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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 16.2)

Lucia, Leo und Wionot im Gespräch. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Lucia, Leo und Wionot im Gespräch. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 16.2

„Und noch besser wäre es, uns einfach unsere Arbeit machen zu lassen“, fuhr Lucia fort. „Bin ich eigentlich die Einzige, die den Eindruck hat, dass Ealneira Angst vor uns hat?“ Sie richtete ihren Blick auf Leo. Doch die Worte des Psychologen kamen dem Wächter zuvor.

„Nein“, schüttelte Wionot den Kopf. Er strich sich das frostig-weiße Haar glatt und lächelte bitter. „So ist es. Und ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Sogar Ageor…“

„Warum muss sich Angel dann vor ihnen erniedrigen?“, fuhr Lucia auf und unterbrach den Jungen.

„Er erniedrigt sich nicht“, antwortete Wionot mit der für alle Heiler typischen Gelassenheit.

Das Mädchen schnaubte missmutig.

„Aha, stattdessen zwingt er uns dazu. Und fang gar nicht erst wieder damit an, dass wir in der Menschenwelt leben und mit allen auskommen müssen.“

Der Blonde schmunzelte und sah Lucia mit unverhohlenem Interesse direkt in die Augen.

„Und was schlägst du vor?“

Ein schwerer Seufzer entrang sich Lucias Brust.

„Na, sicher nicht, dass wir vor ihnen kriechen. Und ehrlich gesagt“, in ihrer Stimme klang nun ein metallischer Unterton, „ist das doppelte Spiel der Kirche wirklich nichts Neues. In diesem Fall zeigt es sich in der Schmeichelei des Klerus gegenüber der Regierung, die jene Menschen vernichtet, denen dieselbe Kirche sonntags Predigten hält. Und wir, die Engel, bitten Ealneira um Hilfe, obwohl diese Bewegung uns verachtet.“

Leo verschränkte die Arme vor der Brust.

„Die Kirche war noch nie unpolitisch.“ Seine leicht nach oben geworfene Nase verzog sich.

„Treffer“, sagte Lucia und zeigte mit dem Finger auf Leo. „Schon klar. Ihr Land, ihre Regeln.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich gebe zu, wie die Kirche mit den Menschen umgeht, sollte uns eigentlich nicht allzu sehr kümmern.“

Wionots Augenbrauen schossen in die Höhe, in seinen Augen lag eine stumme Frage. Leo erstarrte und wartete auf weitere Erklärungen.

„Ja“, beharrte Lucia. „Wir leben im Himmel und haben unseren eigenen Krieg. Vielleicht kann uns die Geschichte der Götter vom Olymp etwas lehren. Sie haben sich nie um die Menschen geschert, die ihnen zu Füßen herumkrochen. Die Götter interessierte nur ihr eigener Wohlstand.“

„Und Prometheus?“, erinnerte Leo an den griechischen Gott, der Mitleid mit den unglücklichen Menschen hatte und ihnen das Feuer brachte.

„Und wie wurde Prometheus für seine Güte behandelt?“, entgegnete Lucia mit einer Gegenfrage. „Die Götter interessierten sich immer nur für sich selbst.“

„Aber nicht im Fall des Schöpfers“, sagte der Blonde ernst. Sein Gesicht wurde hart und in seinen himmelblauen Augen lag Strenge.

Die kalte Schönheit Wionots wirkte überwältigend und Lucia wandte den Blick ab.

„Ich widerspreche dir ja nicht“, fuhr sie nach einem Moment fort. „Das ist eine andere Geschichte. Ich meine, wir könnten uns problemlos um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern, statt mit diesen Grünschnäbeln herumzusitzen und ihre Probleme zu lösen.“ Lucia schnaubte und konzentrierte sich auf Leos Gesicht. „Aber nein. Stattdessen erniedrigen wir uns vor den Vertretern Ealneiras, damit sie den Verwaltungen helfen, während sie selbst nur die Gläubigen warnen. Sie glauben, dass die Gefahr sie nie treffen wird. Ihre Einflussnahme auf dem Planeten ist ihnen wichtiger als das Leben eines Menschen.“

„So war es schon immer“, huschte ein bitteres Lächeln über Leos Lippen.

„Und trotzdem predigen sie Gehorsam und beten von morgens bis abends.“

„Das ist der Orden des Gehorsams“, korrigierte der Wächter das Mädchen. „Andere Vertreter Ealneiras sind nicht so fixiert darauf, bestimmte Formeln herunterzubeten und sich selbst zu geißeln.“

Lucia schnaubte.

„Über die rede ich ja gar nicht. Ehrlich gesagt“, ihre Augen verengten sich, „wäre es mir völlig egal, was die Kirche hinter verschlossenen Türen anstellt, wenn es mich nicht betreffen würde. Denn mich hat Angel geschickt, um die Prozession zu bewachen. Vor einem Jahr hat Vater Matthew mich aus dem Gebäude geworfen und jetzt bittet er um Hilfe. Feige Ratte! Ich würde keine Träne vergießen, wenn sie sich da drinnen gegenseitig die Kehle durchbeißen.“

Der Blonde tauschte einen Blick mit Leo. Ein Lächeln spielte an seinen Mundwinkeln.

