
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 12.4
Leo saß auf der Schulter des Bogens – einer riesigen Skulptur, die Eros darstellte, wie er einen Pfeil in die Erde schoss, um sie fruchtbar zu machen. Die Uferpromenade in der Nähe des Embarcadero war menschenleer. Nur eine leichte Brise, die von der Bucht herüberwehte, war der Begleiter des jungen Wächters.
Leo zählte sich nicht zu den Erfahrensten, auch wenn er vor etwa sechs Jahren den Schatz des Ageor im nebligen Edinburgh zurückgebracht hatte. Der Junge zog es vor, dass jemand anderes seine Stärke bemerkte, anstatt sich selbst auf die Brust zu schlagen und sich zu rühmen – nur um im entscheidenden Moment einem Engel zu unterliegen, von dem er es am wenigsten erwartet hätte.
„Wie bescheiden du doch bist“, sagte Lucia gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft, als sie diese Eigenschaft an ihrem Schüler bemerkte.
Im Gegensatz zu Leo war das Mädchen von ihrer Überlegenheit gegenüber vielen Wächtern überzeugt. Selbst ihren Araniten, Woldéri, stellte sie auf eine Stufe mit sich, obwohl sie sich nie erlaubte, darüber zu spotten, und ihm so stillen Respekt erwies. Was Lucia jedoch über den gewaltigen Riesen dachte, der drohend über ihr emporragte, blieb allein in ihren Gedanken.
Viele Engel versuchten Leo von der Überlegenheit seiner Gefährtin zu überzeugen, aber er ließ sich nicht auf solche „freundschaftlichen“ Ratschläge ein und ignorierte ihre Worte.
Ja, Leo war nur ein einfacher Wächter und hätte sich durchaus den schlechten Gedanken erlauben können, dass seine Rolle zweitrangig war neben einem Engel der Rache – ein Gedanke, der ihn gegen die Frau hätte aufbringen können, die er vom ersten Augenblick an liebte.
Die kühne, manchmal ungestüme Lucia war das Gegenteil des friedliebenden, ausgeglichenen Leo, der ihre Fähigkeit bewunderte, in jeder Situation standzuhalten. Nein, er war kein Schwächling und kein Zielverweigerer. Nein. Leo war einfach anders – doch das hinderte ihn nicht daran, die Mission zu erfüllen, die der Himmel einem Wächter auferlegt hatte.
Gerade das lange Zusammensein mit dem kompromissbereiten Engel trug Früchte. Nach zehn Jahren Bekanntschaft war Lucia ruhiger geworden und traf keine übereilten Entscheidungen mehr. Sie lernten voneinander und ergänzten die besten Eigenschaften, weshalb ihr Team unbesiegbar war.
Leo war völlig sicher bei der Frau, die er nachts in seinen Armen hielt. Sicher, dass Lucia eher sterben würde, als seine Liebe zu verraten oder die Einheit ihres Teams zu zerstören – eines Teams, von dem fast alle Engel auf Erden wussten.
Leo sah auf die Armbanduhr, die ihm Lucia geschenkt hatte. Die Zeiger zeigten fünf Minuten vor vier. Das Mädchen hatte ihn angerufen und mitgeteilt, dass sie nach Hause fuhr. Das bedeutete, dass bald das Knurren des Motors ertönen und aus der Dunkelheit ein Motorrad auf die Promenade hinausgleiten würde. Leo hatte Lucia gesagt, dass er nach dem Bringen von Alicia nicht nach Hause gegangen, sondern spazieren gegangen sei. Seine grauen Augen verengten sich, als er lächelte.
Lucia wird mich sofort durchschauen, dachte er – so wie immer. So wie bei ihrer ersten Begegnung. Seitdem hatte sich wenig verändert. Nicht der Ort ihres Aufenthalts auf Erden, sondern ihre Beziehung.
Der Junge drehte den Kopf. Zur Rechten ertönte das für ein menschliches Ohr kaum wahrnehmbare Knurren einer „Ducati“.
Das heutige Ereignis hatte einmal mehr bewiesen, dass die Anwesenheit der Wächter im Lager nur von Vorteil war. Und nun musste die Bewachung verstärkt werden.
Wie der Dämon in Phoebe gefahren war, wurde klar, als alle Kinder in den Hof hinausgingen. Aus den Gedanken von Sarah Lodge, die sich in der Nähe der Oberstufenschülerin befand, als alles begann. Die Schülerin hatte beschlossen, Edgar Allan Poes Gedicht „Der See“ laut zu wiederholen, das sie morgen vor der ganzen Klasse vortragen sollte. Um dabei nicht gestört zu werden, war sie auf die Veranda hinausgegangen. San Francisco lag bereits in abendlicher Dämmerung und die Laternen begannen, den Hof des Lagers zu erhellen. Sarah blieb auf den Stufen stehen und murmelte die auswendig gelernten Zeilen vor sich hin.
Mr. Massand bat das Mädchen, nicht zu weit wegzugehen. Plötzlich bemerkte Sarah, wie Phoebe Marshall in der Nähe der Bänke umherging. Doch sie näherte sich ihr nicht, sondern konzentrierte sich weiter auf die Wiederholung des Gedichts. Da kam ihr der Gedanke, dass Phoebe vielleicht ein Treffen mit einem der Jungen verabredet hatte. Am ehesten fiel ihr Kitch ein, der in letzter Zeit hartnäckig auf ein Date gedrängt hatte.
