
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 11.4
Phoebe hörte auf zu lachen und ließ den Blick durch den Flur schweifen. Ihre leeren Augen blieben auf dem Gesicht des Spaniers hängen. Die Stirn des Brünette zog sich zusammen, die zusammengewachsenen Augenbrauen wanderten zur Nasenwurzel.
„Und was ist daran lustig, Phoebe?“, bellte Kitch.
Die Gleichaltrige versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, doch die Gedanken wirbelten durcheinander. Der plötzlich aus dem Nichts aufgetauchte Hass hatte sie zunächst schockiert, doch dann wuchs er mit jeder Minute, zog alles Negative aus ihrer Erinnerung hervor, das ihr jemals widerfahren war. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild der Stiefmutter auf, die ihre Gefühle verhöhnte, des Vaters, der wütend auf seine Kinder war. Selbst das Gesicht von Kirill, der sie dazu gebracht hatte, das Lagergelände zu verlassen, erschien ihr nun verändert – hämisch und verlogen. Als hätte etwas die Realität verzerrt und alles in schwarze Töne getaucht, ohne einen einzigen hellen Schimmer.
Das Mädchen erinnerte sich nicht mehr daran, wie alles geschehen war – wie etwas Fremdes wie ein Wirbelsturm in ihren Geist eingebrochen war, alle Dämme und Barrieren niederreißend. Wie in den Nachrichten über Naturkatastrophen, wie in einem Katastrophenfilm lähmte der Wirbel den Körper und zwang ihn, sich dem Willen der Gewalt zu unterwerfen. Doch anders als Naturphänomene trug diese Kraft eine weit größere Gefahr in sich. Man konnte sie nicht aufhalten, nicht darauf warten, dass sie abklang – denn das würde niemals geschehen. Mit jedem Herzschlag, jedem Atemzug riss sie Phoebe immer weiter in die Vergangenheit, zerstörte ihre Individualität, zertrat die Erinnerungen an die schönsten Momente ihres Lebens.
Phoebes Hände gehorchten ihr nicht, doch das Mädchen senkte den Kopf und führte sie mit aller Kraft zu ihrem Gesicht. Vor ihren Augen bewegten sich die erstarrten Finger.
Kitch verlor die Geduld, während er auf eine Antwort wartete. Doch als seine Klassenkameradin nicht nur schwieg, sondern auch begann, mit den Handgelenken vor seinem Gesicht herumzufuchteln – offenbar, um sich über ihn lustig zu machen –, explodierte er.
„Phoebe, bist du irre geworden?“, brüllte der Brünette. „Antworte!“ bellte er erneut.
Die laute Stimme des Spaniers riss Phoebe aus der Erstarrung. Der Schleier der Benommenheit löste sich, ihre Hände sanken kraftlos herab und sie sah Kitch an. In ihrem Blick lag Verwirrung.
„Hast du etwas gesagt?“, murmelte sie, während ihre Zunge schwerfällig wurde.
Der Junge war verblüfft. Er wich zurück, sprang dann aber sofort dicht an das Mädchen heran.
„Hältst du mich für einen Idioten, Baby?“, knurrte Kitch.
Sein Gesicht war direkt vor ihrem. Die Nasenflügel des Jungen blähten sich vor Empörung, er atmete schwer, als wäre er gerade einen Hindernislauf gerannt.
Phoebe stieß ihn von sich.
„Du siehst aus wie ein abgehetztes Pferd. Nein, besser gesagt – wie ein wütender Stier.“
Die Wut des Spaniers wirkte auf Phoebe berauschend. Die Macht in ihr erhob sich, der Wirbel heulte langgezogen, nährte sich von den negativen Emotionen, die von Kitch ausgingen, und riss Phoebe sofort in einen wilden Tanz. Sie schloss die Augen. Aus ihrem Gedächtnis verschwand das letzte schöne Ereignis – Spaziergänge mit ihrer Mutter am See, als sie erst drei Jahre alt war – und an seine Stelle trat eine bodenlose Trauer. Die ungezähmte Kraft unterwarf ihren Geist, lähmte den Körper. Doch diesmal brach die Gewalt nach außen hervor. Es schien, als sickerte sie aus jeder Zelle, drängte durch die Haut hinaus in die Welt. Allmählich gehorchte der Körper wieder – doch nicht Phoebe, sondern jener Macht, die in ihr wohnte. Das Mädchen öffnete die Augen.
