
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 1 – Tödlicher Schlag
Aus dem Russischen
Kapitel 20.1
Den ganzen Heimweg über sagte Tom kein einziges Wort. Lucia kam das Schweigen des Jungen nur gelegen. Sie wollte nicht über Dinge sprechen, die man vorzugsweise nicht an öffentlichen Orten erzählt. Im Flugzeug nahm das Mädchen einen Platz am Gang ein und saß ganze sieben Stunden einfach nur in ihrem Sitz, während sie die Bewegungen der Passagiere und Flugbegleiter an Bord beobachtete.
Erst als sie die Wohnung betraten, konnte Tom sein Erstaunen über das Gesehene nicht mehr zurückhalten. Obwohl Lucia und Leo die ganze Nacht vor dem Flug nach Schottland jede Ecke geschrubbt hatten, hing in der Wohnung immer noch ein stechender Geruch von Verwesung in der Luft. An den Wänden im Flur und im Schlafzimmer waren Dellen von Schlägen zu sehen und der Türrahmen der Schlafzimmertür auf der rechten Seite fehlte gänzlich.
„Nicht schlecht gefeiert“, pfiff Tom anerkennend.
Lucia zuckte mit den Schultern, während Leo gezwungen lächelte.
„Kaffee?“, fragte der Junge, als er in die Küche ging.
Am Flughafen hatten sie Donuts gekauft und beschlossen, sich zu stärken, bevor sie ihren Tag begannen. Im Taxi rief Tom seine Eltern zurück und entschuldigte sich für seine Abwesenheit an Ostern. Er hätte kaum noch ein Ticket nach Neapel bekommen, um wenigstens heute Abend zu fliegen und am Morgen dort zu sein. Und selbst wenn – er wollte seine Familie nicht erschrecken, indem er in seinem jetzigen Zustand auftauchte: sein ganzer Körper war mit blauen Flecken übersät, sein Arm bandagiert und sein Gesicht wirkte erschöpft nach zwei schlaflosen Nächten.
„Ja, warum nicht“, sagte Tom und ließ sich auf das Sofa fallen. Er verzog das Gesicht, als er mit dem Ellenbogen seines verletzten Arms, der in einer Schiene steckte, gegen das Geländer stieß.
„Wir ziehen um“, sagte Lucia und betrat das Wohnzimmer. Sie brachte Tassen mit, stellte sie auf den Tisch und öffnete die Fenster zum Lüften.
Der Samstagmorgen wurde von warmem Sonnenschein und dem Duft der Magnolien begleitet, die unter den Fenstern wuchsen.
„Was?“, fragte Tom.
„Wir ziehen um“, erklärte das Mädchen mit einem Lächeln.
Sie setzte sich auf ein kleines Sofa in seiner Nähe und sah ihn aufmerksam an.
„Tut es sehr weh?“, fragte Lucía und deutete auf seinen Arm.
Tom schüttelte den Kopf.
„Nein“, antwortete er.
Lucia wusste genau, dass er log. Sie hatte seine Gedanken gelesen und erkannt, dass selbst die Tabletten, die ihm Berhad gegeben hatte, den pochenden Schmerz in seinem Arm nicht lindern konnten. Sie schnaubte leise und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Bevor sie abreisten, müsste hier unbedingt renoviert werden, dachte sie.
Leo tauchte im Wohnzimmer auf, drei Tassen in den Händen.
„Du hast sicher Fragen, Tom“, begann Lucia als Erste über die Ereignisse der letzten Tage zu sprechen. Sie drehte den Kopf zu ihm und stellte ihre Tasse auf den Tisch.
Tom kaute an seinem Donut. Er schluckte einen Bissen herunter und legte den Rest auf den Teller.
„Ja“, sagte er. „Ich warte auf eure Erklärungen.“
Lucia tauschte einen Blick mit Leo, der in einem Sessel gegenüber saß. Er nickte ihr zu, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie zuerst sprechen sollte. Du schiebst mir also den Schwarzen Peter zu, dachte sie schmunzelnd. Na gut.
