
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 8.3
Die kühlen Wellen berührten ihre Fußsohlen und umspielten sanft die Zehen. Das Mädchen atmete tief die salzige Luft ein und schloss für einen Moment die Augen. Aus der Dunkelheit tauchte eine Erinnerung auf – an seidige Wolken und das Rauschen des Windes in den Ohren. Das Gefühl grenzenloser Freiheit, als würde sie zwischen den Sternen fliegen, erfüllte ihr ganzes Wesen. In ihrem Inneren entzündete sich ein helles Licht, das jede Zelle durchdrang und sie bald vollständig einnahm – so sehr, dass ihr Körper es kaum ertragen konnte. Es schien, als würde ihre Haut jeden Moment aufplatzen, als würden aus den Rissen blendende Strahlen hervorbrechen und Lucia ihre wahre Gestalt zurückerlangen – die, für die sie der Schöpfer einst erschaffen hatte. Unter ihren Rippen zog ein Schmerz, und das verräterische Ziehen zwischen den Schulterblättern erinnerte sie an das brennende Verlangen, zur Sonne aufzusteigen.
Spritzer des Meerwassers holten das Mädchen in die Realität zurück. Sie öffnete die Augen.
„Also spielst du mit uns?“ – ertönte Gretas schrille Stimme.
Um das Mädchen hatte sich eine Gruppe von Klassenkameraden versammelt.
„Natürlich“, antwortete Lucia.
Greta warf ihren Freunden einen schelmischen Blick zu. Sie strich sich eine nasse Strähne schwarzer Haare von der Stirn und ein Kindergeschrei durchschnitt die Luft. Wie auf Kommando rannten die Viertklässler in alle Richtungen davon. Lucia grinste und lief Greta hinterher. Es dauerte nicht lange, sie einzuholen – mit zwei Schritten packte sie das Mädchen an der Taille, hob sie hoch und drehte sie lachend durch die Luft. Greta kreischte noch lauter. Als die anderen Kinder sahen, dass Lucia eine von ihnen erwischt hatte, rannten sie kichernd kreuz und quer zwischen den Decken hindurch. Es ertönten verärgerte Rufe und empörte Schreie der älteren Mädchen. Einige standen bereits auf.
„Sieh doch, wo du hinläufst!“, „Was hast du da gemacht?“, „Wo ist meine Sonnencreme hin?“, „Du hast meinen Rock beschmutzt!“ – tönten die Stimmen durcheinander.
Die Erwachsenen drehten sich alle gleichzeitig um. Doch als sie erkannten, dass keine Gefahr bestand, wandten sie sich wieder ihren Gesprächen zu. Nur Mrs. Brown marschierte mit energischem Schritt zu den Decken und vertrieb die Kleinen mit ihrem krächzenden Ton. Ohne aufzuhören zu lärmen, rannten die Kinder wieder zum Wasser, wo nun Greta an der Reihe war, sie zu fangen.
„Schauen Sie nur, Mrs. Brown, was sie angerichtet haben!“, beschwerten sich die Mädchen bei Penelope und deuteten auf die mit nassem Sand beschmutzten Decken.
Die Frau nickte ernst. Ihr Strohhut war ihr in die Stirn gerutscht. Penelope richtete ihn zurecht, indem sie ihn an den Rändern festhielt.
„Darum kümmern wir uns“, sagte sie scharf. „Aber warum habt ihr euch so nah am Ufer niedergelassen?“ – Sie blinzelte streng unter ihrer Brille hervor und auf ihrem Gesicht spiegelte sich Missfallen. „Wärt ihr weiter hinten gelegen …“
Leo ließ die Mädchen mit Mrs. Brown allein und ging zum Wasser. Die Kinder rannten lachend durcheinander, Lucia wurde in Ruhe gelassen.
„Ich nehme an, Alicia hat es fast geschafft, Jeffrey umzustimmen“, sagte er und nickte in Richtung der Lehrer.
Dennis stand wie ein treues Hündchen in der Nähe und warf erwartungsvolle Blicke in Alicias Richtung, jedes Mal, wenn sie sich ihm zuwandte.
Elijah hatte Violetta inzwischen allein gelassen. Die Frau hatte sich sofort auf einer Decke niedergelassen, griff nach der Morgenzeitung und begann, mit den Seiten zu rascheln. Der Psychologe näherte sich den Lehrkräften und schenkte Jeffrey einen warnenden Blick.
Mach dem Engel lieber nicht den Weg streitig, auch wenn er nur ein Heiler ist, schoss es Lucia durch den Kopf.
„Wollen Sie nicht ein kleines Turnier veranstalten?“, schlug Elijah vor und zeigte auf die Jugendlichen, die Volleyball spielten.