„Dachtest du wirklich, Idiot, ich falle dir in die Arme, nur weil du mir mit einer billigen Postkarte winkst?“
Phoebe fletschte die Zähne, Hass flackerte in ihren Augen. Hass auf den, der vor ihr stand, auf alle, die im Lager lebten, auf die ganze Welt. Hass auf sich selbst. Ein wahnsinniges Verlangen zu zerstören bemächtigte sich des Mädchens, doch der letzte Funken der alten Phoebe richtete ihn gegen sie selbst – in den Drang, aus den verhassten Mauern des Lagers zu fliehen. Der pulsierende Gedanke, sich von der erdrückenden Trauer zu befreien, hämmerte in ihrem Kopf, trieb sie in die Agonie. Der letzte Funke erlosch für immer.
„Was hast du da gemurmelt, du verdammte Schlampe?“, brüllte Kitch, dessen Gefühle so grausam zurückgewiesen worden waren. „Ich soll also der Stier sein? Sieh dich doch an! Keine sechs Monate bist du hier und schon hältst du dich für die Königin! Niemand braucht dich! Du wirst immer eine Außenseiterin bleiben!“ Das Gesicht des Jungen glühte vor Zorn, seine Finger ballten sich zur Faust.
Die Worte des Spaniers wurden zum Punkt ohne Wiederkehr und die in Phoebe tobende Gewalt brach hervor, durchzuckte ihren ganzen Körper mit Schmerz. Das Mädchen spürte, wie die Kapillaren unter der ungeheuren Kraft platzten. Phoebes Gesicht verzerrte sich vor Zorn, sie knirschte mit den Zähnen, aus ihrer Brust brach ein wütendes Knurren hervor.
Die Luft im Korridor wurde schwer und erdrückend.
Der Spanier spürte, wie die Kälte durch seine Kleidung drang und seinen Körper mit eisigem Atem umhüllte. Dem Jungen wurde unheimlich. Die Wut verflog im selben Augenblick. Er erbleichte und wich von Phoebe zurück.
Das Mädchen machte einen Schritt auf den Mitschüler zu. Bevor Kitch zur Seite springen konnte, warf Phoebe ihn mit einem einzigen, hasserfüllten Blick und einer leichten Berührung an der Wand zurück. Der Brünette stürzte zu Boden und schlug schmerzhaft mit dem rechten Knie auf. Seine Altersgenossin rannte Hals über Kopf zur Treppe. Kitch kam wieder auf die Beine und humpelte zum Fenster. Im Licht der gelben Laternen sah er Phoebe in Richtung des Waldes rennen. Jemand rief ihren Namen, doch das Mädchen verlangsamte keinen Moment, sondern lief weiter auf die sich verdunkelnden Kronen der Mammutbäume zu.
Ins Licht trat Ian und rief seine Mitschülerin erneut. Als er begriff, dass seine Versuche, Phoebe von einer unüberlegten Tat abzuhalten, die unweigerlich Ärger nach sich ziehen würde, erfolglos blieben, folgte er ihr. Schon bald verschwanden die beiden Gestalten aus Kitchs Sichtfeld. Der Junge trat nervös auf der Stelle, rieb sich das schmerzende Knie und überlegte, was er mit der Situation anfangen sollte. Lange brauchte er nicht nachzudenken – die Antwort kam von selbst.
Vom dritten Stockwerk stieg Mister Peterson herab. Als der Mann den erbleichten Kitch sah, entfuhr ihm fast ein Aufschrei.
„Phoebe schläft in ihrem Zimmer?“, fragte der Lehrer mit Hoffnung in der Stimme. „Ich habe Elijah beruhigt, aber er wird trotzdem kommen.“
„Gut, dass er kommt“, versuchte der Junge möglichst ruhig zu sprechen, damit Mister Peterson seine Verwirrung nicht bemerkte. „Phoebe ist schon wieder verschwunden.“
Das Minifon in der Hand des Lehrers zitterte, als er erneut den Psychologen anrief.
Die laute Melodie des Minifons hallte durch die nächtlichen Straßen der Stadt, als Lucias Motorrad South Beach verließ. Ohne den Lenker loszulassen, griff das Mädchen in die Hosentasche. Es war Mister Peterson, der anrief.
„Ja“, antwortete Lucia, während sie das Motorrad nach rechts lenkte.
Leos Kawasaki raste dicht hinter ihr und das Mädchen spürte den gleichmäßigen Atem des Jungen in ihrem Rücken.
