
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 11.2
Nachdem sie Lilibet Roy anvertraut hatte, bis Patsy das Mädchen ins Zimmer holen würde, ging Lucia in den Hof hinaus. Sie wollte Adrian vor seiner Abreise aus dem Lager nicht mehr begegnen. Die Gedanken und das Gepäck der Erinnerungen an sein Handeln während der Zeit in Europa zeigten ihr einmal mehr, wie niederträchtig Menschen sein konnten. Und das bezog sich nicht nur auf Adrian selbst. Die Grausamkeit menschlicher Herzen wurde durch die Zeit und die Ereignisse in der Welt nur genährt. Doch so schwer die Tage auch sein mochten, man konnte seinen Werten treu bleiben. Ja, niemand behauptete, es sei leicht, manchmal war es fast unmöglich – aber der Mensch ist ein Wesen, das, wenn nicht jetzt, so bald, der Ungerechtigkeit überdrüssig wird und sich von den Knien erhebt. Am einfachsten war es, sich der Welt zu beugen, die ihre Regeln ständig änderte, den Kopf einzuziehen und das Joch zu ziehen, in das man sich selbst hatte spannen lassen.
Mit dem Erscheinen der verfluchten Straße wurden die Gesetze härter, gnadenloser, unerträglicher. Sie zwangen viele, gegen die eigenen Leute zu handeln, das Gewissen und moralische Prinzipien zu verraten und aus den Tiefen ihres Herzens niederträchtige Gedanken hervorzuholen. Und Gedanken, wie man weiß, werden zu Worten, und Worte verwandeln sich in Taten.
Lucia ließ ihren Blick über den in der Ferne liegenden Wald schweifen. Der Morgen in San Francisco war sehr warm. Der Südwind hatte die Regenwolken vertrieben und nun schien die Sonne am klaren Himmel. Helle Strahlen wärmten die Erde und brachten fröhliche Stimmung mit sich. Überall lag der Duft des Frühlings. Lucia musste nicht einmal tief einatmen, damit das Aroma des jungen, frischen Grüns jede Zelle ihres Körpers erfüllte. Die Luft vibrierte vom fröhlichen Zwitschern der schwarzen Mauersegler und dem schnarrenden Surren der ockerfarbenen Kolibris, die nach dem Winter aus Mexiko zurückgekehrt waren. Das kaum hörbare Rascheln der Blätter brachte Ruhe und die glückliche Vorahnung von etwas Neuem und sehr Gutem.
Lucia setzte sich auf eine der Bänke im Hof und zog ihre Lederjacke aus. Sie krempelte die Ärmel ihres T-Shirts bis zu den Ellbogen hoch, lehnte sich zurück und streckte die Beine nach vorne, während sie ihr Gesicht den sanften Sonnenstrahlen entgegenhielt.
Doch so friedlich die Umgebung auch war, in ihrem Inneren fühlte es sich erbärmlich an. In ihrem Leben hatte sie sich längst an jene gewöhnt, die unter den Wolken umherwuselten und glaubten, große Taten zu vollbringen, ungeachtet des Schadens, den sie anderen Menschen zufügten.
Um Besitz und Geldbeutel zu retten, opferte man Freundschaft, Liebe, familiäre Werte. Denunziationen von Kollegen und Freunden waren in allen unruhigen Zeiten gängige Praxis gewesen. Die Straße zur Hölle hatte die letzten Jahre zu den dunkelsten dieses Jahrhunderts gemacht. Viele Familien waren zerstört worden, Kinder von ihren Eltern getrennt und einstige Freunde waren zu erbitterten Feinden geworden. Schlimmer noch war, dass die Regierung selbst die Denunziationen förderte, indem sie denen, die davon Gebrauch machten, das Privileg gewährte, nicht eines Nachts zum Portal verschleppt zu werden. Die Regierung übte Druck auf die Leiter verschiedener Institutionen aus, damit diese „verdächtige“ Personen meldeten. Von der Peitsche der Angst getrieben, gaben die Menschen nach, verloren ihre Menschlichkeit, zeigten mit dem Finger auf Kollegen und verstrickten sich in Lügen bis über beide Ohren.
So verhielt sich auch Adrians Vorgesetzter, bis man ihn eines Tages erschossen in seinem Büro fand. Alles deutete auf Selbstmord hin und so wurde es schließlich auch im Bericht des Polizeipräsidiums Frankfurt festgehalten. Doch danach richtete sich der Druck der Regierung gegen Adrian selbst. Nach dem Tod seines Chefs übernahm er die Stelle des ersten Beraters des polnischen Botschafters in Deutschland. Lucia war sich nicht sicher, ob die faule Seele des Polen nicht für ein süßes Stück vom Kuchen – die Befreiung von der Straße – zu verkaufen wäre.
