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Engelsklinge – Buch 1: Tödlicher Schlag (Kapitel 9.1)

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Lucia, Isabella und Filippo im Gespräch.
Lucia, Isabella und Filippo im Gespräch. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)
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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 1 – Tödlicher Schlag

Aus dem Russischen

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Kapitel 9.1

Lucia zog die Vorhänge auf. Der Morgen begrüßte sie mit einem feinen Nieselregen. Sie verzog das Gesicht.

„Das dauert wohl noch eine Weile“, murmelte sie, während sie zum grau verhangenen Himmel blickte. „Was für ein Geschenk für alle Verliebten“, kicherte Lucia, als sie im Hof einen Passanten entdeckte, der einen Blumenstrauß trug. „Beeil dich, mein Lieber, sonst bekommt deine Liebste einen nassen Besen statt Rosen.“

Der Mann schien ihren Kommentar zu spüren und schaute in den Himmel. Lucia grinste, als sich ihre Blicke trafen. Zum ersten Mal bereute sie nicht, dass sie sich nur in ein Laken gewickelt hatte, bevor sie die Vorhänge aufgezogen hatte. Schlafen in einem Pyjama war nie ihre Gewohnheit geworden. Sie fand, dass der Körper sich nach Arbeitstagen oder nächtlichen Dämonenjagden eine wohlverdiente Erholung verdient hatte. Selbst wenn sie nackt dagestanden hätte, hätte das schockierte Gesicht des Mannes sie kaum verlegen gemacht.

„Er sollte sich schämen, nicht ich“, ging es Lucia durch den Kopf. Der Fremde zog seine Jacke zu, ließ seinen Blick noch einmal über Lucias schlanke Gestalt gleiten und setzte seinen Weg fort.

Lucia wandte sich vom Fenster ab und ging in ihr Schlafzimmer. Sie warf das Laken auf das Bett und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Sie steckte ihr Haar hoch und stellte sich vor den Spiegel über dem Waschbecken. Im Gegensatz zu ihren Studienfreundinnen hatte sich ihr Aussehen kein bisschen verändert. Keine einzige Falte um die Augen oder auf der Stirn, die Lippen waren immer noch voll, ihre Wangen hatten nicht unter einem Übermaß an Pizza gelitten und ihre Haut war so straff und zart wie vor vielen Jahren.

„Im Herbst wirst du sechsunddreißig, Lucia“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Es wird Zeit, auf dezentere Farben umzusteigen“, bemerkte sie wehmütig und sah zu einem kleinen Schrank, in dem sie ihre Kosmetik aufbewahrte. „Nur für ein paar Jahre“, beruhigte Lucia sich selbst. „Nach dem Umzug wieder neunzehn“, zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu. „Nein“, schüttelte sie den Kopf und ging zur Duschkabine, „auf der Jagd darf ich so bleiben, wie ich bin.“

Eine Stunde später verließ Lucia das Gebäude. Der vertraute Duft von Zimt und Vanille wehte ihr aus „Pepoli“ entgegen, der Bäckerei, die zwei Straßen von ihrem Zuhause entfernt lag. Ihr Magen begann vorfreudig zu knurren, begeistert von dem bevorstehenden Frühstück. Lucia ließ sich von den Bedürfnissen ihres Körpers leiten, wenn nicht gerade das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel stand. Da sie im Moment frei war, konnte sie dem Ruf von Kaffee und einem frisch gebackenen Brötchen ihres langjährigen Bekannten nicht widerstehen.

„Ein bisschen Stärkung vor dem Arbeitstag schadet nicht“, schmunzelte sie und berührte ihren knurrenden Magen, bevor sie sich auf den Weg zu dem alten Barnabo machte, dem Besitzer der Bäckerei, die nach der Straße benannt war, in der sie lag.

Als Lucia die Tür öffnete und eintrat, stellte sie fest, dass es um acht Uhr morgens bereits genug Besucher gab, um die wenigen Tische in der Nähe der großen Fenster zu füllen. Die Theke bog sich unter der Vielfalt an Broten und Brötchen, vor der sich bereits eine Schlange gebildet hatte. Die Bäckerei „Pepoli“ hatte in ihren zehn Jahren Bestehen die Bewohner des Viertels mit ihren traditionellen Rezepten angelockt und in treue Stammkunden verwandelt.

