
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 9.1
Lucia schlang ihre Arme um Leos Hals. Ein letzter Seufzer entfuhr ihrer Brust und Stille kehrte im Raum ein. Ein süßes Gefühl der Entspannung durchströmte ihren Körper. Mit dem Kinn an Leos Schulter gelehnt, ließ sie sich erschlafft fallen und genoss ihre Nähe. Nach einer Minute löste sich Lucia ein wenig von Leo, ließ aber die Umarmung nicht los.
Am Himmel dämmerte der Morgen, verschmierte orange-rote Farben. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten hinter dem Horizont auf und hüllten die auf dem Bett sitzenden Gestalten in ein leuchtend gelbes Licht.
Lucia schüttelte den Kopf, schwarze Locken fielen über ihre Schultern. Leos graue Augen verengten sich und er lächelte. Seit ihrer Bekanntschaft waren über zehn Jahre vergangen und Lucia konnte das Aussehen des Jungen bis ins kleinste Detail beschreiben – sogar das winzige Muttermal über seiner linken Augenbraue. Lucia befreite sich aus Leos Armen und ließ sich auf die Kissen zurücksinken, wobei sie sich mit dem Laken zudeckte.
In den Strahlen der Morgensonne wirkte Leos Haut golden, was sie an ihr erstes Mal in Rom erinnerte. Die Erinnerung weckte in Lucia ein Gefühl der Nostalgie – jedoch ohne Traurigkeit, vielmehr ein Gefühl des Glücks. In ihren haselnussbraunen Augen spiegelte sich Zärtlichkeit. Sie strich mit der Hand über Leos Oberschenkel. Die Wärme kam nicht nur von seinem Körper, sondern auch von den hellen Sonnenstrahlen.
„Ich kenne diesen Blick, Lucia“, sagte Leo und durchbrach die Stille.
Die Mundwinkel des Mädchens zuckten leicht.
„Ich liebe es, wenn du mich so ansiehst“, fuhr der Junge fort. „Dein Blick bringt meinen Körper zum Beben vor lauter Gefühlen, die mich überfluten und mir den Atem rauben“, gestand er. Plötzlich veränderte sich Leos Gesichtsausdruck, wurde distanziert und traurig. „Unsere Verbindung ist so stark, dass sie mir manchmal Angst macht. Und wenn es nötig wäre…“
Lucia setzte sich im Bett auf, berührte Leos Wange und sah ihm direkt in die Augen.
„Wage es ja nicht, so etwas auch nur zu denken, Liebling“, flüsterte sie. „Liebe war noch nie eine Schwäche. Nur Narren denken so“, schmunzelte sie. „Oder Menschen, die nie geliebt haben.“
Leo beugte sich über Lucia und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.
„Was soll ich nur tun, meine Geliebte?“, flüsterte er zwischen den Küssen. „Wenn eines Tages…“
Lucia packte ihn an den Schultern.
„Es wird kein ‚eines Tages‘ geben“, sagte sie mit fester Stimme, die Leo zurückweichen ließ. „Lass uns dieses sinnlose Gespräch beenden.“
Der Junge nickte.
„Du hast recht, Lucia“, stimmte er zu und verscheuchte die düsteren Gedanken. „Man muss nicht reden, sondern handeln. Wir haben Zeit – und wir werden sie sinnvoll auf der Erde verbringen.“
„So gefällt mir das besser, Wächter“, klopfte Lucia ihm auf die Schulter.
Leo wandte den Blick ab und starrte zum Fenster hinaus, hinter dem das Leben erwachte.
„Gib’s zu, Lucia“, fragte er, „hat dich dieser Gedanke nie heimgesucht? Ja, wir sollten uns nicht aneinander binden, besonders weil…“ – er deutete auf den hellblauen Himmel – „…wir dort oben zusammen sein werden. Aber im Himmel ist alles anders. Dort gibt es das nicht“ – Leo ballte das Laken in der Hand, womit er die körperliche Nähe meinte.
