
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 10.1
Den ganzen Tag über herrschte im Lager ein reges Durcheinander. Die Kinder wuselten durch die Flure, trugen Kostüme, zogen sich um und riefen sich von den Zimmern aus gegenseitig zu. Gestern war Javier angekommen und hatte alles mitgebracht, was für die Vorbereitung von Halloween benötigt wurde.
Seit dem Morgen schmückten Lehrer und das Camp-Personal den Festsaal. Die Stühle waren in einen leerstehenden Raum im rechten Flügel des Gebäudes gebracht worden und an ihrer Stelle standen Kerzen sowie orangefarbene Kürbisse mit ausgeschnittenen Dreiecksaugen und schiefen Grimassen ihrer unregelmäßigen Münder. Durchsichtiger Stoff, der an Spinnweben erinnerte, hing von den Kronleuchtern herab. Auf der Bühne stand ein völlig harmloses Skelett. Leuchtend rote Kleckse auf dem Boden erinnerten an Blutspuren. Während die Kinder das Skelett schon am Morgen aus dem Lehrerzimmer geschleppt hatten – und Mrs. Gable jedes Mal die Augen verdrehte, wenn irgendein Knochen gegen das Geländer stieß – waren die blutigen Spuren von Patsy während des Mittagessens mit Aquarellfarbe gemalt worden.
Am Eingang zum Saal stand ein langer Tisch, auf dem eine große Glasschale mit Schöpfkelle thronte, die mit Punsch gefüllt war. Daneben drängten sich Teller mit Kürbiskuchen, kleinen Hexen-Muffins, Spinnennetz-Keksen, Bonbons, süßen Röllchen und Waffeln.
Zur Barkeeperin war Lucia gewählt worden und das Mädchen hatte mit Freude zugestimmt. Leo und Elijah hatten sich freiwillig gemeldet, für Ordnung zu sorgen. So mussten die drei keine Kostüme suchen – auch wenn das Thema des diesjährigen Halloweens Filmhelden aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert waren. Ein Kleid anzuziehen oder, noch schlimmer, sich eine Krone auf den Kopf zu setzen, hatte Lucia kategorisch abgelehnt. Sie zog es vor, als Organisatorin des Festes aufzutreten und in ihrer gewohnten Kleidung zu bleiben.
Neben dem Skelett und den Klecksen auf dem Boden hatte Mrs. Brown angeordnet, Poster mit Szenen aus bekannten Filmen an den Wänden aufzuhängen, die schon lange nicht mehr in Kinos gezeigt worden waren. Sowohl Kinder als auch Lehrer hatten sich gründlich auf das Fest vorbereitet, indem sie in den ersten beiden Herbstmonaten rund ein Dutzend alter Filme auf dem großen Monitor in der Bibliothek angesehen hatten. Die Aufsicht über Ruhe während der Vorstellungen und Ordnung in der Bibliothek hatte Miss Taylor übernommen. Alicia stellte eine Liste der besten und interessantesten Filme vergangener Zeiten zusammen – sowohl Spielfilme als auch Zeichentrickfilme –, damit die Schüler nicht einschliefen und die Zeit sinnvoll verbrachten.
Oft schaute auch einer der Lehrer oder Elijah in der Bibliothek vorbei. Letzteren interessierte allerdings weniger die Filme selbst, deren Premieren er vor über eineinhalb Jahrhunderten noch persönlich miterlebt hatte – zusammen mit den Schauspielern, die die Hauptrollen spielten. Er war überzeugt, dass niemand Scarlett besser verkörpern konnte als die großartige Vivien Leigh. Bei der Premiere von Vom Winde verweht hatte die Schauspielerin dem Heiler ein Foto signiert und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Arnold Schwarzenegger wiederum rief bei dem Psychologen stets die Assoziation zum berühmten Film von 1984, Terminator, hervor. Vor allem aber wollte Elijah mehr Zeit mit Alicia verbringen, auch wenn während der Filmvorführungen strikte Stille herrschen musste.
An der Suche nach Kostümen beteiligten sich nicht nur die Schüler, sondern auch jene Lehrer, die den letzten Oktobertag im Lager verbringen wollten. Selbst Mrs. Brown und der Küchenchef, Mr. Lloyd, beschäftigten sich neben ihren alltäglichen Pflichten mit der Herstellung ihrer Verkleidungen. Die Frau äußerte den Wunsch, einen Wettbewerb zu veranstalten. Der Besitzer des besten Kostüms sollte am Ende des Abends einen Preis erhalten.
Als die Dämmerung über die Stadt hereinbrach, eilte Lucia in den Festsaal, wo Leo und Elijah bereits auf sie warteten. Sie schlüpfte in den halbdunklen Raum, der nur von Kerzen und einigen Lampen über der Bühne erhellt wurde, und ging auf Leo zu, indem sie den „blutigen“ Spuren folgte. Aus den in den Ecken angebrachten Lautsprechern erklang rhythmische Musik. Das Skelett war auf die Stufen zur Bühne gesetzt worden, aus seinem Mund ragte ein Trinkhalm.