Barnabo Pulci, ein kleiner, rundlicher Mann in einer weißen Schürze und mit einer gestärkten Haube auf seinem schütteren Kopf, glich eher einer gutmütigen Figur aus einem Kinderbuch als dem Besitzer eines soliden Geschäfts. Mit seinen zweiundsiebzig Jahren führte Barnabo die Bäckerei noch genauso geschickt wie der junge Blumenhändler gegenüber. Als echter Italiener, dessen Vorfahren bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in Rom ansässig wurden, hätte er nun gemütlich in seinem Lieblingssessel sitzen und die Morgenzeitung lesen können, hätte sich vor fünf Jahren nicht eine Tragödie ereignet. Sein ältester Sohn, Erbe des Geschäfts, war bei den Sommerüberschwemmungen ums Leben gekommen, als das Wasser auf drei Meter anstieg und man die Straßen Roms nur noch mit einem Boot durchqueren konnte. Im Herbst desselben Jahres war seine jüngere Tochter zum Studium nach Wien gezogen. Sie heiratete dort und ließ Italien für immer hinter sich. So blieb Barnabo nichts anderes übrig, als wieder hinter die Theke zu treten und die Buchhaltung zu führen, damit die jungen Angestellten das Lebenswerk nicht ruinieren, in der Hoffnung, dass das Geschäft eines Tages an seinen Enkel übergehen würde.

Lucias war an der Reihe und sie bestellte ein Sesambrötchen und eine Tasse schwarzen Kaffee.

„Du warst letzte Woche gar nicht bei uns, Lucia“, tadelte der Besitzer sie freundlich.

„Ich war nicht in der Stadt, Barnabo“, antwortete Lucia.

„René, schwarzer Kaffee ohne Zucker“, rief der kleine, rundliche Mann dem jungen Mann an der Kaffeemaschine zu und nahm ein Brötchen vom Tresen, das er auf einen Teller legte. „Möchtest du nicht lieber ein Herzchenbrötchen?“ Er deutete mit der Zange auf ein halb leeres Tablett mit schokoladenglasierten, herzförmigen Gebäckstücken. „Heute ist ein regelrechter Ansturm – immerhin der 14. Februar.“ Ein verschmitztes Lächeln lag auf Barnabos Lippen, seine Augen schmalten sich leicht.

Lucia schenkte ihrem alten Bekannten ein ebenso herzliches Lächeln zurück.

„Nein, danke, Barnabo“, lehnte sie höflich ab.

„Wieso denn?“ Der Besitzer hob die Hände. „Bist du denn nicht…“

„Entschuldige“, zuckte Lucia die Schultern. „Deine Brötchen sind die besten der Welt“, lobte sie seine Backkünste. „Aber heute nicht.“

Barnabo beugte sich über die Theke und sah sie aufmerksam an.

„Also? Keine Blumen? Keine Geschenke?“, fragte er leise.

„Nein“, antwortete Lucia ebenso leise. „Ich will keine.“

„Und was ist mit den anderen Verehrern?“

Lucia schmunzelte. „Ich habe ihnen gedroht, ihnen das Genick zu brechen, wenn ich Blumen oder Karten sehe“, zwinkerte sie dem kleinen Mann zu.

Barnabo brach in Lachen aus. „Du weißt wirklich, wie man mit Männern umgeht.“ Er richtete sich auf, als René mit einer Tasse Kaffee an die Theke trat, da er es nicht für angebracht hielt, vor seinen Mitarbeitern über Lucias Privatleben zu sprechen.

Lucia kramte in ihrer Tasche nach dem passenden Geld, als Barnabo den Preis nannte. Doch plötzlich nahm der Bäcker ein Brötchen vom Tablett und legte es in eine kleine Tüte, die er Lucia auf das Tablett stellte.

„Das geht auf mich“, erklärte er schnell, um keine Einwände zuzulassen. „Fürs Mittagessen – ich weiß, wie ihr jungen Leute seid. Ihr rast den ganzen Tag durch die Stadt und denkt nicht daran, dass ihr essen müsst. Oder du gibst es einem Freund.“ Sein Blick war so flehentlich, dass Lucia den Eindruck hatte, er würde traurig werden, wenn sie das Brötchen ablehnte.