„Elijah hat mir gesagt, dass ihr früher aufgebrochen seid“, die Stimme des Mannes zitterte.
Lucia spannte sich an, in Erwartung der nächsten Worte von Gale. Im Moment konnte sie seine Gedanken nicht lesen, doch die innere Panik, die ihn seit ihrer Antwort auf den Anruf gefangen hielt, presste ihn in ihre düsteren Arme.
Mister Peterson räusperte sich, um Zeit zu gewinnen, bevor er die Nachricht überbrachte, die – wie er vermutete – die Assistentin des Psychologen erschüttern würde.
„Ian hat Phoebe unweit des Lagers leblos gefunden“, sagte der Lehrer mit einem hörbaren Seufzer. „Sie ist tot, Lucia“, das Mädchen hörte ein unterdrücktes Schluchzen des Mannes. „Mister Massand hat sie mit den Jungs hergebracht. Elijah hat angeordnet, den Körper im Festsaal aufzubahren“, erneut schniefte Gale. Dann holte er tief Luft und sprach weiter. „Ihr Schädel ist zertrümmert. Die Verletzung war nicht mit dem Leben vereinbar. Lucia, ich möchte dir etwas sagen“, flüsterte Mister Peterson. „Ich glaube, mit Phoebe stimmte etwas nicht.“
„Wie meinst du das?“, fragte Lucia.
An Gales Worten erkannte sie, was er mitteilen wollte, doch er wusste nicht, wie er die Dinge beschreiben sollte, die sich zwischen Phoebes Fluchten abgespielt hatten.
„Sie war wie ausgewechselt. Fauchend. Geradezu auf Streit aus. Ich habe sie leider nicht gesehen, aber ich habe die empörten Schreie gehört. Ja, was sag ich – die Schreie, die Flüche, mit denen sie Kitch und all jene bedachte, die ihr auf dem Weg begegneten, waren von wilder Wut erfüllt. Es schien, als könnten sie sich sofort in Wirklichkeit verwandeln. Und dann schleuderte sie Kitch gegen die Wand, mit einer Kraft, die einem so zerbrechlichen Mädchen nicht eigen war. Ian erzählte, dass er, als er ihr nachlief, gehört habe, wie Phoebe sprach, als würde sie mit sich selbst kämpfen. Innerlich … – der Lehrer schwieg und ließ eine quälende Pause entstehen. – Mal verfluchte sie sich und alle Menschen, mal flehte sie, man solle sie in Ruhe lassen und die anderen nicht töten. Wen meinte sie mit „die anderen“, Lucia? Kannst du mir das erklären? – fragte Gale.
„Ich komme sofort, Mister Peterson“, antwortete das Mädchen trocken. „Passen Sie auf die Kinder auf. Niemand soll die weiße Linie im Hof überschreiten, besser noch – sie sollen überhaupt nicht in den Hof gehen“, wies sie an. „Und noch etwas“, fügte Lucia hinzu, bevor sie das Minifon ausschaltete, „führen Sie sie nicht in die Aula.“
Das Mädchen verzog das Gesicht und legte den geistigen Schutz ab.
Schneller, Leo, dachte sie, ohne sich umzudrehen.
Denkst du dasselbe wie ich?, hörte Lucia eine leise Stimme in ihrem Kopf.
Ja, dachte sie und beschleunigte, indem sie die Taste an ihrer Brille berührte.
Wenn klar geworden war, womit Phoebe es zu tun gehabt hatte – nämlich mit nichts anderem als einem Dämon, der in einen Menschen gefahren war und ihn in den Wahnsinn oder, schlimmer noch, in den Tod trieb, was ja auch geschehen war –, so blieb nur zu hoffen, dass es keine weiteren bösen Überraschungen geben würde. Die weiße Linie, die das Lagergelände umgab, stellte nicht nur eine bildhafte Grenze zwischen Stadt und dem Besitz von Weinat dar, sondern auch eine geistige Barriere für Dämonen. Sie wären auf unsichtbares Glas gestoßen, sobald sie versucht hätten, die Linie zu überschreiten. Ein Lebewesen – ob Mensch oder Engel – konnte das Gelände ungehindert betreten, aber ein Toter keinesfalls. Ja, der Dämon war ins Lager gelangt, doch nur, weil er von einem lebenden Menschen Besitz ergriffen hatte. Seinen hinterlistigen Plan jedoch konnte er nicht verwirklichen. Wie Gale sagte, hatte Phoebe etwas Unverständliches geschrien.