„Und damit sind wir wieder am Anfang“, sagte er. „Die Kirche versteht, dass wir die Macht und die Möglichkeit haben, die Lage zu verändern – und sie nicht. Deshalb hat sie Angst.“

„Aber sie sind doch Menschen? Es sind die Menschen, die die Straße blockieren werden, nicht die Engel.“

„Ich glaube, dazu wäre nicht jeder bereit“, gab Leo zu bedenken.

„Einverstanden“, sagte Wionot. „Nur diejenigen, in denen Liebe brennt. In den Mauern der Kirchen Ealneiras reden sie viel über Liebe, aber im Grunde besitzen sie sie nicht. Sagen und fühlen sind nicht dasselbe.“

„Darum fürchtet der Klerus auch diejenigen, die Gedanken lesen können und ihnen sagen würden, dass sie keine Liebe in sich tragen“, flüsterte Lucia. Sie senkte den Kopf und betrachtete die Spitzen ihrer Turnschuhe.

Im Büro trat Stille ein.

Das Mädchen hörte den Schlag ihres eigenen Herzens, in dem außer Bedauern über die Hartherzigkeit der Menschen nichts war. Keine Spur mehr von dem Ärger, der sie zu Beginn des Gesprächs über die Kirche erfasst hatte, keine Aggression, ihren Standpunkt über die Haltung der Überwesen zu den Menschen zu verteidigen, kein Drang, ihre Meinung durchzusetzen. Die Gedanken an den ewigen Zorn unter den Ihren, der noch aus den Zeiten Kains stammte, hinterließen nur Leere.

Nun gut, dachte Lucia, so gefühllos bin ich also doch nicht, wenn ich darüber spreche.

Und ob sie es nun zugeben wollte oder nicht, der Schöpfer hatte auch sie mit Liebe zu den Menschen ausgestattet.

Lucia hob den Kopf und sah die Jungs an.

Als sie bemerkten, dass das Mädchen verstummt war, sagten auch sie nichts und warteten auf ihre nächsten Schritte.

Leo rieb sich die Augen. In der Nacht hatte er einen Dämon in Haight-Ashbury vernichtet, und am Morgen hatte Lucia ihn zum Training geschleppt. Heute war sie mit der Überwachung der Unwesen in Marina an der Reihe und wollte gut vorbereitet sein. Suzie und Kurt kamen ihrer von Ageor auferlegten Pflicht hervorragend nach und patrouillierten jede Nacht, wodurch die Wächter sich ihrer eigentlichen Arbeit widmen konnten.

Schon gut, heute schläfst du, Kleiner, dachte Lucia mit einem leisen Schnauben und wandte den Blick zu Wionot.

Der Blonde sah auf die Uhr. Der Flug nach New York ging mittags und das Mädchen wusste, dass er nicht lange im Lager bleiben würde. Er verbrachte seine letzten Stunden in Amerika in Gesellschaft der Engel.

In ihr regte sich das gleiche unangenehme Gefühl wie damals, als sie sich zum ersten Mal von Woldéri verabschiedet hatte. Doch jetzt war es… anders. Lucia schüttelte den Kopf und verscheuchte die weiteren Gedanken an den Engel, dem sie wohl kaum je wieder begegnen würde. Der Weg würde nicht ewig dauern und sie hatte Wionot nur wegen des Portals kennengelernt. Also trennten sich ihre Wege. Vielleicht für immer. Das Mädchen stand von der Liege auf.

„Vielleicht noch Kaffee?“

Die Jungs regten sich. Leo hob den Kopf, und Wionot lehnte sich gegen die Stuhllehne.

„Ich hab nichts dagegen, Liebling“, sagte Leo und gähnte, die Hand vor den Mund haltend.

„Ich habe noch eine halbe Stunde“, sagte Wionot.

„Dann musst du doch nicht so lange am Flughafen in New York herumsitzen, oder?“, erkundigte sich Lucia, während sie um den Stuhl des Heilers herumging und zur Kaffeemaschine steuerte.

„Nein.“ Der Blonde drehte sich halb zur Seite und legte die Hand auf die Stuhllehne. „In drei Stunden fliegt ein Flugzeug nach Düsseldorf.“

„Zu Emma?“, fragte Leo nach.

„Ja, zuerst zu ihr, und dann fahre ich nach Frankfurt. Und wie sieht’s aus mit dem Passagier?“ Wionot wechselte das Thema.

„Bis jetzt gar nicht gut“, antwortete Leo. „Diejenigen, die im Lager wohnen, haben wir überprüft.“ Er grinste.

„Nach unserer altbekannten Methode“, sagte Lucia und zwinkerte ihm zu.

Im Flur ertönten Schritte.

Es war nicht schwer zu erraten, wer so früh schon auf den Beinen war. Ebenso wenig, dass sich ein Mensch dem Lagergebäude näherte.

„Vielleicht ist es kein Bewohner des Lagers?“, mutmaßte der Heiler.

Lucia schnaubte, während sie die Tassen in die Kaffeemaschine stellte.