Ein lieber Mensch, dachte Lucia und dankte ihm für seine Fürsorge, ohne ihm die Freude zu verderben.

Sie nahm das Tablett und setzte sich an einen Tisch am Fenster. Genüsslich nahm sie einen Schluck des heißen Kaffees und begann, das Brötchen zu essen. Stück für Stück gönnte sie sich fünf Minuten friedliches Frühstück.

Das Geschenk von Barnabo verstaute Lucia später im Seitenfach ihres „Ducati“, zog ihre Motorradbrille auf und fuhr in den Stadtteil Castro Pretorio, das Geschäftsviertel Roms, in dem sich das Büro ihrer Detektei „Paneri“ befand.

Den Namen der Agentur hatte Isabella gewählt, basierend auf ihren Nachnamen. Heute hätte Lucia gegen so ein unausgewogenes Logo Einspruch erhoben, doch bei der Gründung kümmerte sie das wenig. Sie war gerade einem Dämonenpaar auf die Spur gekommen, das sich zum Neumond im Kolosseum aufhielt und erledigte sie innerhalb jener Woche, in der Isabella die Firma registrierte. Sich durch die Bürokratie zu quälen, um den Namen zu ändern, erschien ihr zu anstrengend. Glücklicherweise war Filippo erst später dazu gestoßen; wer weiß, in was Isabella die Firma sonst verwandelt hätte. Ein Logo mit „Ambrosio“ als zusätzlichem Namen hätte wohl kaum neue Kunden angelockt. Trotzdem hatten sie von Beginn an Aufträge dank der Klienten, die die beiden aus ihrer früheren Tätigkeit kannten.

Lucia stieg die alte Treppe zum zweiten Stock hinauf, da es hier keinen Aufzug gab. Nach all den Jahren hätten sie ihr Büro durchaus in eines der modernen Glasgebäude verlegen können, das wie eine Welle geformt ist und in dem viele private Firmen ansässig waren. Doch Isabella hielt den aktuellen Standort für ideal – zentral im Viertel gelegen und gleichzeitig an einem ruhigen Ort.

„Das wird das Markenzeichen unserer Detektei“, hatte ihre Freundin gesagt. „Hier kann der Kunde in entspannter Atmosphäre über seine Probleme sprechen, ohne Angst zu haben, dass neugierige Ohren hinter der Wand mithören.“

Filippo war mit Isabellas Meinung einverstanden und auch Lucia hatte nichts dagegen einzuwenden. So arbeiteten sie nun schon im sechsten Jahr am selben Standort. Isabellas Kalkül erwies sich als richtig: Die Kunden kamen kontinuierlich zu ihnen.

Es war halb neun, als Lucia das Büro betrat. Isabella saß an ihrem Schreibtisch und überarbeitete einen Bericht, während Filippo Formulare am Rolltop ausfüllte. Lucia warf einen Blick auf ihre Uhr und dachte verwundert: Und wann kommen die mal zu spät zur Arbeit? Niemals. Sie glitt zu ihrem Schreibtisch.

Man könnte meinen, du lernst irgendwann pünktlich zu sein, dachte Isabella statt eines Begrüßungswortes. Aber nein, das ist wohl zu viel verlangt. Lucias Gedanken pulsierten in ihrem Kopf wie kleine Warnlichter. Sie verzog die Nase, amüsiert über Isabellas Gedankenspiele.

„Guten Morgen, Isabella“, dachte sie zurück, schwieg jedoch lieber und behielt ihr Wissen über Gedankenlesen für sich. Selbst Freunde wie Isabella hätten Schwierigkeiten, dies zu akzeptieren.

Filippo hingegen war in seine Arbeit vertieft und kümmerte sich nicht um Lucias spätes Erscheinen. Lucia seufzte leise. Sie beschloss, heute keine Gedanken zu lesen und öffnete stattdessen ihren eigenen Rolltop.