Ein Klingelzeichen ertönte und aus den Klassenräumen im zweiten Stock strömten die Kinder in den Flur. Die Schüler der unteren Klassen schwenkten herzförmige Karten und prahlten bei ihren Freunden mit dem, was darin geschrieben stand. Lucia lächelte.Den Valentinstag hatte sie nie für einen wichtigen Feiertag gehalten und stets alle möglichen Geschenke abgewiesen, die ein weiterer Verehrer ihr machen wollte. Für Lucia waren Geschenke an diesem Tag eine sinnlose Verschwendung von Zeit und Geld und die liebestrunkene Stimmung, die scheinbar in der Luft lag, empfand sie nur als lästig. Doch das war, bevor Leo in ihr Leben trat. Nicht, dass sie sofort ihre Einstellung geändert hätte und nun mit klopfendem Herzen auf Glückwünsche wartete. Nein, sie verdrehte noch immer voller Empörung die Augen, wenn sie auf den Straßen kichernde Mädchen oder Jugendliche auf Bänken sah, die eng umschlungen saßen. Nur verband sich der Tag der allgemeinen Liebe für Lucia inzwischen mit dem Geburtstag eines Menschen, der ihr teuer war. Viele Jahre zuvor war sie zu dieser Zeit an den Stadtrand von Rom geeilt, um in einem Park den blondhaarigen Wächter zu treffen. Der verwirrte Blick der grauen Augen, das besorgte Gesicht des Jungen, seine Unsicherheit wegen seiner Nacktheit – all das würde dem Mädchen für immer im Gedächtnis bleiben.
Lucia biss sich auf die Unterlippe. Damals wäre ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, dass dieser Schüler der erste Junge sein würde, für den sie jenes Gefühl empfinden sollte, das man Liebe nennt. Sie wusste, was Liebe war, vom ersten Augenblick an, als sich hinter ihrem Rücken die Flügel entfalteten. Die Liebe zum Schöpfer, zu seinem wichtigsten Werk. Und auch wenn Lucias Liebe zu den Menschen unberechenbar war, oft von Nachsicht geprägt, so wusste sie doch genau, was sie leitete, wenn es nötig war, einen Menschen zu verteidigen.
Patsy winkte Lucia zu und zeigte auf eine Valentinskarte. Das Mädchen ahnte sofort, von wem der Gruß kam. Sie musste nicht einmal die Gedanken der älteren Schülerin lesen. Hinter Patsy lief, von Freundinnen begleitet, die fröhliche Gretta. In der Menge bemerkte Lucia auch Ian. Der Brünette sah verlegen aus und drehte die Karte in den Händen.
Na gut, mein Freund, dachte das Mädchen, du wirst wohl lernen müssen, Geschenke anzunehmen.
Wieder ertönte das Klingelzeichen, das die Schüler zurück in die Klassen rief. Der Flur leerte sich im Nu, und nur die Lehrer, die aus dem Lehrerzimmer kamen, gingen in ihre Unterrichtsräume.
Na schön, auch für mich wird es Zeit, beschloss Lucia und stand auf, die Jacke in der Hand. Leo wartet – und Hilfe beim Abendessen wird ihm nicht schaden.
Durch die großen Fenster sah Lucia Cash. Mit ausladenden Gesten ging das Mädchen den Flur entlang. Der Streit mit Kitch hatte ihre Erscheinung gezeichnet: Ihr Gesicht war gerötet, und die Haare, durchsetzt mit roten Strähnen, flatterten wirr über ihre Schultern. Cash drehte sich um, als beim Treppenhaus der Spanier auftauchte. Der Brünette hielt eine Valentinskarte in den Händen. Das Mädchen erklärte ihm, er solle die Karte behalten, und setzte ihren Weg fort. Vor der Tür des Klassenraums, mit einem giftigen Lächeln auf den Lippen, schlug ihm Cash vor, sie doch dem Mädchen zu schenken, das bereits ein Geschenk von ihm bekommen hatte.
Allein zurückgeblieben, trat Kitch von einem Fuß auf den anderen. Mit schuldbewusstem Blick sah er sich im leeren Flur um, dann betrachtete er die unnötig gewordene Valentinskarte. Der Junge fluchte, zerriss sie und warf die Stücke in den Mülleimer neben der Treppe. Weiter vor sich hin schimpfend, richtete Kitch den Kragen seines Hemdes und trat an die Tür des Klassenraums, in den Cash gerade gegangen war, und riss sie auf.