Lucía lächelte.
„In Ordnung“, sagte sie und begann, ihm Informationen über Aegor zu geben – jedoch nur das, was eine normale Person über dieses Gericht wissen durfte.
Sie bat Tom außerdem, sich an sie oder Leo zu wenden, falls ihm jemals etwas Verdächtiges auffallen sollte.
„Auf keinen Fall darfst du versuchen, alleine damit fertigzuwerden“, ermahnte sie ihn streng. „Nächstes Mal könnte es nicht so glimpflich ausgehen“, fügte sie hinzu und spielte auf die Nacht an, die er unter Dämonen verbracht hatte.
Tom nickte.
„Willst du uns nicht erzählen, was genau diese Kreaturen mit dir gemacht haben“, fragte Leo, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Er nahm eine Tasse in die Hand und nahm einen Schluck.
„Nein, will ich nicht“, lehnte Tom ab.
„Wie du willst“, sagte Leo. „Vielleicht irgendwann.“ Er presste die Lippen mitfühlend zusammen.
„Vielleicht“, seufzte Tom.
Aber euch bestimmt nicht, las Lucia den Gedanken in Toms Kopf. Und euren Ärzten auch nicht.
Lucia spürte, wie in Tom die Frustration wuchs – aus Unverständnis darüber, warum ausgerechnet er in die Fänge der Dämonen geraten war. Doch darauf konnte niemand eine Antwort geben. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Einfach in der Nähe von Lucias Haus. Um ihr zu schaden, um die Verletzlichkeit der Engel zu demonstrieren, wenn sie zu engen Kontakt mit Menschen pflegten.
Tom sprang plötzlich auf. Entschlossenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben – er hatte eine Entscheidung getroffen.
Lucia lehnte sich entspannt in die Rückenlehne des Sofas, bereit zuzuhören, während Leo seine Tasse auf den Tisch stellte und sich in seinem Sessel aufrichtete. Überraschungen erwarteten sie von Menschen nicht – ihre Gedanken zu lesen und ihre Handlungen vorherzusehen, machte das unnötig.
„Es tut mir leid, Lucia“, begann Tom. „Und dir auch, Leo.“
Er atmete tief durch, als müsste er erst seinen Mut sammeln, bevor er weitersprach.
„Die letzte Nacht hat mir gereicht, Leute.“ Die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus, als er in die Mitte des Raumes trat.
Sie haben dich also ordentlich zugerichtet, dachte Lucia.
Toms Gedanken waren chaotisch, sie sprangen durcheinander. Einerseits überlegte er, wie er Lucia und Leo sagen sollte, dass die Bekanntschaft mit ihnen ihn in große Schwierigkeiten gebracht hatte, andererseits drängten sich Erinnerungen an die Dämonen auf – ihre Gesichter, die ihn umringten, das Zischen und die Flüche gegen die Menschheit. Die Schreie der Kreaturen – und seine eigene Stimme, dazwischen. Das Blut, das ihm die Sicht raubte, das Knirschen von Knochen, der unerträgliche, pulsierende Schmerz. Und diese unheimlichen, lauten Rufe einer Eule.
Tom griff sich mit seiner gesunden Hand an den Kopf. Die Erinnerungen lösten eine Welle negativer Emotionen in ihm aus – widerlich, abstoßend. Diese Viecher haben mit mir gemacht, was sie wollten – sie hatten ihn in einen dunklen Ort geschleppt, gefesselt, ihm Wasser verweigert, ihn geschlagen, geschlagen, geschlagen… Und diese fremden Gedanken, die sie mir eingepflanzt haben – Gedanken, die mich fühlen ließen wie den letzten Dreck auf Erden.
Und ich konnte nichts tun, dachte er, nichts. Ich war hilflos, schwach, eine Stoffpuppe unter den Füßen irgendeines Ungeheuers.