Jeden Morgen kam Lucia zuletzt ins Büro, während Isabella und Filippo – die unermüdlichen Arbeitstiere – bereits fleißig bei der Sache waren. Nur selten fehlte einer von ihnen, sei es durch Krankheit oder familiäre Verpflichtungen. Filippo hatte letzten Winter eine Woche mit schwerer Grippe gefehlt und Isabella war vor eineinhalb Jahren für zehn Tage abwesend gewesen, nachdem sie aus der Klinik entlassen worden war. Dort hatte sie das Glück gefunden – in Form eines Klienten, dem sie dabei geholfen hatte, die Untreue seines Geschäftspartners aufzudecken.

Du siehst allerdings nicht aus wie eine glückliche Mutter, dachte Lucia schmunzelnd, als sie Isabellas besorgte Stirnrunzeln bemerkte. Die schlaflosen Nächte voller Windeln lagen hinter ihr und die Vorbereitungen für den Kindergarten sollten ihr eigentlich Freude bereiten, doch Isabella schien wenig begeistert.

Isabella räusperte sich, um die Aufmerksamkeit ihrer Kollegen auf sich zu lenken. „Lucia, bitte versuch, um acht Uhr hier zu sein“, sagte sie streng und ließ ihren Blick auf den Papieren ruhen.

Ja, ja, du bist voll in deiner Rolle als Chefin aufgegangen, dachte Lucia ironisch, doch sie schmunzelte. „Und was? Ihr habt doch sowieso nichts zu tun“, fragte sie mit unschuldigem Blick.

Ein unterdrücktes Lachen kam aus Filippos Richtung.

„Ein Kunde war schon da, und ich musste ihn Filippo überlassen“, fuhr Isabella genervt fort, „obwohl er immer noch mit dem ungeklärten Mordfall des Medizinstudenten beschäftigt ist.“

Lucia biss sich auf die Lippe. Aber ich glaube kaum, dass das der wahre Grund für deine schlechte Laune ist, Isabella, dachte sie amüsiert. Na los, spuck’s aus, was ist los? Sie beschloss, diesmal ihre Freundin nicht gedanklich auszuhorchen und abzuwarten, bis Isabella selbst sprach.

„Und was für ein Fall ist das?“, fragte Lucia und lehnte sich zurück, wissend, dass Isabella längst ihre Sorgen geteilt hätte, wenn sie allein gewesen wären.

„Ein reicher Kunde verdächtigt seine treue Gattin der Untreue“, antwortete Filippo. Er lehnte sich zurück, dankbar für eine kurze Pause, um mit den beiden Frauen zu plaudern.

„Ein einfacher Fall“, schmunzelte Lucia und drehte einen Stift zwischen den Fingern.

„Einfach schon“, seufzte Filippo, „wäre da nicht die Tatsache, dass der Geliebte der Geschäftspartner des Mannes ist und die Frau mehr als nur Jahre ihrer Ehe preisgibt.“

Lucia pfiff leise durch die Zähne. „Das nimmt eine gefährliche Wendung.“

„Eine finanzielle“, warf Isabella scharf ein.

„Eher eine kriminelle“, stellte Filippo fest und vertiefte sich wieder in seinen Bildschirm.

Lucia ließ ihren Blick über ihre Kollegen schweifen, die offensichtlich beschäftigt wirkten, obwohl sie wusste, dass sie sich nur zu gern eine Pause gönnen und ein wenig plaudern würden, wenn die Gelegenheit es erlaubte.

„Wie läuft’s mit dem Fall des Studenten?“, erkundigte sie sich. „Helfen unsere Kontakte nicht weiter?“

„Ich habe um fünf ein Treffen mit Corso. Er hat im Garten, wo der Junge gefunden wurde, etwas entdeckt“, antwortete Filippo mit einem Anflug von Bedauern. Die Geschehnisse letzten Herbsts im Viertel Testaccio waren immer noch ein Dorn im Auge.

„Corso hat nach wie vor gute Verbindungen bei den Mordermittlungen“, bestätigte Lucia. Der ehemalige Kollege war vor einigen Jahren in den Ruhestand gegangen, konnte jedoch weiterhin Informationen von seinen alten Kollegen bei der Polizei beschaffen.

Isabella, genervt von der Gesprächsrichtung, warf mit einem ärgerlichen Seufzen die Berichte auf ihren Schreibtisch. Lucia blieb gelassen und reagierte kaum auf die offensichtliche Frustration ihrer Freundin.

