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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 15.1)

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Irme und Wionot treffen sich in Düsseldorf.
Irme und Wionot treffen sich in Düsseldorf. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 15.1

Am Anfang war das Licht.
Das matte gelbe Licht einer Straßenlaterne fiel ihm ins Gesicht. Er kam zu Bewusstsein, öffnete die Augen. Dann kniff er sie wieder zusammen und blinzelte, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, und schüttelte den Kopf.

Am Anfang war das Wasser.
Es brach durch den düsteren Himmel und fiel in schweren Tropfen auf seinen nackten Körper. Der Junge richtete sich auf die Ellbogen auf. Schwarzer, trüber Schlamm unter ihm wogte und gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Ein weißer Blitz zerschnitt den Himmel bis zum Horizont. Der Junge hob den Kopf und sah nach oben. Die Dunkelheit grollte und donnerte wie Trommelwirbel.

Am Anfang war die Liebe.
Sie leckte ihm mit einer nassen, rauen Zunge über die Nase und schüttelte den Kopf. Ein streunender Hund bellte freudig, begrüßte den neuen Bewohner des kleinen Parks und schleckte erneut die kalten Tropfen von seinem Kinn. Der Junge schob den Hund von sich, berührte kaum seine Schnauze mit den Fingern. Der Hund sprang zurück, als hätte er ihn gestoßen und nicht nur leicht berührt. Er bellte noch einmal, wedelte weiter mit dem Schwanz und rannte dann davon, verschwand zwischen den Büschen.

Der Junge stand auf. Die Schwäche in den Knien ließ ihn kaum gehen und der Schmerz im Magen zwang ihn, sich zu beugen. Regenrinnsale liefen von seinem nassen Haar auf die Stirn. Mit neugierigen, blauen Augen sah er sich um. Die Äste der Sträucher bogen sich unter dem Platzregen und die hohen Bäume warfen unheilvolle Schatten. Nachts war der kleine Park unheimlich still.

Der Junge machte ein paar Schritte und hinterließ Abdrücke im schlammigen Boden. Gehen war schwer, als würde etwas ihn nach unten ziehen. Und er war bereit, jeden Moment zu fallen. In der Ferne bemerkte er einen Mülleimer und ging darauf zu. Oben auf dem Abfall lag eine Zeitung. Er zog sie heraus und entfaltete vorsichtig die nassen Blätter, überflog die Schlagzeilen. Sein Blick blieb an einem Artikel in der Wirtschaftsspalte hängen. Das geteilte Land erholte sich nach einer Kriegsniederlage. Westdeutschland, das Hilfe von den USA angenommen hatte, befand sich auf dem Weg der Heilung in allen Lebensbereichen. Durch die Annahme des Marshallplans hatten viele Unternehmer die Möglichkeit erhalten, ihre Betriebe wiederherzustellen und mit voller Kraft zu arbeiten. Einer dieser Unternehmer war Wionot Holst, dessen Baumwollfabrik im Oktober 1951 dreißig Prozent der landesweiten Produktion stellte. Der Junge blickte noch einmal auf den Namen des Helden des Artikels und lächelte.

„Wionot“, murmelte er, zerknüllte die Zeitung in seinen Händen und warf sie mit solcher Kraft in den Mülleimer, dass der Ballen durch den restlichen Müll bis zum Boden flog.
„Ich muss lernen, meine Kraft zu beherrschen, Wionot“, sagte der Junge und nannte sich bei dem Namen, der mit dem des deutschen Unternehmers übereinstimmte.

Plötzlich drangen Gedanken anderer Menschen in seinen Kopf ein.

Die Gedanken eines Betrunkenen, der unter einer Bank lag, in Lumpen gehüllt. Er dachte daran, wie er am Morgen an etwas zu essen kommen könnte. Neben der Bäckerei, gegen acht Uhr, wenn viele Kunden kommen würden – er würde ein Brot stehlen. Und er verfluchte den verdammten Regen.

Die Gedanken eines Wachmanns, der sich vor Kälte in seiner engen Hütte zusammenkauerte und über die Chefs fluchte, die Nachtschichten eingeführt hatten. Er stellte sich vor, wie sich sein siebenjähriger Sohn freuen würde, wenn er erfährt, dass Papa Zirkustickets gekauft hat.