„Nicht heute“, lehnte Alicia mit einem freundlichen Lächeln ab. „Aber vielleicht ihr zwei?“ – Sie blinzelte ihm zu.
Campbell, die dem Gespräch am nächsten stand, drehte sich um.
„Na klar!“, griff sie Alicias Idee auf. „Hey, Margot, ich nehme den Psychologen in mein Team!“, rief sie ihrer Freundin zu.
„Dann spiele ich mit Mr. Hindley!“, rief Brian anstelle der Blondine und warf den Ball in die Luft, den er geschickt wieder auffing.
„Los geht’s!“, stimmte Campbell den Lehrern zu und warf einen Blick auf Ian, der neben ihr stand. „Du hast nichts dagegen, oder?“, fragte sie den grünäugigen Brünetten.
Ian starrte seine Mitschülerin überrascht an. Er hatte nicht erwartet, dass sich jemand für seine Meinung interessieren würde – und schon gar nicht Campbell. Zum ersten Mal sah Lucia ein verlegenes Lächeln über Ians Lippen huschen. Er schob eine widerspenstige Haarsträhne von der Stirn und sah Campbell direkt in die Augen.
„Nein“, sagte er leise.
„Warum fragst du ihn überhaupt?“, warf Kitsch ein. „Die Mannschaft entscheidet!“ Er blickte auf die sechs Jugendlichen. „Und wir sind alle dafür, oder?“
„Ja! Ja!“, riefen die Jugendlichen laut und zogen damit die Aufmerksamkeit der anderen Strandbesucher auf sich.
Ian senkte den Blick, doch Campbell sah ihn weiter an, in Gedanken ganz woanders.
„Dann ist’s beschlossen!“, rief Kitsch Elijah zu und winkte. „Wir warten auf euch!“
„Conn! Conn! Conn!“, skandierten die Jugendlichen den Nachnamen des Psychologen.
Alicia legte ihre Hand auf die Schulter des Heilers.
„Geh schon, Elijah“, sagte sie und sah zu Jeffrey. „Und du auch. Wir schauen zu.“
Jeffrey strich sich über den Schnurrbart.
„Und für wen drückst du die Daumen, Hübsche?“
Auf Alicias Wangen zeigten sich Grübchen.
„Sie beleidigen mich, Mr. Hindley“, antwortete sie gedehnt mit neckischem Ton.
Jeffrey rieb sich die Handflächen und sah Elijah herausfordernd an.
„Na los, Psychologe – wollen wir sehen, wer gewinnt?“
Elijah lächelte ironisch.
„Wer spielt noch mit?“, fragte er, sich umblickend.
Mrs. Brown hob die Hände.
„Nein, Elijah, ich bin Fan!“, rief sie und ließ die Mädchen in Ruhe. Sie stellte ihre Liege so um, dass sie das Spiel beobachten konnte. „Vielleicht Leo und Lucia?“ Die Frau ließ sich auf der Liege nieder.
Lucia begegnete Elijahs Blick. Ein Engel reicht völlig aus, dachte sie. Ich will dich nicht beleidigen, Boss, grinste sie innerlich, aber du verlierst, wenn du gegen mich spielst.
„Ich denke, Jeffrey und ich reichen aus“, sagte Elijah, der allein durch Lucias Blick verstanden hatte, dass er lieber kein Risiko eingehen sollte. Er trat neben Ian und klopfte ihm leicht auf den schmalen Rücken. „Na, mein Freund, zeigen wir, was wir können?“
Die Jugendlichen jubelten, als Jeffrey sich Brians Team anschloss. Auf das Signal – ein schriller Pfiff aus Mrs. Browns Trillerpfeife – begann das Spiel.
Ohne Zweifel gewann Kitschs Team. Ob es nun an Penelopes lautstarker Unterstützung lag, die bei jeder Ungerechtigkeit im Spiel aufschrie – etwa, wenn der Ball doch den Boden berührte, obwohl Brian versuchte, ihn mit einer Bauchlandung im Sand abzuwehren – oder an Alicias Gedanken, die keine große Mimik zeigten, aber insgeheim ganz auf der Seite der gegnerischen Mannschaft standen. Es waren gerade diese Gedanken, die ihre Haltung bestimmten – insbesondere gegenüber einem bestimmten Spieler. Und selbst wenn Elijah keine Gedanken lesen könnte, hätte er trotzdem gespürt, was von der hübschen Literaturlehrerin ausging.