„Ach übrigens, frohen Valentinstag, Mädels“, fiel Filippo plötzlich ein und blickte hinter seinem Bildschirm hervor. „Was habt ihr heute Abend vor?“

„Nichts“, sagte Lucia, während sie den Bleistift auf die Mappe legte.

„Ich werde wohl eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen“, murmelte Isabella düster. „Rinaldo ist nach Sevilla auf eine Konferenz gereist.“

Lucia unterdrückte ein Schmunzeln. Da haben wir’s, meine Liebe, dachte sie. Der Abend wird wohl nicht gerade der entspannteste, wenn du Antonio nicht früh ins Bett bekommst.

Lucia und Isabella tauschten einen Blick.

„Ich komme heute nach der Arbeit auf einen Tee vorbei“, schlug Lucia vor.

Eine Einladung war nicht nötig; Lucia konnte jederzeit unangekündigt bei Isabella vorbeikommen. Auch wenn sie diese Freiheit selten nutzte, respektierte sie Isabellas Privatleben. Doch heute war die Freundin sichtlich schlecht gelaunt und allein, daher war ihr Angebot mehr eine Feststellung.

Isabellas Gesichtsausdruck hellte sich auf. Ein Lächeln glättete die Sorgenfalte auf ihrer Stirn.

„Das wäre schön“, sagte sie sanft. „Wir können uns ein bisschen unterhalten.“

Die Spannung im Büro löste sich. Isabella legte den Bericht beiseite, Filippo richtete sich vom Bildschirm auf, und Lucia sprang vom Stuhl.

„Wie wäre es mit einem Kaffee?“, bot sie an.

Filippo erhob sich und ging zur Kaffeemaschine in der Ecke. Trotz seines Alters hielt er sich in guter körperlicher Verfassung und konnte mit den jüngeren Kollegen problemlos mithalten.

„Ich übernehme das“, sagte er und hinderte Lucia daran, Kaffee aufzusetzen. „Ruh dich aus.“

„Ich ruhe mich die ganze Zeit aus“, sagte Lucia schmunzelnd. „Gestern habe ich den Bericht meinem Klienten übergeben. Hoffentlich kommt noch ein neuer Auftrag rein, sonst wird es ein ruhiger Tag“, fügte sie mit einem Zwinkern in Filippos Richtung hinzu. Er stellte zwei leere Tassen in die Maschine und überprüfte, ob genug Kaffee da war. „Wann haben wir eigentlich das letzte Mal Werbung gemacht?“, fragte sie Isabella.

„Vor einem Monat.“

„Gut, dann kümmere ich mich heute darum“, entschied Lucia und warf einen Blick auf ihre Mini-Communicator, der plötzlich klingelte.

„Ein Kunde?“, fragte Isabella hoffnungsvoll und nickte Filippo dankbar zu, als er ihr eine Tasse Kaffee auf den Tisch stellte.

„Nein“, antwortete Lucia mit einem Kopfschütteln. „Es ist Woldéri.“

Isabella zog die Augenbrauen hoch. „Ah, dein Freund aus Kindertagen“, erinnerte sie sich und schmunzelte.

Lucia hatte bei einer Studentenparty beiläufig von ihrem Mentor Woldéri erzählt und Isabella hatte sie danach nicht mehr in Ruhe gelassen, bis Lucia ihr versichert hatte, dass er nur ein Freund war.

„Genau“, erwiderte Lucia mit einem leichten Schmunzeln, fest entschlossen, an dieser alten Geschichte festzuhalten. „Ein Freund aus Kindertagen.“

„Und was will dein Freund aus Kindertagen von dir?“

„Das finde ich gleich heraus“, sagte Lucia und nahm den Anruf entgegen. „Ja, was gibt’s, Woldéri?“ Sie bemühte sich, ihre Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen, damit er keine Freude oder Aufregung herauszuhören vermochte. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, hätte sie ihn gerne öfter gehört als nur einmal alle fünf Jahre.

„Hallo, Lucia,“ ertönte Woldéri tiefe Stimme im Mini-Communicator. „Wie geht’s dir?“

Na klar, er ruft sicher nicht an, um sich nach meinem Alltag zu erkundigen, dachte Lucia und erinnerte sich daran, dass er seit ihrem Treffen in Florenz vor drei Jahren nie wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hatte.

