht geändert hatte. Und Serienmörder ein Leben lang zu versorgen, auf Kosten der Steuerzahler, hatte sogar jene Skeptiker auf ihre Seite gezogen, die früher einen so strengen Umgang mit Menschen – auch wenn sie grausame Taten begangen hatten – in Frage stellten.
„Dabei werden sie nicht stehen bleiben“, äußerte Roderick seine Gedanken und stimmte Emmas Worten zu, dass sich die Regierung nicht geändert, sondern nur umbenannt hatte. „Und deshalb hören wir auch nicht auf.“ Er fuhr mit seiner breiten Hand über das dünne Haar und ließ den Blick über die Mitarbeiter des Verwaltungszentrums schweifen. Mit schwerem Körper ließ er sich in den Sessel fallen. „Wie Emma sagte, es ist, als bereite sich die Regierung auf etwas vor. Und wir müssen das verhindern. Denn für die einfachen Bürger ist nichts Gutes zu erwarten.“
Wionot drehte sich um 180 Grad. Ein grau-blau lackierter VW hielt einen Meter vor ihm. Die Blaulichter spiegelten sich in Rot und Blau auf dem vom Regen nassen Asphalt.
Als die Polizei auftauchte, beschleunigten die wenigen vorbeigehenden Leute ihre Schritte und verschwanden hinter Ecken oder in Bürogebäuden. Die Straße leerte sich im Nu und die einzigen Beobachter der folgenden Ereignisse waren die Tauben, die über den Hochhäusern ihre Kreise zogen.
Aus dem Wagen sprang ein kahlrasierter junger Mann. Er zog die Pistole aus dem Holster und richtete die Waffe auf den Heiler.
„Stehen bleiben!“, rief er. „Nicht bewegen! Hände hinter den Kopf!“
Wionot gehorchte, ohne die Situation verkomplizieren zu wollen. Der Polizist trat von hinten an ihn heran und stieß ihn gegen das Gebäude. Der Heiler streckte die Arme aus, um nicht mit dem Gesicht gegen die Wand zu prallen.
Der Polizist sah aus, als sei er über 30. Er war sportlich gebaut und offensichtlich an seinem Platz. Seine präzisen, routinierten Bewegungen sprachen von vielen Dienstjahren. Mit der linken Hand tastete der Polizist den Körper des Jungen ab. Als er nichts Verdächtiges fand, steckte er die Waffe zurück ins Holster.
Gut, dass ich den Dolch nicht mitgenommen habe, ging es Wionot durch den Kopf, sonst hätte ich mir großen Ärger eingehandelt. Und gut, dass sie mich erwischt haben und nicht Til. Die Wächter tragen immer Waffen bei sich.
„Für Widerstand gegen die Polizei bekommst du eine längere Strafe“, warnte der Kahlrasierte den Heiler. Für den Fall, dass er die Situation nutzen wollte, während der Polizist die Pistole wegsteckte. „Emma Maier nehmen wir ebenfalls fest“. Der Beamte nahm Handschellen von seinem Ledergürtel, führte Wionots Arme hinter dessen Rücken und ließ das Schloss zuschnappen.
Die Lippen des Jungen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.
„Findest du das etwa lustig?“ Die Augenbrauen des Kahlrasierten schossen nach oben.
„Auf keinen Fall, Herr Berger“, antwortete Wionot, nachdem er den Namen vom Namensschild gelesen hatte, und wurde wieder ernst.
„So ist es besser“, brummte der Polizist und stieß Wionot in den Rücken, in Richtung Auto. „Sie werden der Zusammenarbeit mit der Organisation Saviour beschuldigt, Herr Neumann“, fuhr er fort, während er den Ausweis des Jungen in der Hand drehte. „Und die könnte bald als extremistisch eingestuft werden.“
So sehen sie dich jetzt also, Emma, dachte Wionot mit bitterem Unterton, während er sich dem Volkswagen näherte. Und wenn du nach Düsseldorf zurückkehrst, lasse ich nicht mehr zu, dass du dich in Schwierigkeiten bringst. Ich brauche dich lebendig. Gedanken an die Frau, die er vor zukünftigen Problemen schützen wollte – und an seinen Wunsch, alles so einzurichten, dass sie seiner Entscheidung nicht widerspreche – durchbrachen seinen Kopf. Und egal, wie sehr du dich wehrst, meine Liebe, mit der Untergrundarbeit ist jetzt Schluss. Dafür ist Roderick da. Im äußersten Fall, wenn du trotzdem auf dem Laufenden bleiben willst. Und ich muss dafür sorgen, dass die Menschenrechtsorganisationen auch unter dem verschärften Regime der „neuen-alten“ Regierung arbeiten können. Wenn es nötig wird, werde ich mich an Angel wenden. Schließlich ist er der Leiter von Ageor. Und auch wenn Engel sich nicht in die Angelegenheiten der Menschen einmischen, mit Rat müssen sie helfen. Sonst wäre ihre Anwesenheit auf der Erde sinnlos. Zumal, wie Til mir berichtete, sich Unwesen in die Regierung des Vereinigten Europas einschleichen. Du hattest recht, Elijah. Du hattest recht.
Die Tür schlug laut zu und riss Wionot aus seinen Gedanken.
Zufrieden mit seiner Arbeit setzte sich der Polizist auf den Vordersitz, getrennt durch das Elektrogitter vom Verdächtigen, und funkte durch, dass er auf dem Weg zur Abteilung im Bezirk Garath sei.
Gefesselt, obwohl er die Handschellen jederzeit mühelos hätte sprengen können, spielte Wionot weiterhin die Rolle eines gewöhnlichen Psychologen. Er wusste längst, dass der Polizist ihn höchstens für 15 Tage einsperren würde, denn Beweise für eine Zusammenarbeit mit der Organisation würde er kaum finden. Selbst das Minifon enthielt dank des Sofortlöschprogramms keine kompromittierenden Daten. Ein einziger Knopfdruck genügte.
Der Junge senkte den Kopf, um Blickkontakt zu vermeiden, damit der Polizist nicht ahnte, dass der Verdächtige Gedanken lesen konnte. Und dass vor ihm kein normaler Mensch saß, sondern jemand, der nicht in die stählernen Fänge des Systems geraten war. Der Beamte war nur ein einfacher Befehlsempfänger, noch nicht von Macht verdorben, noch nicht von Blut gesättigt. Einer, mit dem man noch arbeiten konnte.
Und doch, dachte Wionot weiter an seine wenig erfreuliche Aussicht, zwei Wochen hinter Gittern zu verbringen, ist es das wert. Vor allem für Emma und viele andere. Und auch für den Polizisten dort vorne im Sitz. Das Leben so vieler Menschen ist es wert.
– Fortsetzung folgt –
„Engelsklinge – Tödlicher Schlag“ gibt es jetzt auch als Taschenbuch. Bestellen kann man es unter anderem HIER!
Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 46-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.


