Das Mädchen schlüpfte unter dem Laken hervor und ging zur Schlafzimmertür. Auf Leos Frage wollte sie jetzt nicht antworten – vor allem deshalb, weil sie es nicht wollte. An der Tür drehte sich Lucia noch einmal um.
„Willst du frühstücken?“, fragte sie.
Der Junge sprang aus dem Bett und wickelte sich das Laken um die Hüfte, wobei er das Ende in den Stoff steckte.
„Ich denke, es ist Zeit“, sagte er und erklärte sich bereit, mit ihr in die Küche zu gehen.
Lucia schickte Leo einen Luftkuss und verschwand im Badezimmer.
Die Zweizimmerwohnung mit Fenstern zum Meer war geräumig. Lucia und Leo mussten keine Möbel kaufen, denn alles Notwendige war bereits vorhanden – die Wohnung gehörte Ageor und war für die Diener bestimmt. Nachdem ein Engel seine Mission erfüllt hatte, verließ er die Wohnung und bald zog der Nächste ein. Diese Praxis erleichterte das Leben der Wächter und erregte durch den häufigen Wechsel der Bewohner keinen Verdacht.
Bereits seit neun Monaten war Wohnung Nummer zweiundsechzig das vorübergehende Zuhause der beiden Wächter. Vorübergehend… Lucia verzog das Gesicht bei diesem Gedanken. Sie wusste, dass sie hier kaum die vorgesehenen zwanzig Jahre verbringen würden. Vielleicht fünf – aber zwanzig? Das hing davon ab, wann Angel sich entschloss, die Straße zur Hölle zu beenden. Danach würde man ihre Dienste als Kindermädchen nicht mehr brauchen und sie könnten zum normalen Leben zurückkehren.
Lucia stellte das Wasser in der Dusche ab und griff nach dem Handtuch.
Vielleicht, überlegte sie, würde Ageors Oberhaupt schon im nächsten Jahr den Wunsch äußern, das Problem zu beenden. Doch nicht alles hing von Angel ab, kam ihr ein zweiter Gedanke, der den ersten verdrängte. Du weißt doch, Lucia, das Portal müssen die Menschen schließen. Aber woher nehmen? Und wer würde sich dazu bereiterklären? Der Gedankenstrom war nicht mehr aufzuhalten und sie ließ ihn in ihrem Kopf kreisen. Wer? Vielleicht jemand aus der Verwaltung? Und wenn nicht? Menschen aus Bussen zu ziehen ist das eine, aber die Straße zu schließen, ist etwas ganz anderes. Oder… Bei diesem nächsten Gedanken umspielte ein sarkastisches Lächeln ihre Lippen. Kinder aus dem Lager? Sie zog sich ein T-Shirt über. Nein, stoppte sie sich selbst bei dieser verrückten Idee von Menschheitsrettern. Diese Rotznasen – mutig nur in Worten. Würden sie einen Dämon nur ein einziges Mal sehen, würden ihnen nicht nur die Knie zittern. Sie würden sich in Löcher verkriechen oder panisch weglaufen, so weit es nur ging. Wobei – wohin kann man vor dem Bösen überhaupt fliehen? Sie sind doch selbst in den Bussen, nur ahnen die Menschen es nicht einmal. Deshalb konnten die Kinder durchaus einen Dämon gesehen haben – aber für die Kreatur lohnte es sich nicht, sie zu töten. Die Körper der Passagiere waren ja ohnehin für seine „Kumpel“ bestimmt.
Lucia ging rasch in die Küche. Leo stand am Tisch und strich Erdnussbutter auf eine Scheibe Weißbrot. Hinter ihm schnaufte die Kaffeemaschine auf der Anrichte.
Na ja, reichlich ist das Frühstück nicht gerade, schmunzelte das Mädchen.
„Bedien dich“, sagte Leo und zeigte mit dem Messer – an dessen Spitze ein Tropfen Butter klebte – auf einen Teller mit belegten Broten. „Gleich ist der Kaffee fertig.“
„Danke, Liebling“, sagte Lucia und schnappte sich das oberste Sandwich. Sie biss hinein. „Ich hab richtig Hunger.“
Leo schnaubte belustigt und warf das Messer in die Spülmaschine.
