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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 1.3)

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Lucia trifft zum ersten Mal die Leiterin des Kinderwohnheims, Mrs. Brown.
Lucia trifft zum ersten Mal die Leiterin des Kinderwohnheims, Mrs. Brown. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Hebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 1.3

Ohne Lucia eines Blickes zu würdigen, trat der Junge in den Flur hinaus.
Auf deinen Abschied pfeif ich, schnaubte das Mädchen wütend.
Wenn es nicht wegen Angel wäre, hätte ich dein unzufriedenes Gesicht überhaupt nicht gesehen.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Heiler. Der Blick seiner ausdrucksstarken Augen schien Lucia zu mustern, als der Mann ihre Reaktion auf das Verhalten des Teenagers bemerkte.
„Was noch?“, sagte das Mädchen schnaubend, als sie Elijahs Blick begegnete.

Ein nachsichtiger Ausdruck berührte die Lippen des Psychologen.
„Na los, beurteile mich ruhig, wenn du willst, und melde dem Chef gleich, dass ich nicht für den Umgang mit Kindern geeignet bin.“

Der Heiler schwieg, was Lucia aus der Fassung brachte. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und zwang sich zu einem Lächeln.

„Was jetzt?“ – fragte sie kühl, bemüht, den Ton nicht zu erheben.

„Wie ich schon sagte – ich stelle dich der Direktorin vor“, antwortete der Mann ruhig. „Ich warne dich gleich, Lucia, damit es keine Probleme gibt“, fuhr er fort. „Mrs. Brown ist eine… spezielle Persönlichkeit.“

Elijah bedeutete Lucia mit einer Geste, das Büro zu verlassen, und ging mit ihr gemeinsam den Flur entlang.

„Ian war also nur ein Vorgeschmack?“, flüsterte das Mädchen.
Der Heiler lächelte.
„Und Mrs. Brown ebenso.“

Sie gingen an dem Lehrerzimmer vorbei. Die Tür stand einen Spalt offen, und Lucia sah einen grauhaarigen Mann mit Brille. Er saß am Tisch und tippte etwas auf einem Tablet.

Geschichtslehrer“, sagte Elijah, der ihrem Blick gefolgt war. „Mr. Peterson. Die anderen Lehrer sind in den Klassenräumen.“

Bitte stell mich heute nicht allen vor – Kollegen, Mitarbeitern, Kindern – flehte Lucia innerlich. Vor allem nicht Peterson.

Obwohl der alte Mann gerade an die Amerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1775 bis 1783 dachte, sah das Mädchen Erinnerungen, die der Lehrer am liebsten für immer vergessen hätte. Sie atmete tief durch. Kalter Wind heulte hinter der Mauer ihres Verstandes.

Anscheinend hatte der Heiler die stumme Bitte in ihrem Blick gelesen und schenkte ihr ein nachsichtiges Lächeln.

„Aber für heute reicht Mrs. Brown wohl aus, denke ich“, sagte er.

Lucia atmete erleichtert auf. Na also, wenigstens etwas Gutes hast du an dir, Elijah.

Direkt neben dem Lehrerzimmer befand sich das Büro der Direktorin. Ein Schild mit ihrem Nachnamen in großen Buchstaben hing mittig auf der weißen Tür – eine deutliche Ansage, wer sich hier aufhielt.

Elijah drückte die Klinke und das Mädchen betrat ein klassisches Schulleitungsbüro.

„Mrs. Penelope Brown, ich möchte Ihnen unsere neue Mitarbeiterin vorstellen – Lucia Neri“, sagte der Mann, als er die Schwelle überschritt.

„Noch eine, Elijah? Meinst du nicht, das reicht langsam?“ – Lucias Ohren vernahmen eine krächzende Stimme. Sie hätte genauso gut zu einem riesigen schwarzen Vogel gehören können wie zu der gebeugten, älteren Frau, die neben einem rechteckigen braunen Tisch stand.