Wionot packte sich mit beiden Händen an den Kopf. Mit jeder Sekunde kamen neue Gedanken von Menschen hinzu, die in den umliegenden Häusern lebten und noch nicht schliefen. Er wusste nicht, wie er mit diesem Angriff fertigwerden sollte.

Ein Autoverkäufer, der mitten in der Nacht aufwachte. Ein Straßenfeger, der sich im Bett hin und her wälzte. Eine Frau, die ihr Baby in den Schlaf wiegte. Eine Studentin, die noch ihre Mitschrift über deutsche Literatur beendete.

All diese Gedanken hämmerten gleichzeitig in seinem Kopf, jeder plapperte etwas anderes. Der Junge schrie laut auf, versuchte, den Albtraum in seinem Kopf zu übertönen. Die Äste der Bäume schwankten, als ob ein starker Windstoß sie erfasst hätte. Die Glühbirnen der Laternen um Wionot herum explodierten und zerplatzten, Funken stoben durch die Luft.

Aus den Büschen tauchte der Wachmann auf und der Junge versteckte sich hinter dem Stamm einer riesigen Eiche. Der Mann fluchte über die Elektriker, die versichert hatten, dass die neuen Laternen die Gegend besser erhellen würden als die alten.

Sie funktionieren nicht, dachte der Wachmann und hob den Kopf. Er wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht und leuchtete mit seiner Taschenlampe umher.
„Verdammt noch mal!“, rief der Mann. „Die Glühbirnen sind explodiert! Prüft erst, ob sie die Spannung aushalten und dann montiert sie! Verfluchte Elektriker!“
Er drehte sich um und trottete zurück zu seiner Wachhütte.

Wionot trat langsam hinter dem Baum hervor, während er den sich entfernenden Worten des Mannes lauschte.
Ich muss hier weg, dachte er und schloss die Augen.

Das Gefühl, dass sich ein anderer Engel der Eiche näherte, ließ Wionot um sich blicken.
Hilfe kann ich gut gebrauchen, fuhr es ihm durch den Kopf, und er atmete erleichtert auf.

Wionot drehte das Lenkrad nach rechts, und der Ford Mondeo des Jahres 2036 bog in die Haroldstraße ein, dann in die Poststraße. Nachdem er an den von üppigem Grün umgebenen Villen vorbeigefahren war, hielt der Wagen vor einem zweistöckigen Haus.

Zäune waren in Karlstadt selbst in Form kleiner Holzgitter überflüssig. Kaum jemand würde wagen, die einflussreichsten Menschen Düsseldorfs zu bestehlen, ohne sofort von der Polizei gefasst zu werden. Überall installierte Überwachungskameras erfassten jeden Besucher des Viertels und zeigten auf den Monitoren der Sicherheitszentrale sämtliche Informationen über die Person an – einschließlich ihres aktuellen Arbeitsplatzes und ihrer Adresse. Auch Drohnen, die in halbstündigem Rhythmus über das Gebiet flogen, halfen bei der schnellen Reaktion auf jede Störung.

Nach Hunderten von Terroranschlägen, die sich in den letzten dreißig Jahren überall in Europa ereignet hatten, hatte die Vertretung der Europäischen Union für Sicherheitspolitik schließlich beschlossen, die vollständige Kontrolle über die Bewegungen sowohl der Bürger als auch der Einreisenden auf dem gesamten von der Union kontrollierten Gebiet einzuführen.

Wionot stellte den Motor ab, öffnete die Fahrertür und stieg aus. Dann ging er den Weg entlang, der zum Haupteingang führte. Der Duft der blühenden Rosen war betörend und der Junge beeilte sich, die Treppen zu erreichen.

Die Kamerasensoren an den Hausecken hatten den Besucher schon erfasst, als der Ford parkte – die Hausbewohner wussten also längst, wer gekommen war.

Ein Schloss klickte und die Tür öffnete sich, noch bevor Wionot den Klingelknopf berührte. Auf der Schwelle stand die Haushälterin. In ihrem strengen Kostüm wirkte Martha förmlich und distanziert. Der Junge war nicht oft im Hause der Wagners, doch im letzten Jahr war es stets Martha gewesen, die ihm öffnete.