„Na, wenn das kein Pirat ist“, sagte der Junge, löste sich von der Wand gegenüber der Bühne und nahm Lucias Hand.
Neben Leo stand der Heiler und die beiden sprachen über die seit Jahrhunderten bestehende Tradition der Menschen, sich zu verkleiden, um Freude zu schaffen und so viele Süßigkeiten zu sammeln, dass sie genau bis zum nächsten Geschenkefest – Weihnachten – reichten.
„War das Kitschs Idee?“, begrüßte Lucia Elijah mit einem Kopfnicken. Ihre Hand aus der des Jungen lösend, ging sie zum Tisch hinüber.
Die laute Musik hinderte die Engel nicht daran, sich auch über große Distanzen hinweg zu unterhalten – jedoch nur, solange keine Menschen im Raum waren, um keine neugierigen Fragen oder verständnislosen Blicke zu provozieren. Denn sobald jemand auftauchte, mussten sie sich wie gewöhnlich unterhalten, sich zu ihrem Gesprächspartner beugen und die Melodie wie auch das Stimmengewirr übertönen.
„Ja“, antwortete Leo und wandte sich wieder Elijah zu, um das unterbrochene Gespräch fortzuführen.
Lucia stellte ein Tablett mit Plastikbechern rechts neben die Schale und schnitt den Kuchen in Stücke. Zufrieden mit der gleichmäßigen Anordnung der Teller auf dem Tisch bereitete sie sich darauf vor, die Gäste zu bewirten.
Als Erste betraten die Lehrer den Saal, angeführt von Mrs. Brown. Oder besser gesagt: der Schneekönigin im weißen Kleid mit hohem, gezacktem Kragen und einem kleinen Krönchen, das im Haar befestigt war. Mit sicherem Schritt umrundete Penelope den Saal, blieb beim Skelett stehen und kehrte dann zum Eingang zurück.
„Geht es dir gut?“, fragte Mrs. Brown, während sie Lucia über den Brillenrand hinweg musterte.
„Ja, Mrs. Brown“, erwiderte das Mädchen trocken.
„Sehr gut.“ – Penelope blieb in der Tür stehen und forderte die Lehrer auf, sich im Saal zu verteilen.
Umsonst hast du dieses Kleid nicht gewählt, dachte Lucia, nachdem sie die Gedanken der Direktorin gelesen hatte. Du bleibst die Hauptperson – so oder so. Du wirst den Gewinner des Kostümwettbewerbs bestimmen, die Kinder am Eingang empfangen und die Lehrer werden deine Entscheidung akzeptieren müssen.
Das Mädchen warf einen Blick auf Mrs. Gable, die sich in ein weites grünes Waldfee-Kostüm gehüllt hatte, das ihre Fülle geschickt verbarg. Mrs. Lindsay, die Arm in Arm mit Mr. Peterson hereinkam, folgte der Biologielehrerin. Auch wenn sie beide deutlich älter wirkten als die Charaktere, die sie sich ausgesucht hatten, konnte niemand mit der perfekten Haltung von Scarlett O’Hara im langen, weiten Kleid oder mit der Eleganz des ergrauten Rhett Butler im strengen Anzug mithalten.
Unter den Lehrern befand sich auch Mr. Harry Lloyd. Der Koch hatte sich als König Artus verkleidet und bedrohte mit seinem Schwert den eintretenden Mr. Hindley. Jeffrey, im Wolfs-Kostüm, knurrte warnend und trieb Artus zurück zur Schneekönigin. In der Tür erschien Violetta im roten Umhang mit Kapuze. Als sie den Wolf erblickte, schrie die Frau auf, legte die Hände an die Brust und spielte das verängstigte Mädchen, das im Wald einem Raubtier begegnet war.
„Großartig, Miss Grant“, lobte Penelope. „Und der rote Umhang ist sicher praktisch, damit die Kinder den Arzt sofort finden, falls ihnen der Kopf schwirrt.“ Sie lachte über ihren eigenen Scherz.
Violetta lächelte.
„Genau auf den Punkt, Mrs. Brown. Oh, verzeihen Sie – Eure Majestät.“
Penelope nahm eine würdige Haltung an und berührte Rotkäppchen leicht an der Schulter.
„Vergiss nicht, Mädchen, wer ich bin.“
Lucias Aufmerksamkeit entging nicht der sanfte Blick Elijahs, mit dem er die Literaturlehrerin bedachte.
Ja, du hast dich ernsthaft verliebt, Chef – das merkt jeder, ging es dem Mädchen durch den Kopf. Nun gut, Penelope hat den Kampf um dein gutes Herz von Anfang an auf verlorenem Posten geführt.