„Genug“, schrie Tom und zwang sich, sich zu beruhigen.
Leo sprang aus dem Sessel und wollte auf ihn zugehen, doch Tom hob die Hand und hielt ihn auf. Er sah seine Freunde der Reihe nach an, leckte sich über die spröden Lippen. Sein Beruf brachte schwierige Situationen mit sich, er hatte sich längst daran gewöhnt, harte Dinge zu sehen und zu erleben – aber ein ganzer Tag unter den Toten hätte jeden in die Knie gezwungen.
„Genug von dem, was in Edinburgh passiert ist“, sagte er mit gesenkter Stimme. „In Edinburgh, wohin ich nicht mal freiwillig wollte.“
Ein nervöses Lachen entkam ihm.
„Versteht mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen euch persönlich – gegen dich, Lucia, oder gegen Angel oder eure anderen Freunde. Euer Geheimnis bleibt sicher. Ich werde niemandem von der Existenz der Engel erzählen. Vor einem Monat hätte ich mich noch gefreut, so vielen Engeln zu begegnen und sogar mit ihrem Anführer zu sprechen.“
Er hielt kurz inne, rieb sich mit der Hand den Nacken.
„Aegor“, half Leo ihm.
„Ja, genau“, nickte Tom.
„Ihr könnt sagen, die Nacht mit den Dämonen hat mich gebrochen – meinetwegen. Vielleicht stimmt es sogar.“ Er zuckte mit den Schultern. „Denn sie haben wirklich alles versucht, mich zu brechen. Dabei habe ich mich nie für schwach gehalten.“
Er legte einen Finger an seine Lippen, als würde er sich sammeln.
„Deshalb werde ich den Kontakt abbrechen, Lucia.“ Tom sah ihr direkt in die Augen. „Natürlich danke ich euch, dass ihr mir den Hintern gerettet habt.“
Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen.
„Danke solltest du lieber Charlotte sagen, nicht uns“, erinnerte Leo ihn.
„Dann richtet es ihr aus.“ Tom ging zur Tür des Wohnzimmers.
„Diese widerlichen Wesen sind immer noch vor meinen Augen.“ Er drehte sich um, Ekel spiegelte sich in seinem Gesicht wider.
„Ich weiß nicht, wann ich jemals wieder ruhig schlafen kann“, gab er ehrlich zu. „Und ich glaube nicht, dass euer ach so großartiger Doktor mir da helfen wird.“
„Heiler“, verbesserte ihn Leo.
Tom atmete tief durch.
„Egal, Leute. Ich bin raus.“ Seine Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich zusammen. „Ich habe nicht das geringste Verlangen, noch einmal auf diese verdammten Toten zu treffen.“
Er will nicht, dass wir denken, er sei undankbar, las Lucía in seinen Gedanken. Aber genug ist genug.
Du Mistkerl, dachte sie verärgert. Doch sie ließ sich nichts anmerken, blieb einfach still auf dem Sofa sitzen. Keine Spur von Dankbarkeit für sein gerettetes Leben. Sofort will er sich zurückziehen.
Schon gut, dachte sie und sah ihn mit gleichgültigem Blick an – als würde er gar nicht mehr existieren.
Aber du wirst zurückkriechen. Wenn es brenzlig wird, wirst du uns bitten, dir wieder den Hintern zu retten. Du wirst dich wieder in Schwierigkeiten bringen. Und dann wirst du sehen, wie feige Menschen sein können.
„Die Zeiten haben sich geändert“, wandte sich Leo an Tom.
Lucia zog es vor, zu schweigen, um nicht noch wütender zu werden. Das Verhalten ihres Freundes machte alles zunichte, was sie einst verbunden hatte – angefangen bei ihrem ersten Treffen in Rom. Beim ersten Anzeichen von Gefahr einen Rückzieher zu machen, sagte mehr über ihn aus, als er selbst es vielleicht wahrhaben wollte. Ein unzuverlässiger Mensch – und so jemanden in ihrer Nähe zu haben, war für Lucía überflüssig.