„Kommen Sie herein, Herr Neumann“, flüsterte die Frau und trat beiseite, um den Gast einzulassen.

Wionot betrat das Haus und befand sich sofort in der großen Eingangshalle, mit einer langen schmiedeeisernen Treppe an der linken Wand, die nach oben führte.

„Frau Wagner kommt gleich herunter“, sagte die Haushälterin, die heute ungewohnt elegant gekleidet war. Martha trug sonst lieber Kleider oder weite Hosen, damit sie sich frei bewegen konnte.

Oben, im entferntesten Zimmer, begann ein Kind zu weinen und Martha zuckte instinktiv zusammen. Doch dann erinnerte sie sich an Frau Wagners Anweisung und blieb stehen.

„Martha, geh bitte nach oben“, erklang eine Stimme und auf der Treppe erschien eine Frau.
„Er ist wach geworden“, sagte sie zur Haushälterin. „Ich muss mit Herrn Neumann sprechen.“
Die Hausherrin begann, die Treppe hinunterzusteigen.

Martha nickte, wartete, bis die Frau den Gast erreicht hatte und eilte dann nach oben.

„Guten Abend, Wionot“, sagte Frau Wagner, reichte ihm die Hände und der Junge umschloss ihre mit den seinen.
„Ich hoffe, du bringst gute Nachrichten“, sagte sie – und in ihren braunen Augen spiegelte sich Traurigkeit.

„Verzeih mir, Irme“, sagte Wionot, ohne den Blick von dem jungen, noch nicht von Falten durchfurchten Gesicht der Frau zu wenden. „Man wird ihn nicht freilassen.“

Die Hausherrin sank zusammen, senkte den Kopf, und ihre Hände glitten aus den Fingern des Jungen.
„Armer Matthias“, murmelte Irme kaum hörbar.

Wionot zog mitleidig die Lippen zusammen und berührte mit den Fingern das Kinn der Frau, sodass sie ihn ansah.
„Sie müssen an sich denken, Irme. An Ihren Sohn“, erinnerte der Junge an die Verantwortung von Frau Wagner für das Leben des Kleinen. „Matthias droht eine lebenslange Haftstrafe. Vorsätzlicher Mord wird hart bestraft.“

„Er hat nicht getötet, Wionot.“
„Ich weiß“, sagte der Junge bestimmt. „Aber ich kann nichts tun. Die Anwälte Ihres Mannes laufen sich die Füße wund, suchen nach Entlastungsbeweisen. Doch der Fall ist so gestrickt, dass alle Fäden zu Matthias führen. Seine Pharmafirma ist ein saftiger Brocken für jene, die Reichtum auf dem Leid anderer scheffeln wollen.“

Irme seufzte bitter und musterte die Halle mit gleichgültigem Blick.
„Und was soll ich jetzt tun?“, fragte sie, fast verzweifelt. „Wir verlieren alles. Sogar das Haus ist auf meinen Mann eingetragen.“

„Verschwinden“, schlug der Junge vor. „Verlassen Sie Deutschland.“

Es schien, als überrasche Wionots Antwort Frau Wagner nicht. Der Junge wusste ohnehin, dass die Frau erwogen hatte, das Land zu verlassen, damit die Verfolger ihres Mannes sich nicht an dem verbleibenden Vermögen, das auf das Konto der Frau einging, vergreifen konnten.

„Wann?“
„Sofort“, antwortete der Gast. „Sammeln Sie das Nötigste und fahren Sie fort. Aber zeigen Sie sich wenigstens für ein halbes Jahr nicht. Haben Sie Ideen?“, fragte er, den guten Freund Matthia­s spielend, der die Gedanken nicht lesen konnte.

Im Besitz telepathischer Fähigkeiten hätte Wionot das Missverständnis verhindern können, doch die Regel des Taches verbot es, sich in das Leben anderer einzumischen. Würde er es tun, könnte er nicht nur das Schicksal einzelner Menschen verändern, sondern den Lauf der ganzen Geschichte beeinflussen. Unsere heutigen Handlungen sind der Nachklang von morgen.