„Warum rufst du an?“, fragte Lucia gereizt und kam ohne Umschweife zur Sache.

Isabella zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Er ist wirklich nur ein Freund?“, flüsterte sie und tauschte einen Blick mit Filippo, der inzwischen auch seinen Kaffee geholt hatte.

Lucia nickte nur.

„Ich weiß, es sind drei Jahre vergangen seit unserem letzten Treffen,“ fuhr Woldéri unbeeindruckt von Lucias Kälte fort. „Aber du hast selbst gesagt, dass wir alle genug zu tun haben.“

„Na schön, was gibt es?“, unterbrach ihn Lucia, wissend, dass Woldéri nie ohne Grund anrief.

„Im Heiligen Wald, oder wie sie ihn auch nennen, dem Park der Monster, ist ein neuer Wächter aufgetaucht.“

„Und?“, antwortete Lucia knapp.

Isabella und Filippo sahen sich erneut an, während Filippo ratlos die Schultern zuckte. Sie hatten keine Ahnung, worum es eigentlich ging.

„Er ist ein Neuling,“ erklärte Woldéri.

„Und was habe ich damit zu tun?“, fragte Lucia, obwohl sie insgeheim ahnte, worum ihr Mentor sie bitten würde.

„Hol ihn ab“, sagte Woldéri und ließ keine Zweifel offen.

Lucia verdrehte genervt die Augen. Sie wusste, dass Woldéri seine Entscheidung nicht ändern würde, wie lange sie auch zögerte, aber dennoch fragte sie mit der Hoffnung, er könnte es sich im letzten Moment anders überlegen: „Das ist in Bomarzo, oder?“

„Genau.“

„Aber das ist über eine Stunde entfernt“, rief Lucia frustriert, ohne die Hoffnung aufzugeben, diese Aufgabe an jemanden anderen abzugeben.

Isabella und Filippo tranken schweigend ihren Kaffee und beobachteten Lucias lebhafte Unterhaltung am Mini-Communicator.

„Eben deshalb holst du ihn ab“, kam Woldéris Antwort wie ein Befehl. „Du bist am nächsten dran.“

„Also ist er schon…“

„Ja“, bestätigte Woldéri. „Und je früher, desto besser. Es ist schließlich Winter.“

Lucia erinnerte sich, wie furchtbar kalt es im letzten November gewesen war, als sie selbst auf dem frostigen Boden hatte warten müssen. Naja, dachte sie, vielleicht lernt er so schneller, mit Schwierigkeiten umzugehen.

„Und wem soll ich ihn…“

„Er ist dein Schüler, Lucia“, erklärte Woldéri trocken.

Lucia wäre beinahe der Mini-Communicator aus der Hand gefallen. Was redest du da, Mentor? Ich werde mich sicher nicht mit einem unerfahrenen Anfänger herumschlagen. Ich bring ihn wohl eher um, als dass ich seine Launen ertrage. Nein, du hast dich an die falsche Adresse gewandt. Gut, dachte sie, ich hole ihn ab, aber mehr mache ich nicht.

„Das ist doch ein Scherz, oder?“, flüsterte sie und ignorierte die fragenden Blicke von Isabella.

„Ich meine es völlig ernst. Es ist Zeit, dass du erwachsen wirst, Lucia, und dich weiterentwickelst.“

Er sollte erwachsen werden, nicht ich, dachte sie schnippisch.

„Hol ihn ab und fertig“, knurrte Woldéri in den Mini-Communicator, offensichtlich müde von Lucias Widerstand. „Widerspruch dulde ich nicht.“

Lucia wollte gerade noch etwas einwenden, da hörte sie nur noch das Besetztzeichen. Offenbar hatte ihr Mentor den Anruf beendet, in der Überzeugung, dass sie den Auftrag verstanden hatte.

Sie seufzte schwer. Genau das hat mir noch gefehlt, mich jetzt auch noch um einen Anfänger kümmern zu müssen. Eine sarkastische Miene schlich sich auf ihr Gesicht. Da ist er dahin, mein freier Tag.

– Fortsetzung folgt –

Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 44-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj, sie ist Mitglied im Journalistenverband der Ukraine. Svitlana Glumm verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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