Anscheinend hatte die Direktorin beschlossen, ihrem Namen in jeder Hinsicht gerecht zu werden – nicht nur die Möbel, sondern auch ihre Kleidung war braun. Eine Brille mit braunem Gestell saß stolz auf ihrer hakenförmigen Nase. Die unscheinbare, mit dem Hintergrund verschmelzende Frau bedachte die junge Lucia mit einem abwertenden Blick.

„Treten Sie ein“, krächzte sie und setzte sich an den Tisch.
Penelopes kleine Augen begannen zu funkeln, als sie ihren Blick auf den hochgewachsenen Brünette richtete.

Riecht nach Untreue, Fashion-Queen, murmelte Lucia, ohne sich vom Fleck zu rühren. Elijah hatte offensichtlich auch nicht vor, lange im Büro der Direktorin zu verweilen, und machte keinen Gebrauch von der Einladung der Frau, sich auf einen der Stühle zu setzen.
Und den Ehering trägst du absichtlich nicht, damit du die jungen Psychologen nicht verschreckst?

Lucia hatte nicht vor, die Gedanken von Mrs. Brown zu lesen. Wahrscheinlich haben die auch dieselbe Farbe, dachte sie. Da ist bestimmt Platz für einen einsamen Ehemann und einen Hund, der deine Hausschuhe zerbissen hat. Obwohl – einen Hund hast du ganz sicher nicht. Kein Tier würde deinen ‚engelshaften‘ Charakter ertragen.

„Nur zu, Elijah, komm ruhig rein“, sagte die Frau mit einem Lächeln, als sie bemerkte, dass der Psychologe zögernd an der Tür stehen geblieben war. Das Lächeln war abscheulich – die Oberlippe zog sich hoch und entblößte die Zähne.

Was für ein Grauen, dachte Lucia. Tja, Junge, du hast dir ja ein richtiges Prachtweibchen ausgesucht, warf sie Elijah einen kurzen Blick zu. Der Mann war deutlich wenig begeistert von Penelopes Affektiertheit und schien sich zu verfluchen, dass er heute zum zweiten Mal das Büro der Direktorin betreten hatte.

„Du wirst also mit Elijah arbeiten?“ – Mrs. Browns kleine Augen musterten Lucia von Kopf bis Fuß. Kaum wollte das Mädchen antworten, wechselte die Frau das Thema und wandte sich dem Heiler zu:
„Und der hübsche Junge auch? Der, der heute Morgen hier war… Wie hieß er noch gleich?“

„Leo. Leo Ricci, Mrs. Brown.“

Penelope lächelte und stieß einen freudigen, beinahe euphorischen Laut aus.

Lucia runzelte die Stirn.
Reiß dich zusammen, Antilope – oder wie auch immer du heißt. Bleib in deinem Stall und lass die Finger von meinem Freund, klar?

„Ja, Leo wird in meinem Team arbeiten“, fuhr Elijah fort. „Er ist zusammen mit Lucia aus Mailand gekommen.“

„Ach ja?“ – Die Frau schob ihre Brille bis an die Nasenspitze und würdigte das Mädchen erneut eines Blickes.

„Ja, Mrs. Brown“, konnte sich Lucia nicht verkneifen und fügte mit absichtlich erhobener Stimme hinzu: „Leo und ich sind zusammen.“

Bei Lucias lauter Stimme verzog Penelope das Gesicht und berührte mit den Fingern ihre Schläfen.

Elijah warf der neben ihm stehenden Lucia einen strengen Blick zu. Das Mädchen schnaubte, biss sich dann aber schnell auf die Lippen. Sie wusste, dass es jetzt nicht der richtige Moment war, um ihre Gereiztheit rauszulassen. Und es war sicher auch keine gute Idee, sich mit dem einzigen halbwegs vernünftigen Menschen in diesem braun-grau-tristen Teenager-Wahnsinn anzulegen – wer weiß, vielleicht würde sie noch Unterschlupf in seinem Büro suchen müssen, wenn es mal ganz unerträglich wurde.