Lucias linker Mundwinkel hob sich leicht. Grund für den heutigen Streit – wie auch für viele frühere – war Phoebe Marshall gewesen. Genauer gesagt: die verstärkte Aufmerksamkeit, die Kitch ihr entgegenbrachte. Seit dem nächtlichen Halloween-Ausflug hatte die Beziehung zwischen Cash und Kitch Risse bekommen. Das Mädchen wollte ihm lange nicht verzeihen, dass er sie hatte im kalten Herbstwald frieren und sich große Sorgen machen lassen. Mehr als einmal musste Kitch um Verzeihung bitten, doch die hochmütige Brünette schenkte seinen Worten keinerlei Beachtung. Des immer gleichen Verhaltens von Cash überdrüssig, wandte sich der Junge dem Sport und dem Umgang mit anderen zu.
Gegen Winter beschränkte sich die Kommunikation des Paares auf mürrische Grüße in der Mensa und viele dachten, dass die KecKitch-Ära, die seit Beginn des Lagers geherrscht hatte, zu Ende ging. Kitchs Aufmerksamkeit richtete sich auf eine Klassenkameradin, die im Herbst dazugekommen war. Mit Phoebe ließ es sich leichter reden als mit Cash. Das Mädchen litt nicht an Größenwahn, hatte keinen so eigensinnigen Charakter und war mit vielen, unabhängig vom Alter, befreundet. Die Beziehung zu Cash hatte den jähzornigen Jungen belastet, und so wandte er sich der Oberstufenschülerin zu, die im bulgarischen Burgas geboren war.
Phoebe war freilich keineswegs von mädchenhafter Verzückung erfasst über die plötzliche Aufmerksamkeit des Jungen, der zu Cash gehörte. Sie wies all seine Grüße und Einladungen zu Gesprächen unter vier Augen zurück und sprach offen von der Verschlechterung des Verhältnisses zu ihrer Klassenkameradin, das ohnehin schon zu wünschen übrigließ. Doch der Spanier blieb hartnäckig und überhäufte Phoebe mit kleinen Geschenken. Eines davon war die herzförmige Karte, die Kitch seiner neuen Flamme geschenkt hatte. Nach drei Monaten wollte Cash die Beziehung wieder aufnehmen, da ihr klar geworden war, dass der Brünette im Gegensatz zu ihr nicht allein bleiben würde. Nicht jeder Oberstufenschüler wollte mit einem Mädchen mit solch einem widerwärtigen Charakter ausgehen. Reden – ja, aber nicht zusammen sein. Der Sturm an Emotionen und der Tränenfluss, die von der wütenden Cash während der Streitereien ausgingen, waren für einen siebzehnjährigen Jungen kaum auszuhalten. Und um mit ihr zu streiten, brauchte es nur einen winzigen Funken – einen zweideutigen Blick auf ein anderes Mädchen oder eine Verspätung zum Treffen.
Lucia drehte sich abrupt um und sah überrascht in Phoebes Gesicht.
„Miss Marshall, warum sind Sie gerade nicht im Unterricht?“, stellte sie die offensichtliche Frage.
Phoebe legte den Kopf schräg und blinzelte.
„Aus demselben Grund, Miss Neri, aus dem auch Sie sich vor Ihren Pflichten drücken“, konterte die Oberstufenschülerin mit einem Schmunzeln auf den vollen Lippen.
„Ich hoffe, du wirst nicht so unverschämt mit Mrs. Brown sein“, erwiderte Lucia, die es der Schülerin nicht erlauben wollte, sie bloßzustellen.
Phoebe hob die Hand, um ihre Augen vor der hellen Sonne zu schützen.
„Physik interessiert mich wenig, Miss Neri, wie Sie wohl schon bemerkt haben. Also habe ich beschlossen, zu schwänzen.“
Lucia schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans, die Jacke unter dem Arm und musterte die Schülerin mit spöttischem Blick.
„Ich dachte, das mit der ‚Shawshank-Flucht‘ wäre Dennis’ Spezialität, nicht deine, Phoebe“, sagte sie und spielte auf das vagabundierende Leben des Jungen an, das er vor seiner Verschleppung zum Portal geführt hatte.
Ein halbes Jahr lang hatte Elijah mit Dennis arbeiten müssen, damit er seine Fluchtversuche aus dem Lager aufgab. Ein paar Mal erwischte der Psychologe den Jungen spätabends an den Eingangstüren und noch bevor Lucia und Leo in Frisco auftauchten, hatte er ihn sogar im Wald suchen müssen.