„Ich auch. Nicht nur die Überwachung zehrt an den Kräften“, zwinkerte er ihr zu.
Lucia brummte zustimmend mit vollem Mund.
„Mhm“, sagte sie, nachdem sie den Bissen heruntergeschluckt hatte. „Deshalb ist unser Frühstück auch so karg.“
„Sehr schnell, meinst du“, korrigierte sie Leo und drehte sich zur Kaffeemaschine.
Diese gab einen letzten Pfeifton von sich und verstummte. Leo nahm zwei Tassen heraus und stellte sie auf den Tisch.
Lucia warf einen Blick auf die Uhr.
„Wir haben etwa vierzig Minuten“, informierte sie ihn und setzte sich auf einen hohen, lederbezogenen Hocker mit Stahlfuß.
„Reicht mir“, versicherte Leo und nahm einen Schluck vom heißen Kaffee. „Kaffee trinken, dann ab unter die Dusche.“
„Beeil dich“, sagte Lucia und nahm ihre Tasse. „Du hast doch nicht etwa vergessen, was heute für ein Tag ist?“
„Nö“, antwortete Leo gedehnt und schob sich das letzte Stück Brot in den Mund.
„Hoffentlich läuft alles glatt“, meinte Lucia nachdenklich.
Der Junge sah das Mädchen, das ihm gegenüber saß, mit unverhohlener Verwunderung an.
„Wieso solche Zweifel?“
„Ich habe keine Zweifel. Aber wenn Jugendliche ankommen – was ziemlich wahrscheinlich ist – könnte es zu Spannungen kommen.“
„Und wenn nicht?“
„Wenn sie so sind wie Ian und Patsy…“, seufzte Lucia und nahm einen Schluck Kaffee, „…dann wird nichts Unangenehmes passieren. Wobei… sogar Patsy hat es geschafft, Cash zum Schweigen zu bringen. Und Ian – der wird bald seine Flügel ausbreiten.“
Leo zog mitfühlend die Lippen zusammen.
„Gut, dass Elijah mit ihm arbeitet. Der Junge hat echt was durchgemacht.“
Lucia stellte ihre Tasse auf den Tisch.
„So, Liebling, ab unter die Dusche, sonst musst du wohl mit nacktem Oberkörper ins Lager fahren. Deine Bauchmuskeln würden zwar jedes Mädchen verrückt machen…“
„Nichts da“, unterbrach Leo und deutete auf sich selbst. „Das hier ist nur für ein einziges Mädchen.“
„Wer hätte das gedacht?“, zwinkerte Lucia ihm zu.
Leo ließ sein angebissenes Sandwich liegen und verließ die Küche, barfuß auf den Fliesen schlappend. Als er an Lucia vorbeikam, hielt sie ihn mit einer Berührung am Handgelenk auf.
„Wegen dem, was du vorhin gesagt hast…“, begann sie, machte eine Pause und ihre Blicke trafen sich.
„Ich hatte diesen Gedanken auch“, fuhr sie fort. „Aber ich will nicht, dass so eine dumme Idee mich davon abhält, solche wunderbaren Nächte mit dir zu verbringen wie heute. Ich habe keine Angst, dich zu verlieren, Leo, weil ich weiß – ich werde dich nicht verlieren.“
Im Veranstaltungssaal wartete man bereits auf Lucia und Leo. Das war deutlich an den entfernten Stimmen vom dritten Stock zu hören, als sich die Eingangstür hinter dem Paar schloss. Lucia sah Leo an. Der Junge kratzte sich mit dem Zeigefinger an der leicht gebogenen Nase. Die krächzende Stimme von Mrs. Brown war im Gemurmel der Kinderschar sofort erkennbar.