Ein bitteres Lächeln huschte über Lucias Lippen.
Gar nicht unverständlich, dachte sie. Im Gegenteil, alles war völlig klar. Ein Mensch hatte bis zuletzt mit der fremden Gewalt gekämpft, die sich in seinen Körper gekrallt hatte. Und genau dank Phoebes innerer Stärke war es dem Mädchen gelungen, den niederträchtigen Plan des Unholds zu durchkreuzen – alle Kinder zu töten, während sie es von dem Lager wegführte. Das war eine mutige Tat. Ein schwerer Seufzer entwich der Brust des Mädchens. Mutig und von größtem Wert. Dank ihr würden heute alle in ihren Betten einschlafen – und nicht, wie sie geglaubt hätten, durch die Hand ihrer eigenen Mitschülerin sterben. Ein Tod hatte ein Blutbad verhindert.
Lucia errichtete in ihrem Geist eine Schutzmauer, während sie weiter über das Geschehene nachdachte.
Und da blieb noch die Frage – war Phoebe nicht vielleicht durch Menschenhand gestorben? Der Letzte, der sie gesehen hatte, war Ian gewesen. Doch konnte der Junge wirklich seine Mitschülerin getötet haben? Auch wenn sie ihn beleidigt, geschlagen oder ihm ins Gesicht gespien und ihn auf ewig verflucht hatte? Lucia konnte sich Ian nicht vorstellen, wie er einen Stein nach dem Kopf des Mädchens schleuderte, was die Ursache ihres Todes gewesen sein konnte. Doch die Menschen sind nicht immer so, wie sie scheinen, dachte sie mit einem Schnauben. In Momenten der Gefahr sind sie zu Dingen fähig, an die sie unter anderen Umständen nie gedacht hätten.
Angesichts der Vergangenheit des grünäugigen Brünetten hätte Lucia vermuten können, dass er es war, der Phoebe dabei half, sich von ihren Träumen zu verabschieden – selbst wenn es aus Notwehr gewesen wäre. Doch Mord, das hatte der Junge nie begangen, so elend ihm auch zumute gewesen sein mochte. Es wäre leichter, jemand anderem die Schuld für das Verbrechen zuzuschieben. Und ja, es war ein Verbrechen. Ein lebender Mensch – selbst wenn er von einem Dämon besessen war – hatte immer noch eine Chance auf Rettung.
Ein weiterer Verdächtiger im Fall des Todes der Schülerin könnte Rob Roy sein. Jener, der schon einmal eine Tat begangen hatte, die nach den Gesetzen der physischen wie der geistigen Welt unverzeihlich war.
Von seiner Leidenschaft für das Sammeln von Klingenwaffen getrieben, hatte Roy den Mechanismus der Grenzauflösung in Gang gesetzt. Bei einer Auseinandersetzung mit Jungs im Hof hatte der Schotte ein Messer eingesetzt, das er stets bei sich trug – nicht, weil er töten wollte, sondern aus Instinkt – tierisch, wild und zugleich zum Selbstschutz bestimmt. Wie ein Gewehr, das an der Wand hängt und eines Tages abdrücken wird, so zeigt auch ein Messer, das man ständig in der Tasche trägt, irgendwann einmal seine Klinge. Zum Glück erwies sich die Verletzung – sowohl bei jenem Jungen als auch bei Rob Roy – als nicht ernsthaft.
Doch letzterer musste ein paar Tage in der Isolationszelle verbringen und sich die Standpauken seines Vaters anhören. Beim ersten Verstoß, als Rob Roy zwar nur mit gemeinnütziger Arbeit, einer vorübergehenden Suspendierung von der Schule und Hausarrest davonkam und sein Vater über einen Anwalt eine Entschädigung für das Opfer aushandelte, war der Name des Jungen dennoch auf die Liste zur Liquidation geraten. Und nun galt der schmucke Blonde ebenfalls als einer der Verdächtigen – auch wenn er nach der Schlägerei mit Kitch keine weiteren Prügeleien suchte. Im Gegenteil, er vermied jeden unnötigen Streit, die der Spanier so gerne anzettelte.
Das Wichtigste jetzt ist, ins Lager zurückzukommen und die Angelegenheit mit dem Körper des unglücklichen Mädchens zu klären, blitzte es Lucia durch den Kopf, als das Motorrad auf die Landstraße hinausfuhr, die zu beiden Seiten von hohen Mammutbäumen gesäumt war. Und dann – den Mörder finden.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.