„Du solltest wachsam sein“, fuhr Leo fort. „Von jetzt an wird der Dämon überall auf dich lauern. Wer mit Engeln befreundet ist, begegnet zwangsläufig auch ihren Feinden.“
Als Lucia Toms Gedanken las, spielte sich in ihrer Vorstellung eine ganze Szene ab – wie er bewusstlos in den Kofferraum eines Wagens geworfen wurde, wie er gefesselt auf einem Stuhl verprügelt wurde, wie man ihn an den Haaren nach Calton Hill schleifte, wie ein Dämon, nachdem er seinen Finger in Toms Blut getaucht hatte, Symbole auf den Boden malte.
Doch das entschuldigte Toms Entscheidung nicht, ihre Freundschaft so einfach zu beenden. Und es beeinflusste ihre Haltung ihm gegenüber. Lucia gefiel es nicht, dass Tom sie so einfach verriet – nur weil er ein zweites Mal in seinem Leben mit dem Bösen konfrontiert worden war.
„Wage es ja nicht, jemandem auch nur ein Wort über das zu erzählen, was in Schottland passiert ist“, sagte sie schließlich mit ruhiger Stimme.
Ihr Blick war eiskalt, scharf wie eine Klinge. Entweder verlässt du deine Freunde oder du bleibst – ungeachtet der Konsequenzen.
Tom zuckte zusammen und beeilte sich, aus Lucias Sichtfeld zu verschwinden.
„Niemals, glaub mir“, drang seine Stimme aus dem Flur. „Ich werde nichts und niemanden erwähnen. Versprochen.“
„Kann ich dann gehen?“ Seine Frage klang fast entschuldigend.
Lucia biss die Zähne zusammen, um das wachsendes Ärgernis nicht hinauszuschreien. Bist du immer noch hier? Soll ich dir die Tür aufmachen? Mach, dass du wegkommst! Sie schnaubte innerlich. Dein Gejammer reicht mir. Verschwinde einfach.
„Natürlich“, sagte Leo schnell, als er Lucias Blick bemerkte.
Tom öffnete die Tür.
Lucia hörte, wie er auf dem Treppenabsatz tief durchatmete – Erleichterung.
Diese Menschen sind wirklich seltsam, dachte Lucia. Zuerst brüsten sie sich damit, deine Freunde zu sein und dann rennen sie mit eingezogenem Schwanz davon. Man kann ihnen nicht trauen.
Leo drehte sich zu Lucia um.
„Er braucht Zeit“, sagte er, nachdem sich die Tür hinter Tom geschlossen hatte. „Ich bin sicher, er taucht wieder auf. Mach dir keine Sorgen.“
Lucia schmunzelte.
„Und wer sagt, dass ich mir Sorgen mache?“
Sie griff sich einen Donut vom Teller, biss hinein und lehnte sich entspannt auf dem Sofa zurück, die Beine übereinandergeschlagen.
Er braucht Zeit, um irgendwohin zu verschwinden – Hauptsache weit weg von uns. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, aber sie sagte ihn nicht laut aus. Plötzlich war es ihr völlig egal, was aus ihrem ehemaligen Freund werden würde. Und wenn sie morgen von seinem Tod erfahren würde – sie würde keine Träne vergießen.
Sie nahm ihre Tasse mit kaltem Kaffee und trank einige Schlucke.
„Lass uns mit dem Umzug beginnen, Liebling“, sagte Lucia zu Leo und wechselte das Thema. „Ich denke, in einem Monat ziehen wir in eine andere Wohnung.“
Leo lächelte und nickte zustimmend.