In einem himmelblauen Chiffonkleid, das beinahe schwebend wirkte, sah Alicia bezaubernd aus. Weiße Handschuhe, die bis über die Ellbogen reichten, und das zu einem Zopf geflochtene Haar verliehen der gewählten Erscheinung noch mehr Glaubwürdigkeit.
In den Saal stürmte ein Zweitklässler, verkleidet als Gespenst. Der Junge blieb stehen. Als er Alicia bemerkte, wandte er sich zu ihr um.
„Schade, dass ich nicht eingewilligt habe!“, rief er bedauernd. „Ich habe doch gesagt, wählt Elsa, dann wäre ich euer Olaf gewesen!“ Der Zweitklässler ließ den Kopf hängen. Der weiße Stoff mit den für die Augen ausgeschnittenen Löchern schleifte über den Boden, als der Junge auf den Tisch zuging. Im selben Moment legte sich eine Frauenhand auf seine Schulter.
„Willst du mein Olaf sein, Adam?“, fragte Alicia, beugte sich hinunter und sah dem Schüler direkt in die Augen. „Du bist ja ganz in Weiß gekleidet, wie Olaf.“
„Und die Karotte?“, fragte Adam mit einem freudigen Unterton und hob den Kopf.
Alicia berührte mit den Lippen die Stelle auf dem Stoff, wo sich die Wange des Zweitklässlers befand.
„Das ist nicht das Wichtigste.“
„Dann natürlich, Miss Taylor!“ Dem Gespenst wuchsen Arme, die unter dem weißen Stoff hervorkamen, und Adam klatschte in die Hände. „Oh, Elsa. Darf ich Sie so nennen oder…?“
„Heute bin ich Elsa“, erlaubte Alicia und ging, nachdem sie den Jungen zurückgelassen hatte, zu Lucia. „Worüber lachst du?“ – Sie schnaubte leise, als sie das Lächeln auf dem Gesicht der Brünetten bemerkte.
„Ich hoffe, die zwei Königinnen teilen sich den Prinzen“, warf Lucia einen flüchtigen Blick auf den neben Leo stehenden Heiler.
„Ich friere sie ein“, flüsterte die Blonde verschwörerisch und zwinkerte dem Mädchen zu, als sie verstand, von wem die Rede war.
Lucia prustete leise.
„Aber sie kann das genauso gut. Und außerdem hat die Schneekönigin sicher mehr Übung als Elsa. Besser eine andere Idee.“
„Welche?“ – Alicia sah in Richtung Elijahs.
Der Mann nickte ihr grüßend zu.
„Lade ihn zum ersten Tanz ein“, antwortete Lucia, schöpfte Punsch und goss ihn in einen Becher. „Glaub mir, Penelope wird keine Gelegenheit verpassen, ihn in ihre Arme zu schließen.“ Sie reichte der Lehrerin den Becher. „Tu’s einfach!“
Mrs. Brown trat an den Tisch und musterte die Mädchen mit einem eisigen Blick – ganz wie es sich für die Schneekönigin gehörte. Sie reichte Alicia ein Klemmbrett, in das sie gegenüber den Nachnamen der Kinder die Namen der Charaktere eintrug, als die sie verkleidet waren.
„Du bist dran, Elsa“, wandte sie sich mit ebenso frostiger Stimme an die Schönheit. „In etwa zwanzig Minuten löse ich dich ab.“
Die Blondine unterdrückte ein empörtes Seufzen über den beinahe schon eingeplanten Versuch der Direktorin, ihr Gespräch mit dem Psychologen zu vereiteln und nahm mit einem gezwungenen Lächeln das Klemmbrett entgegen.
„Und du bist nur ein Gespenst, Adam?“ – Nachdem sie Alicia verdrängt hatte, wandte sich Penelope dem Schüler zu und verzog unzufrieden das Gesicht. „Du hättest doch…“ –
„Olaf“, antwortete die Literaturlehrerin für den Jungen und legte ihm den Arm um die Schultern. „Er gehört schließlich zu mir.“
Mrs. Brown schob ihre Brille bis auf die Nasenspitze und musterte Adam, der im weißen Laken stand, mit skeptischem Blick.
„Dein Olaf ist aber ein wenig geschmolzen, Elsa“, bemerkte sie und spielte damit auf die Diskrepanz zwischen dem Kostüm des Jungen und der Figur an.
Alicia lächelte.
„Wir sind doch in Kalifornien, Eure Majestät“, entgegnete sie und fand damit einen Ausweg aus der unangenehmen Situation, die dem Schüler die Stimmung hätte verderben können. „Da müssen auch wir vorsichtig sein.“
Penelope verzog die Lippen zu einer Art parodistischem Lächeln.
„Na gut, geht“, sagte sie gönnerhaft und winkte in Richtung der Tür, vor der sich bereits die Figuren der Kinder in bunten Kostümen abzeichneten.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.