Als Direktorin war Penelope verpflichtet, alle Regeln zur Aufnahme neuer Lagerbewohner einzuhalten – sie trug die Verantwortung gegenüber Weinat für die Ruhe im Lager. Wie Adrian und Brandon hatte auch sie nie eine persönliche Audienz beim Oberhaupt des geheimen Rates erhalten und stand nur mit dessen zweitem Stellvertreter in Kontakt. Daren Hardley rief Mrs. Brown jeden Montag an, verlangte vierteljährlich einen Finanzbericht und erkundigte sich oberflächlich nach dem Lagerzustand – zumindest soweit es einem wortkargen Mann möglich war. Nie dauerte ein Gespräch länger als zehn Minuten – und doch reichten sie, um Penelope ein paar neue graue Haare einzubringen. Niemand flößte ihr so viel Angst ein wie die Stimme jenes Mannes, der ihr Gehalt bezahlte.
Mrs. Brown hatte Daren nur ein einziges Mal getroffen – bei ihrer Einstellung. Als erfahrene Physiklehrerin und ehemalige stellvertretende Schulleiterin für Erziehungsfragen war sie erst vor einem Jahr in Rente gegangen. Sie erhielt die Chance, ihre Arbeit fortzusetzen – als Direktorin eines abgeschotteten Lagers, von dessen Existenz nur Eingeweihte wussten. Für ihr Schweigen erhielt sie – wie das gesamte Personal – eine Gehaltszulage. Geld war, wie so oft, ein Antrieb zum Handeln und gleichzeitig das beste Mittel, um Informationen geheim zu halten.
Im Fall von Mrs. Brown kam zur guten Bezahlung die Angst vor der Obrigkeit hinzu. Obwohl Mr. Hardley sie nie direkt unter Druck gesetzt hatte, reichte wohl schon die geheimnisvolle Natur des Ortes und ihr Wissen über das Verschwinden von Menschen und deren Transport zur Straße aus, um ihr ein tiefes Verantwortungsgefühl einzuflößen. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass sie sich streng verhielt – manchmal zu streng – und sich auch in Privatsphären einmischte.
Lucia erinnerte sich an einen Vorfall im Frühling: Penelope hatte versucht, Unterlagen aus dem Büro des Psychologen zu entnehmen, um seine Arbeit zu kontrollieren. Elijah hatte sie höflich gebeten, die Ordner unangetastet zu lassen und ihm selbst die Einsicht zu überlassen. Damals hatte Penelope nachgegeben – doch Lucia war sich sicher, hätte der Psychologe sie nicht rechtzeitig aufgehalten, wäre die Direktorin auch bei ihm zu Hause eingebrochen.
Das Mädchen eilte zur Treppe, Leo folgte ihr.
„Hoffentlich ist Elijah im Saal“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. „Die Kinder haben sich kaum von der Straße erholt. Naja, einige zumindest. Die schlimmen Erlebnisse im Bus wirken fast wie eine Vergnügungsfahrt im Vergleich zum Empfang im Stil von Penelope.“
Hinter Lucia erklang ein unterdrücktes Lachen.
Trotz der vielen Monate, in denen sie mit Kindern arbeitete, war sie ihnen gegenüber nie wirklich warm geworden – und hatte nicht vor, ihre Meinung über Schüler als verzogene Egoisten zu ändern. Dennoch brauchte jeder Mensch eine kleine Atempause zwischen dem Schock der Straße und der harten Realität des Verlusts seiner früheren Welt.
Lucia drückte die Türklinke und trat ein. Der Veranstaltungssaal nahm fast den halben Stock ein, der Rest beherbergte das Büro der Direktorin, das des Psychologen und das Lehrerzimmer.
Der quadratische Raum war in ein gelbliches Licht getaucht, das von zwei riesigen, runden Kronleuchtern ausging. Stühle mit weinrotem Bezug standen in zwei geraden Reihen gegenüber der hölzernen Bühne.
Wie immer trug Elijah einen eleganten Anzug. Er stand im Gang, eine Hand auf die Rückenlehne eines Stuhls gelegt, die andere in der Hosentasche. Der prüfende Blick seiner dunkelbraunen Augen war auf die Jugendlichen gerichtet, die auf der Bühne standen.
Vor den Neuankömmlingen schritt Penelope auf und ab. Das Klacken ihrer braunen Absätze hallte eintönig durch die bedrückende Stille.
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.