„In Warschau gibt es das Haus einer Cousine meiner Tante und das ist vorerst nicht auf mich eingetragen“, sagte Irme. „Ich werde nach Polen fahren, in einer Mietwohnung leben und in einem halben Jahr – wie Sie sagten – werde ich das Haus auf mich überschreiben lassen.“ Ihre Augen begannen fieberhaft zu leuchten und in ihrem Kopf entstand bereits ein Plan für die ersten Jahre in Polen. Sie drehte sich auf den Absätzen und hob den Kopf. „Martha! Martha!“, rief Frau Wagner die Gouvernante.

Sogleich erschien Martha auf der Treppe, ein einjähriges Kind im Arm. Das graugefärbte Kind mit spärlichem kastanienbraunem Haar hielt ein Stofftier und erzählte Martha etwas in einer Sprache, die nur für ihn verständlich war. Sein spielerisches Geplapper und das zahnlose Lächeln auf dem glücklichen Gesichtchen des Jungen standen in scharfem Kontrast zur trüben Stimmung in dem Haus, das nicht mehr sein Zuhause zu sein schien.

„Wir fahren heute weg“, teilte Irme der Frau mit, der sie voll vertrauen konnte, und wandte sich an Wionot.
„Lassen Sie polnische Papiere ausstellen und überweisen Sie Geld von Ihrem Konto, benutzen Sie es aber vorerst nicht. Das würde Verdacht erregen“, flüsterte der Junge. „Sie werden ohnehin merken, dass Sie das Land verlassen haben, wenn Sie bei der letzten Gerichtsverhandlung fehlen, in der Matthias sein Urteil erhält. Sie haben zwei Wochen, um Spuren zu verwischen und sich nach Polen abzusetzen, bis die Gegner etwas ruhiger werden. Für sie hat oberste Priorität, die Firma zu übernehmen, indem sie den Eigentümer ausschalten, der ihrer Politik widerspricht.“

„Gut, das werde ich tun.“

„Sie müssen auf jeden Fall den Nachnamen ändern. Sie kennen ja jemanden, der Ihnen neue Papiere besorgen kann – ich muss Ihnen das nicht erklären.“

Irme dachte kurz nach.
„Ich nehme den Nachnamen der Schwester meines Urgroßvaters. Sie ist schon vor langer Zeit gestorben und hatte keine Kinder.“
„Ausgezeichnet.“

Ein schwaches Lächeln huschte über Irmes Lippen.
„Irme Bernz – wie klingt das?“
„Besser geht’s nicht, Frau Bernz.“
„Dann ist es beschlossen“, sagte Irme und winkte Martha, als Zeichen, dass sie herunterkommen sollte. „Craig und ich verlassen Düsseldorf sofort.“ Sie nahm ihren Sohn auf den Arm und küsste ihn auf die Wange. „Martha, bitte pack unsere Sachen – nur das Notwendigste.“

Martha ging wieder die Treppe hinauf und verschwand in dem ersten Zimmer.
„So, das wäre entschieden“, sagte Irme – vielleicht zu sich selbst, vielleicht zu ihrem Gast.

Craig streckte seine kleinen Arme nach Wionot aus und auf seinem Gesicht erschien wieder dieses zahnlose Lächeln.
Der Junge schmunzelte.
„Er hat dich lieb gewonnen, Wionot“, sagte Irme. „Kinder spüren gute Menschen.“
Oder Engel, dachte Wionot und berührte die kleine Hand des Kindes. Craig packte fest seinen Finger und zog daran.

Plötzlich weiteten sich Irmes Augen.
„Ach du meine Güte“, flüsterte sie und sah den Gast verwirrt an. „Vor lauter Aufregung habe ich ganz vergessen… Martha!“ rief sie die Gouvernante. „Weck Emma!“, bat sie die Frau, die gerade aus dem Zimmer trat.

„Emma ist meine Cousine und Craigs Tante. Sie kam gestern aus München – oder besser gesagt, sie wurde vom Sozialdienst gebracht. Meine kleine Schwester ist vor drei Monaten gestorben, mitten in den Gerichtsverfahren. Und ich habe beschlossen, das Mädchen zu mir zu nehmen, in der Hoffnung, dass sich alles bald klärt.“

Irme erzählte Wionot etwas, das er längst wusste: den plötzlichen Tod eines ihr nahestehenden Menschen. Schon beim Betreten des Hauses hatte der Junge gespürt, dass dort noch jemand war, doch er hatte geschwiegen, um keinen Verdacht zu erregen.