Das Vagabundieren war Dennis in Fleisch und Blut übergegangen, obwohl seine Familie zur Mittelschicht gehörte. Als drittes Kind hätte der Junge seiner Mutter bei der Erziehung der jüngeren Schwestern helfen können, doch Dennis zog es vor, dem Babygeschrei und den eintönigen Schultagen die laute, zugleich aber gefährliche Straße vorzuziehen. Zum ersten Mal war er gleich nach seinem neunten Geburtstag von zu Hause weggelaufen. Ein Jahr lang belog er seine Eltern, versprach ihnen immer wieder, es nie mehr zu tun – und streifte doch weiterhin durch die Straßen von Breslau.
Bald schloss er sich einer Gruppe gleichaltriger Abenteurer an und beschloss endgültig, zu ihnen in den Schuppen am Stadtrand zu ziehen, der ihnen als provisorisches Obdach diente. Zusammen mit den schmutzig gekleideten Kindern zog Dennis von Dorf zu Dorf, schnüffelte Klebstoff, wenn die schmerzhaften Magenkrämpfe der halbhungrigen Tage unerträglich wurden und versuchte, Essen bei Bauern oder in Läden zu stehlen, wenn das Nötigste fehlte.
Die Straße zur Hölle hatte den Jungen nur kurz beeinflusst, solange er sich noch in seiner Heimatstadt unter Verwaltung befand. Als Dennis schließlich im Lager ankam, träumte er weiterhin von einem freien Leben in den Slums von San Francisco. Erst die Gespräche mit Elijah und der Umgang mit Gleichaltrigen, die seine Leidenschaft fürs Vagabundieren nicht teilten – eine Leidenschaft, die leicht wieder in eine Verschleppung auf die Straße hätte münden können, diesmal mit weit schlimmerem Ausgang als beim ersten Mal – bremsten seinen Drang nach einem Umherziehen.
Die Wächter unterstützten den Heiler, und so hatte der Junge keine Möglichkeit mehr, seine Gedanken vor den drei Engeln zu verbergen. Er gab die Fluchtpläne auf, da er begriffen hatte, dass der Psychologe und das Paar aus Italien auf unerklärliche Weise von seinen Absichten erfuhren und sie im Keim erstickten.
Schon bald lenkten der Schulalltag und die neuen Freunde Dennis so sehr ab, dass er keine verzweifelten Versuche mehr unternahm, die Mauern des Lagers zu überwinden.
Er unternahm sie nicht – aber vergessen hatte er sie auch nicht, dachte Lucia und bemühte sich, den Jungen stets im Auge zu behalten. Im vergangenen Jahr hatte es keine Zwischenfälle mit Dennis gegeben. Selbst als die Oberstufenschüler nachts in den Wald gingen, schlief der Junge friedlich in seinem Bett.
„Ich bin ja auch gar nicht weggelaufen“, sagte Phoebe. „Bin nur spazieren gegangen. Wollte keine unnötigen Probleme.“
Lucia schnalzte mit der Zunge.
„Wir wissen von deinen Problemen, Phoebe. Theodor gibt nicht auf“, zwinkerte sie dem Mädchen zu.
Die Oberstufenschülerin verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.
„Wir sind hier nicht in der Arena, Lucia. Und die Karte, die ich annehmen musste, bedeutet nicht, dass ich meine Entscheidung geändert habe. Einen bulgarisch-griechischen Krieg wird es nicht geben.“
„Griechenland musste nachgeben“, erinnerte Lucia an den Ausgang des Konflikts zwischen den beiden Ländern Mitte des 20. Jahrhunderts.
„Cash gehört nicht zu denen, die nachgeben“, schnaubte Phoebe und setzte sich auf die Bank. „Ja, und ich habe es auch nicht eilig“, fügte sie hinzu und strich die Falten ihres Rocks glatt.
Lucias Blick blieb an der großen Stupsnase hängen – breit und nach unten hin dicklich, ein Makel, den das Mädchen offensichtlich schamhaft empfand. Doch der knallrote Lippenstift und die massive Spange im kaffeebraunen Haar halfen, diesen körperlichen Nachteil zu kaschieren.
„Du meinst Kiril?“
Phoebe verzog schmerzhaft das Gesicht und ballte die Finger zur Faust.
„Hast du es von Elijah erfahren? Obwohl – warum frage ich überhaupt.“ Sie blickte über die Schulter. „Ja, von Kiril“, antwortete das Mädchen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich niemand sonst im Hof befand.