Seit der Öffnung des Portals war die Dämonenjagd fast zur täglichen Routine geworden – genauer gesagt, zur nächtlichen. Mailand wimmelte nur so von entstellten Kreaturen, die auf ihre Opfer lauerten. Dasselbe geschah in anderen Städten und Ländern. Die Dämonen fürchteten die Wächter nicht mehr so sehr wie früher und versteckten sich kaum noch – sie wussten, dass für jeden getöteten Dämon bald neue nachkamen.
Gegen Ende des Jahres 2090 hörte das Böse auf, Menschen einfach nur auf den Straßen zu töten. Stattdessen entwickelten die Dämonen raffiniertere Methoden, um ihre Armee zu vergrößern. Sie drangen in Institutionen ein, sogar in die höchsten Regierungsebenen, um dort unter dem Deckmantel politischer Reformen unliebsame Menschen zu täuschen, zu verfolgen und schließlich loszuwerden.
Unter dem Vorwand eines „sozialen Gesetzes“, das sie selbst in den Kabinetten des Premierministers der Vereinigten Staaten von Europa eingebracht hatten, wurde es plötzlich nicht nur einfach, sondern auch legal, Menschen aus dem Weg zu räumen.
„Und genau das ist der Grund, warum mein Departement in die Angelegenheiten der Krankenversicherungen, Rehabilitationszentren und Altenheime eingreifen musste“, hatte Leo einmal gesagt.
„Gut, dass Donati und Isibardi nicht in die Hände der Dämonen geraten sind – sonst hätte ich keine Sekunde gezögert, mein eigenes Vorgesetztenpack zu erledigen“, fügte er bitter hinzu und lächelte düster.
„Weißt du, was das Gesetz 91 besagt?“ fragte Leo mit einem düsteren Schatten auf seinem sonst so jungenhaften Gesicht.
„Behinderte und alte Menschen werden zum Portal gebracht.“
Lucia atmete tief durch.
Verdammte Kreaturen, diese Mistviecher bringen die Gefäße direkt vor ihre Tür, um sich nicht unnötig anstrengen zu müssen, dachte sie. Deshalb haben sich so viele von ihnen auf uns gestürzt.
Sie befanden sich im Schlafzimmer ihrer Zweizimmerwohnung in Fier, einem Viertel im Nordwesten Mailands, die sie vor einem Jahr gemietet hatten. Die Wohnung war geräumig genug – sie konnten sowohl Zeit miteinander verbringen als sich auch zurückziehen, wenn jeder seinen eigenen Dingen nachgehen wollte.
„Halt dich da raus, Leo“, bat Lucia. „Wir können vielleicht einige warnen – aber nur, wenn du dich nicht unnötig exponierst und weiterhin Zugang zu den Informationen hast, wer als nächstes zum Portal gebracht werden soll.“
Leo nickte zustimmend.
„Mach einfach deine Arbeit weiter und trete niemandem auf die Füße. Solange dein Chef noch ein Mensch ist, schützt dich das vor einer Enttarnung. Dein Isimbardi hingegen gehorcht ganz offensichtlich Dämonen in menschlicher Gestalt.“
Lucia machte sich für eine Observation bereit und trat in den Flur. Sie steckte einen Dolch in die Tasche ihrer Hose.
„Oder noch besser“, flüsterte sie fast lautlos, damit keiner der Nachbarn es hören konnte, falls jemand auf den Treppenabsatz trat, „verlass das Departement und konzentriere dich ganz darauf, diese Kreaturen zu vernichten.“
„Ich bin nützlicher, wenn ich bleibe“, widersprach Leo. Nach kurzem Überlegen platzte es aus ihm heraus:
„Ein Spion im Feindeslager ist eine wertvolle Waffe.“ Er zwinkerte verschwörerisch.
Lucia lachte leise.
„Pass nur auf, dass du nicht auffliegst, James Bond.“
Sie öffnete die Wohnungstür und trat hinaus.
Leos Arbeit im Departement für Sozialschutz der Bevölkerung hatte sich ausgezahlt. Innerhalb von zwei Jahren war es ihnen gelungen, achtundzwanzig Menschen vor der drohenden Gefahr zu warnen.