„Was soll ich tun? Ich will Emma nicht hineinziehen.“

Wionot hörte Schritte aus dem Schlafzimmer gegenüber von Craigs Zimmer und blickte auf. Nach einer Minute stand ein zierliches Mädchen am Treppenabsatz. Ihrem Äußeren nach war sie vielleicht zehn Jahre alt, doch der Junge wusste, dass Emma im Frühling zwölf geworden war. Und dass sie selbst entschieden hatte, nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrer älteren Cousine zu ziehen.

„Das müssen Sie nicht“, flüsterte Wionot und sah das schutzlose Mädchen an, das in den Strudel schrecklicher Ereignisse geraten war. „Sie hat schon genug durchgemacht.“
„Da hast du recht“, stimmte Irme dem Gast zu.

Craig ließ endlich Wionots Finger los und begann, mit den Haaren seiner Mutter zu spielen.
„Dann muss sie hier in Deutschland bleiben“, verzog Irme das Gesicht, als der Junge an einer Haarsträhne zog. „Craig, lass das“, sagte sie und befreite ihr Haar aus seinen kleinen Fingern. Craig quengelte und griff wieder nach den Haaren.
„Craig!“, rief Irme streng und er blinzelte mit seinen Wimpern und schob beleidigt die Unterlippe vor.
„Hier, nimm deinen kleinen Tiger“, sagte sie und schwenkte das Stofftier, das der Junge zuvor in seiner linken Hand gehalten hatte, vor seinem Gesicht.

„Lassen Sie es“, sagte Wionot ruhig.

„Aber sie ist noch zu jung, um allein zu leben, und es muss jemand sein… dem ich vertrauen kann.“ Irme sah den jungen Mann an, der vor ihr stand. „Außer dir, Wionot“, in ihrer Stimme lag eine Bitte, „kenne ich niemanden.“

Der Junge sah zu Emma hinüber, die schweigend vom unteren Treppenabsatz aus zusah, wie zwei Erwachsene über ihr Schicksal entschieden. Ihre Blicke trafen sich.

Ein gleißender Blitz blendete ihn, löschte alles aus, was im Haus existierte. Übrig blieb nur das Kindergesicht mit den haselnussbraunen Augen. Wionot hielt den Atem an, sein Herz pochte und er ergab sich dem, was man Schicksal nennt. Etwas in ihm schrie danach, zu helfen, das Mädchen nicht allein zu lassen, es nicht aus der Stadt fortgehen zu lassen.

Er schloss die Augen und atmete tief ein. Noch nie war die Eingebung so stark gewesen, so klar, so zwingend – sie durchdrang sein ganzes Wesen und sprach von einer Begegnung, die kein Zufall war. Ihre Begegnung war vom Schöpfer vorherbestimmt und Emma jetzt gehen zu lassen, hieße, den Lauf der Geschichte zu verändern. Nur der Himmel wusste, welche Rolle er diesem unglücklichen Mädchen zugedacht hatte.

„Wionot?“ – sein Name erklang in der Stille des prächtigen Hauses.

Der Junge öffnete die Augen und atmete aus. Er hatte sich ergeben – dem Schicksal, das beschlossen hatte, sein Leben mit dem eines Mädchens zu verweben, das er bis eben noch nicht kannte.

„Ich werde die entsprechenden Papiere unterzeichnen“, sagte Irme, in der Hoffnung, der Junge halte ihre Idee nicht für verrückt. „Ich werde jeden Monat Geld überweisen.“
„Das ist nicht nötig“, lehnte Wionot ab.

Die Frau drückte ihren Sohn fester an sich.
„Also… du bist einverstanden, Wionot?“, fragte Frau Wagner, noch immer ungläubig, dass der Gast wirklich bereit war, ihr mit der Cousine zu helfen. „Du bist einverstanden, Emmas Vormund zu werden?“

Wionot sah Irme direkt in die Augen – und lächelte.

– Fortsetzung folgt –

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Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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