„Er war achtzehn – und eine Beziehung mit einer Minderjährigen …“
Phoebe hob den Kopf und sah Lucia direkt in die Augen.
„Das ist mir egal. Ihm auch.“
„Aber dass er …“
„Ein Stiefbruder ist“, unterbrach die Schülerin sie. „Wenn es in der Welt erlaubt ist, mit Cousins auszugehen, warum sollte ich dann meinen Stiefbruder nicht lieben dürfen?“
„Aber gerade wegen dieser Liebe bist du doch im Internat gelandet.“
„Das Internat für junge Damen in Sofia war nicht halb so edel, wie man es darstellte“, in ihrer Stimme klang Sarkasmus mit. „Aber selbst dort wäre ich in den ersten Monaten fast verrückt geworden. Meine Eltern verboten uns den Kontakt. Vor allem seine Mama. Eine aufgeblasene Glucke! Damals dachte ich, Kiril hätte mich vergessen“, sie senkte die Augen. „Aber er fand mich. Und da war es mir egal, welche Verbote oder Regeln es gab – sei es von meinen Eltern oder vom Internat. Wir trafen uns heimlich.“ Phoebe sah wieder zu Lucia auf. Bei der Erinnerung an diese glückliche Zeit glänzten ihre Augen und ihre Wangen röteten sich. „Abends holte mich Kiril zu sich, und wir verbrachten stundenlange Gespräche“, sie räusperte sich. „Und nicht nur Gespräche. Wir planten, dass er mich vor den Sommerferien aus diesem trostlosen Ort holen und wir in die Niederlande fahren würde, weit weg von den reichen Eltern. Kiril wollte nach Den Haag wechseln und suchte Arbeit, damit wir uns eine Wohnung leisten konnten.“
„Doch die Straße hat alles verändert“, flüsterte Lucia.
Phoebe presste die vollen Lippen zusammen und ballte erneut die Fäuste.
„An jenem Abend wartete Kiril vergeblich auf mich. Wir hatten verabredet, uns an der Landstraße ein paar Kilometer vom Internat entfernt zu treffen. Das sollte kein gewöhnlicher Spaziergang sein, sondern eine Flucht. Doch als ich das Tor des Internats hinter mir ließ, warteten schon Männer in schwarzen Anzügen auf mich … Darum will ich keine Beziehungen mehr. Schon gar nicht mit jemandem wie Kitch“, sprach die Schülerin die letzten Worte mit eisiger Stimme.
„Liebst du Kiril immer noch?“
„Ja“, nickte Phoebe. „Schließlich ist es noch kein Jahr her, dass ich bei ihm war. Und jetzt begreife ich, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Am meisten fürchte ich, dass Kiril anfängt, nach mir zu suchen“, gestand sie. „Dann könnte auch er im Bus landen und … sterben.“
Lucia legte ihre Hand auf die Schulter der Oberstufenschülerin.
„Lass uns auf das Beste hoffen“, sagte sie. „Und sag niemals nie, Phoebe. Solange du nicht gebrochen bist, bist du nicht besiegt. Wer weiß schon, was morgen geschehen kann.“
Es ertönte das Klingelzeichen, und die letzte Unterrichtsstunde des Tages war beendet.
Lucia nahm die Hand zurück, und Phoebe erhob sich von der Bank.
„Ich gehe, Mrs. Brown gestehen, dass ich ihren Unterricht geschwänzt habe“, sagte die Schülerin mit einem bitteren Lächeln.
„Und warum solltest du das gestehen?“, hielt das Mädchen sie von einer Auseinandersetzung mit der Direktorin ab. „Du hast die Zeit sinnvoll genutzt, indem du mit der Assistentin des Psychologen gesprochen hast. Also sag einfach, dass du bei mir warst. Ich werde es bestätigen.“
Phoebe schmunzelte.
„Danke, Lucia.“
„Schon gut“, zuckte das Mädchen mit den Schultern. „Lauf jetzt, ich muss auch nach Hause. Der Geburtstagskind ist bestimmt schon sauer, weil sein Helfer in der Küche fehlt. Wobei …“ – sie winkte ab – „aus mir wird sowieso nie eine Köchin! Es wäre leichter, einem Bären das Tanzen beizubringen, als mir das Kochen.“
Die Oberstufenschülerin lachte.
„Grüß Leo von mir und richte ihm Glückwünsche aus“, sagte sie und ging auf die breite Treppe zu, die zu den Eingangstüren führte.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.