„Danke für den Hinweis, aber wir sind hier nicht gerade naive Dummchen.“

„Verzeih, Lucia, falls ich dich verletzt habe. Aber irgendein Hinweis muss es doch geben…“

Die Tür flog auf und Justin erschien auf der Schwelle.

In einer Hose und einem T-Shirt, die wie ein Pyjama wirkten, und warmen Hausschuhen sah der Junge aus wie ein verschlafener Zwerg.

Lucia schmunzelte.

Gut, dass er die Zipfelmütze abgesetzt hat, dachte sie, entschied sich aber dagegen, über Justins Aussehen zu scherzen.

„Was ist es diesmal, Jas?“, fragte Leo und sah Lucia an.

„Ihr wisst es doch“, sagte Justin mit verschlafener Stimme und tippte sich an die Stirn. „Ihr habt es längst gelesen.“

„Xavier ist angekommen, und?“, wunderte sich Lucia und übertönte das Zischen der Kaffeemaschine. „Gestern gab es Einkäufe und…“

Sie runzelte die Stirn. Es würde wohl nichts aus einer weiteren Tasse Kaffee werden. Justins Gedanke flammte in Lucias Kopf auf und erfüllte sie mit Wut. Das Mädchen tauschte einen Blick mit den Jungs.

„Wo ist er?“, rief Leo und sprang auf. „Wo ist Xavier?“

„Bei den Zimmern. Mister Madsen hat ihn reingelassen.“

„Dann los“, befahl Lucia mit einem Ton, der Justin zusammenzucken ließ.

Sie stellte die Tassen mit dem heißen Getränk auf den Tisch und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Ich gehe mit dir“, sagte Leo. „Auch wenn es nicht der schlimmste Fall ist, unangenehm ist es trotzdem.“

Wionot schnaubte und stand ebenfalls auf.

„Unangenehm, ja. Aber klären müssen wir es jetzt.“ Er sah Lucia an. „Und wer, wenn nicht wir, hilft dem Mann, den Schuldigen zu finden?“ Der Blonde trat zu Justin und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Nicht wahr?“, wandte sich der Heiler an den Schüler.

„Aha“, brummte der Junge und glättete sein schlafzerzaustes Haar.

„Zumal ihr Dinge braucht, und wer soll sie bringen, wenn nicht Xavier“, sagte Wionot. Seine hellblauen Augen verengten sich und ein Lächeln spielte um seine Lippen.

„Dann los.“ Der Jugendliche nickte. Er nahm die Hand weg und seine Haare standen sofort wieder in alle Richtungen ab.

Lucia trat über die Schwelle des Büros und eilte zur Treppe. Die anderen folgten ihr. Vom vierten Stock her drangen aufgebrachte Stimmen herab, die Menschen stritten. Unter ihnen stach deutlich die raue Stimme eines Mannes mit Akzent hervor.

Im Flur hatte sich eine Gruppe Schüler versammelt. Meistens waren es Achtklässler. Doch derjenige, der schuldig war, befand sich nicht unter ihnen.

Lucia steuerte auf die Menge zu.

Xavier Diez stand den Schülern gegenüber. Der hochgewachsene, sonnengebräunte Mann gestikulierte wild, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Der Sombrero in seiner linken Hand wirbelte die Luft auf und die Schwingungen pflanzten sich bis zu Lucia fort.

„Heute Morgen habe ich den Diebstahl bemerkt und bin sofort hergekommen. Außer euch hat gestern niemand mehr bei mir eingekauft“, sagte Xavier, als er Lucia entdeckte, und wandte sich an sie.

Justin schoss zu Lucia hinüber und zupfte sie am Ärmel ihres T-Shirts, sodass sie sich zu ihm umdrehte.

„Weißt du es schon?“ Der Zehntklässler zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Im grau-verhangenen Morgendämmerungslicht konnte man die schelmischen Funken in Justins Augen gut erkennen.

Im Gegensatz zu seinen Freunden nahm Justin alles, was das Leben ihm vorsetzte, gelassen hin und ließ nichts zu sehr an sich heran. Er war ein Optimist und glaubte, dass nichts den Tag trüben sollte. Natürlich lag nicht immer ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht, das es runder wirken ließ, doch seine entschlossene Haltung, Schwierigkeiten die Stirn zu bieten, zeugte von einer positiven Charaktereigenschaft, die nicht jeder der Jugendlichen besaß. Ian mit seiner Rüstung aus Gleichgültigkeit, Kitch, der seinen Zorn versteckte, und Brian, der alles durch das Prisma der Vergangenheit sah, waren seine völligen Gegensätze. Unter Justins Klassenkameraden ließ sich höchstens Felix Booker hervorheben: ein rosigwangiger Junge mit einem liebenswürdigen Lächeln. Im letzten Jahr hatte Felix stark zugenommen, die Gene machten sich bemerkbar, doch das hielt das gutmütige Dickerchen nicht davon ab, sich weder um sein Aussehen noch um seine Noten oder gar die Zukunft zu sorgen, die sich seiner Meinung nach sowieso „im Laufe der Dinge ergeben“ würde.

– Fortsetzung folgt –

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Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 46-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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