„Na gut, wenn ihr also zusammen seid…“ – Mrs. Brown schob sich die Brille mit dem Zeigefinger zurück an den Nasenrücken.
„Dann befolgt auch gemeinsam die Anweisungen von Mr. Conn“, fügte sie mit einem spöttischen Unterton hinzu.

Die Frau drehte sich schwungvoll in ihrem Stuhl und richtete nun ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Elijah, wobei sie Lucia demonstrativ ignorierte – offensichtlich war sie ihr verübelt, dass sie ihr den Genuss verdorben hatte, über den hübschen Italiener zu fantasieren, der plötzlich in ihrem Reich aufgetaucht war. Denn das Lager war eindeutig ihr Reich, in dem Penelope wie eine Imperatorin herrschte und ihre Befehle nach Belieben verteilte.

Nummer zwei auf der Liste der „Freundlichen Gesichter“, dachte Lucia und biss sich auf die Unterlippe.

Die restliche Zeit – die sich für Lucia wie eine Ewigkeit anfühlte, obwohl es nur etwa fünf Minuten waren – sprach die Direktorin ausschließlich mit dem Psychologen. Mrs. Brown brachte den Vorschlag ein, während der Frühlingsferien eine Wanderung mit den Oberstufenschülern zu veranstalten, gemeinsam mit ein paar Lehrkräften und natürlich dem Psychologen. So ein Ausflug war erst einmal durchgeführt worden, sollte aber zur Tradition werden, mit dem edlen Ziel, die Kinder mit den Neuankömmlingen zu „verschwistern“.

Elijah nickte zustimmend, während er Lucia von der Seite ansah. Das Mädchen verzog das Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse.
Hättest du dir auch sparen können, Chef – ist ja klar, dass ich da mitmuss.

Der Psychologe ignorierte die Reaktion seiner Assistentin vollständig und hörte sich weiter ruhig Penelopes Anweisungen an – ganz so, als würde er genau wissen, wie der Engel tickt, den ihm der oberste Aegor persönlich geschickt hatte.

Ich würde mich nicht wundern, wenn sich auf deinem Tisch eine Akte findet, Elijah – eine, in der genau meine ganze Charakterbeschreibung drinsteht.

„Und sollen wir auch in diesem Jahr wieder mit allen Schülern Ausflüge zum Strand planen – so wie letzten Sommer?“ – erkundigte sich Elijah.

Penelope legte den Kopf schräg und zwinkerte dem Mann kokett zu. Die an den Kopf gegelten, kastanienbraunen Haare bewegten sich dabei kein bisschen – so viel Gel hatte sie auf ihren Dutt geschmiert, der typischen Frisur für jemanden in einer leitenden Position.

Der Heiler verzog keine Miene und ließ seine dunkelbraunen Augen nicht von der Direktorin.
Schön… und so leidenschaftlich, schrie der Gedanke von Mrs. Brown in Lucias Kopf auf. Das Mädchen verzog das Gesicht und hörte sofort auf, das seichte Geplapper einer unbefriedigten Frau mitzulesen, die krampfhaft versuchte, einen jungen Psychologen zu verführen.

Jung? Ist das dein Ernst?, schnaubte Lucia innerlich.
Elijah wird im März 175. Du könntest seine Ur-Ur-Enkelin sein – also reiß dich mal zusammen.

„Aber natürlich, Elijah“, sagte die Frau schließlich, nachdem sie keine Reaktion auf ihre stummen Signale erhalten hatte. Ein enttäuschter Seufzer entwich ihrer Brust, und ihr Gesichtsausdruck wurde ernst.