Die Worte, die plötzlich aus dem Mund der Oberstufenschülerin drangen, zwangen Sarah jedoch, ihr Murmeln zu unterbrechen und Phoebe anzusehen. Das Mädchen starrte in die Dunkelheit der hohen Mammutbäume und wiederholte einen Namen. Doch es war weder Kitch noch ein anderer Junge aus dem Lager. Der Name „Kirill“ sagte Sarah nichts, und neugierig verfolgte sie den Blick der Oberstufenschülerin. Zwischen den Stämmen huschte eine dunkle Gestalt vorbei, und im nächsten Moment rannte Phoebe los. Sie überschritt die weiße Linie und verschwand zwischen den Bäumen. Sarah hätte schwören können, gesehen zu haben, wie der Unbekannte das Mädchen umarmte, und als sie bei ihm war, sich zu ihrem Gesicht hinabbeugte und sie küsste.
Die „Ducati“ parkte neben Leos Motorrad und der Junge beschloss, die Gedanken an das Geschehene beiseitezuschieben, um Zeit mit Lucia zu verbringen.
Das Mädchen betrat die Rasenfläche und eilte zur massiven Skulptur des Bogens und Pfeils, dessen Spitze in die Erde gerichtet war.
Die Wellen der Bucht schlugen sanft ans Ufer und brachten eine selige Ruhe nach dem stürmischen Abend. Lucia genoss die Momente der Stille, die vielleicht die letzten waren vor dem drohenden Sturm, der alles zu zerstören drohte, was ihm in den Weg kam. Sie blieb vor der Statue stehen und hob den Kopf.
„Und warum kannst du nicht schlafen, Amor?“ – lächelte das Mädchen, als ihr Blick auf Leo fiel, der auf der Spitze der Skulptur saß.
Der Junge lachte und deutete auf den freien Platz neben sich auf dem Bogen.
„Nein, Liebling, ich geh’ ins Bettchen“, lehnte Lucia das Angebot ab, die Sterne zu betrachten.
„Ich habe auf dich gewartet, meine Geliebte. Immerhin habe ich heute Geburtstag und möchte die Zeit mit dir verbringen“, erklärte Leo, während er auf der Schulter des Bogens sitzen blieb.
„Dann steig herunter“, sagte das Mädchen und warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. „Es ist schon halb vier und bis zum Sonnenaufgang ist es nicht mehr lange.“
Leo sprang von der Skulptur, landete auf einem Knie im Gras und umarmte, als er zu Lucia trat, ihre Taille.
„Dann wollen wir keine Zeit verlieren“, ein schelmisches Lächeln huschte über seine Lippen.
Das Mädchen schenkte ihm einen spöttischen Blick.
„Mach dir keine Hoffnungen, Liebling.“ Sie küsste Leo auf die Wange. „Ich nehme eine Dusche, ruhe mich etwas aus und gehe dann zurück ins Lager.“
Eine Falte zeichnete sich auf Leos Stirn, und sein Gesicht nahm einen mitleiderregenden Ausdruck an.
„So schlimm also? Und mein Geschenk …“
„Das Geschenk gibt es später, mein Lieber“, unterbrach ihn das Mädchen.
„Na gut“, seufzte der Junge bitter. „Aber ehrlich gesagt brauchst du wirklich etwas Ruhe.“
Leo ließ Lucia los, und beide gingen zur Parkfläche.
„Ich bin froh, dass sonst niemand verletzt wurde“, gestand der Junge und nahm das Mädchen bei der Hand.
„Ich auch. Und jetzt wird es mehr Nachtschichten für uns geben.“
„Nichts. Hauptsache, so etwas passiert nicht noch einmal.“
Lucia nickte.
„Ich werde alles tun, was möglich ist“, sagte sie, ließ die Hand des Jungen los und ging zur „Ducati“.
„Ich hoffe, Ageor taucht nicht auf, um uns die Seelen zu holen“, äußerte Leo seine Vermutung über das mögliche Erscheinen der Araniten in San Francisco.
Da ertönte der Ruf von Lucias Minifon.
„Ach, Leo, hättest du Ageor nur nicht erwähnt …“, seufzte sie bitter und nahm den Anruf entgegen.
„Ja, Elijah. Ist etwas passiert?“
„Nein“, erklang die müde Stimme des Heilers im Minifon. „Im Lager ist alles ruhig, aber …“
„Aber?“ – Lucia tauschte einen Blick mit Leo.
Der Junge zog seine Motorradbrille aus dem Hosenbund und war schon im Begriff, auf die „Kawasaki“ zu springen, um zu Hilfe zu eilen.
„Um acht Uhr werden wir drei erwartet“, fuhr Elijah fort. „Berhard sagte, du kennst die Adresse in Marino, wo du dich letztes Jahr mit dem Oberhaupt von Ageor getroffen hast.“
Wie kleine Kinder will man uns also zurechtweisen, schnaubte das Mädchen. Und es ist klar, auf wen von uns dreien die Schläge fallen werden. Ganz bestimmt nicht auf den sauberen Heiler – auch wenn er jetzt das Kommando hat.
„Ja, ich kenne die Adresse“, sagte Lucia. „Aber was ist mit der Bewachung des Lagers? Wenn wir die Kinder unbeaufsichtigt lassen, wird Angel uns sicher nicht loben.“
„Ageor hat Diener abgestellt, die in unserer Abwesenheit das Gelände bewachen werden“, antwortete der Heiler.
„Das bedeutet also keine Nachtschichten?“
„Das klären wir später“, sagte Elijah. „Wir treffen uns morgen früh vor dem Haus, Leute“, ordnete er an und schaltete das Minifon aus.
Leo setzte die Motorradbrille auf und stieg auf die „Kawasaki“.
„Uns erwartet ein nicht minder aufregender Tag als der gestrige“, grinste er und lenkte das Motorrad aus der Parkfläche hinaus entlang der Uferpromenade.
Lucias „Ducati“ folgte Leos „Kawasaki“ und schon bald verschwanden beide Motorräder in der Dunkelheit.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.
