Und so sehr er auch versuchte, Beruf und Vergnügen zu trennen, genau in diesem Moment bemerkte Lucia eine Veränderung in seinem Verhalten. Elijah, sonst stets zurückhaltend in der Gefühlsäußerung, rief lauter als sonst, sobald Alicias Blick auf ihm ruhte. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln – verlegen und zugleich glücklich – erschien dann auf seinem Gesicht.
Lucia schmunzelte. Gut, dass Penelope keine Ahnung von deinen Gefühlen hat, Elijah – sonst hätte sie das arme Mädchen heute noch im Sand vergraben. Und sie selbst ahnte nicht einmal etwas davon. Ich glaube, von allen am Strand bin ich die Einzige, die deine gute Laune bemerkt hat. Na gut – Leo vielleicht auch.
Nachdem sie Brians Team haushoch besiegt hatten, übergaben die Jugendlichen den Ball an Mr. Hindley und begaben sich auseinander auf dem Strand.
„Halt, Freunde!“, rief der Sportlehrer den Jungen hinterher. „Und wer baut das Netz ab?“ – Jeffreys schroffe Stimme ließ einige der auf den Decken liegenden Mädchen zusammenzucken. „Wenn’s ums Spielen geht, sind alle dabei – aber beim Aufräumen ist keiner mehr zu finden!“ Der Mann runzelte die Stirn. „Das geht so nicht.“
Widerwillig schleppten sich die Jungen zum Netz zurück und verwarfen ihre Gedanken an einen Spaziergang am Ufer. Bis zur Abfahrt ins Camp blieben noch eine halbe Stunde, und Jeffrey würde sich schon noch eine Beschäftigung einfallen lassen, damit sie nicht herumlungerten.
„Wir machen das sofort, Mrs. Brown“, betonte der Schnauzbartträger jedes Wort, als er sich an Penelope wandte.
Die Frau schaltete schnell um und beschloss, dem Mann ihre Unterstützung zu zeigen. Sie griff nach ihrer Trillerpfeife und setzte sie an die Lippen. Ein schriller Ton wurde von heftigen Gesten begleitet, mit denen sie den Kindern befahl, zu tun, was nötig war.
Leo, der neben Lucia stand, prustete vor Lachen. Das Mädchen unterdrückte ein Lächeln, verzog aber das Gesicht zu einem strengen Blick und sah ihn tadelnd an.
Ich weiß schon, mein Lieber, dachte sie, dass Penelope gerade aussieht wie eine Verkehrspolizistin, aber hab ein bisschen Anstand – lach sie nicht aus.
Während Jeffrey beschäftigt war und Mrs. Brown ganz in ihrer „Amtshandlung“ aufging, nutzte Elijah den Moment und ging zu Alicia. Das Mädchen gratulierte dem Heiler zum Sieg seines Teams, woraufhin dieser bescheiden entgegnete, dass er nur mit halber Kraft gespielt habe, um die Gegner nicht zu kränken.
Und was wäre gewesen, wenn du dich wirklich angestrengt hättest, Elijah? dachte Lucia spöttisch. Gut, dass ich abgelehnt habe – sonst wäre das kein Teamspiel geworden, sondern ein Duell zweier Engel. Und das Ergebnis wäre wohl klar gewesen, grinste sie innerlich selbstzufrieden.
Lucia ließ Psychologe und Blondine allein weiterplaudern und konzentrierte sich nun auf die älteren Jungs.
„Los, Kitsch, komm schon“, winkte Brian dem Brünette. „Ihr auch, Jungs!“, rief er den zwei ehemaligen Neuntklässlern zu, die ab September eine Klassenstufe aufsteigen würden. „Chris, Felix – und du, Justin“, sagte der Braunhaarige und deutete auf den blonden Jungen mit dem länglichen Gesicht.
„Bin dabei!“, antwortete der zukünftige Zehntklässler und ließ Sarah allein zurück, um Chris und Felix hinterherzulaufen.
Als der Junge bei Brian ankam, klopfte dieser ihm auf den nackten Rücken.
„Drück dich nicht vor der Mannschaft, Jas“, neckte er ihn. „Glaubst du, Kitsch und ich machen hier die ganze Arbeit?“, grinste er.
„Sag mal, Alter, hast du zum Frühstück zu viel Tee getrunken?“, lachte Justin.
Brians Lippen verzogen sich zu einem sarkastischen Grinsen. Er rieb sich das Grübchen am Kinn und gab dem Blonden einen leichten Stoß in den Rücken.
„Werd nicht frech, Jas“, sagte der Braunhaarige, legte den Arm um die Schultern seines Freundes und während sie sich weiterhin gegenseitig mit Sprüchen überzogen, gingen beide zur Netzseite, wo der Sportlehrer bereits auf die Jungs wartete.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.