„Ausflüge in den Frühjahrs- und Sommerferien sollten zur gängigen Praxis werden. Was ist ein Camp ohne seine Traditionen? Ich – als Direktorin – habe vor, dieses Lager zum besten überhaupt zu machen“, deklamierte Mrs. Brown jedes Wort wie ein Befehl auf einem Paradeplatz, nicht wie Teil eines normalen Gesprächs in ihrem Büro.

Elijah räusperte sich und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.

„Wir dürfen die Gefahr nicht vergessen“, erinnerte er, während sich erneut ein pferdeähnliches Grinsen auf Penelopes Gesicht ausbreitete.
„Die Leute von der Regierung…“

Die Frau hob die Hand und streckte die Handfläche in seine Richtung, um ihn zu stoppen.

„Mr. Conn, bin ich die Direktorin oder Sie?“ – fragte sie.

„Sie, Mrs. Brown“, entgegnete Elijah trocken.

„Dann überlassen Sie mir die Verantwortung für die Sicherheit aller in diesem Gebäude.“

Der Heiler nickte verständnisvoll, verzichtete jedoch darauf, sich mit jemandem anzulegen, der sich für mächtig hielt – bloß, weil er den passenden Titel trug.

Lucia verdrehte die Augen.
Na, ich bin gespannt auf deine Sicherheitsmaßnahmen, wenn hier plötzlich das Böse auftaucht. Wobei… es müsste erst mal an mir und Leo vorbei. Und Elijah zähle ich auch nicht ab – Engel hin oder her, er ist immerhin ein Heiler. Einen legt er bestimmt um.

Der Psychologe seufzte schwer.

Nicht das angenehmste Gespräch, oder Elijah?, dachte Lucia.

„Dann gehen wir jetzt, Mrs. Brown“, sagte der Mann und bedeutete dem Mädchen mit einer Geste, ihm zu folgen.
„Ich muss unsere neue Mitarbeiterin einarbeiten.“

Die Direktorin würdigte Lucia noch eines herablassenden Blickes. Erst als Elijah die Tür erreichte, unterbrach sie das Schweigen:

„Gut, Elijah. Arbeiten Sie“, sagte sie und nickte zum Abschied.

Der Psychologe bat Lucia, mit ihm zurück in sein Büro zu gehen, um Details zu besprechen, die niemand anderes wissen sollte. Das Mädchen folgte ihm gehorsam, während sie innerlich schon Dutzende Aufgaben durchging, die Elijah sich möglicherweise für sie ausgedacht hatte.

„Morgen könnt ihr beide – du und Leo – mit der regulären Arbeit beginnen“, sagte der Heiler, sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

Na endlich, dachte Lucia erleichtert, ich hatte schon befürchtet, du kommst mit irgendeinem Blödsinn um die Ecke. Dämonen jagen ist für mich Alltag, aber Kinder bespaßen? Das ist dein Job, nicht meiner.

„Leo wird heute Abend zurück sein“, fuhr der Mann fort.
„Ich habe ihn in die Stadt geschickt. Er musste sich mit dem Mann treffen, der die Busse für den Ausflug organisiert. Wir können es uns nicht leisten, die Kinder sorglos durch San Francisco spazieren zu lassen.“

Lucia runzelte die Stirn.
Hast du dir etwa einen Laufburschen aus ihm gemacht? Wenn’s in die Stadt ging, hättest du selbst fahren können. Ich dachte, er hätte eine wichtige Mission – aber das ist doch Kinderkram.

Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihre Gedanken nicht laut auszusprechen – Elijah sollte nicht auf die Idee kommen, ihr bald etwas ähnlich Banales aufzutragen.

Im Moment bin ich dir ausgeliefert, dachte sie, aber das ist kein Dauerzustand. Und wenn diese Gefangenschaft vorbei ist, dann sag ich dir alles, was sich bis dahin angestaut hat – und glaub mir, da wird sich einiges anstauen.

„Für dich habe ich eine besondere Aufgabe“, sagte der Psychologe und sah Lucia direkt in die Augen.

– Fortsetzung folgt –

Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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