Bevor sie eine neue Rettungsaktion starteten, rief Lucia Woldéri an, um mit ihm die nächsten Schritte zu besprechen.
„Erinnerst du dich an Costanzo Gubbio?“, fragte der Mann nach ein paar Sekunden des Überlegens, wie er die Menschen am besten schützen konnte.
„Der Vormund?“ Lucia wollte sichergehen, dass sie von demselben Engel sprachen. Im Gegensatz zu Roberta hatte sie den Jungen, mit dem sie einst an einer Sitzung von Aegor teilnehmen musste, nicht mehr gesehen – nicht seit ihrer Reise nach Florenz.
„Ja. Er ist derzeit in Caserta. Früher hat Costanzo in einem Rehabilitationszentrum für ehemalige Häftlinge gearbeitet.“
Natürlich, dachte Lucia sarkastisch. Die Kriminellen wurden als Erste abgeführt. Die besten Dämonen sind diejenigen, die zu Lebzeiten bereits gewalttätig waren.
„Und was genau kann Costanzo tun?“, fragte sie skeptisch. Sie glaubte nicht wirklich daran, dass ein Vormund ihr helfen konnte.
„Eine ganze Menge“, widersprach ihr ehemaliger Mentor.
„Seit November 2091 gibt es in Caserta eine Organisation, die Menschen hilft, nicht zum Portal gebracht zu werden. Die Mitglieder besorgen ihnen neue Identitäten und verstecken sie.“
„Wozu?“, wunderte sich Lucía. „Warum sollten sie sich solche Mitesser aufhalsen?“
„Diese Mitesser, wie du sie nennst, leisten großartige Arbeit“, erwiderte Woldéri scharf.
„Sie helfen, wo sie nur können, um Menschen von der ‚Straße‘ zu holen. So nennt die Organisation den Pfad, auf dem das Portal zu bestimmten Zeiten an verschiedenen Orten erscheint.“
„Und wie genau machen sie das?“
Lucia konnte es kaum fassen – einfache Sterbliche wagten es, sich dem Portal entgegenzustellen, um ihre Mitmenschen zu retten?
Plötzlich erinnerte sie sich an die Worte von Angel, als er auf der Versammlung in Edinburgh sagte, dass es mutige Menschen geben würde, die sich der Bedrohung entgegenstellen.
All ihr Zynismus verflog in einem Moment. Stattdessen empfand sie Respekt für jene, die sie zuvor kaum geschätzt hatte.
Also seid ihr doch zu etwas zu gebrauchen, dachte Lucia über die tapferen Menschen.
„Sie fahren zu den Orten, an denen das Portal entstehen soll“, antwortete Woldéri.
„Wie genau ihr Mechanismus funktioniert, habe ich noch nicht vollständig durchblickt. Aber ich werde mehr darüber herausfinden. Jedenfalls wird Costanzo Leute schicken, um diejenigen abzuholen, die ihr vor der Gefahr gewarnt habt“, gab er Anweisungen.
„Aber die Menschen wissen nicht, dass er ein Engel ist. Das soll auch so bleiben. Und ihr solltet euch ebenfalls nicht zu erkennen geben.“
„War das Costanzos Idee?“ konnte sich Lucia nicht verkneifen zu fragen.
„Nein“, antwortete Woldéri. „Menschen sind nicht so dumm, wie wir oft denken.“
Wieder ein Punkt für die guten Eigenschaften der Menschen, dachte sie.
„Zuerst entstand die Organisation in Deutschland. Dann verbreitete sich die Idee nach Österreich. Schließlich wurde die erste Filiale in Italien eröffnet – in Caserta.“
„Gut, gib mir Costanzos Nummer“, stimmte Lucia zu.
Es kam für sie nicht infrage, Menschen bei sich zu verstecken. Sollen die Menschen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern – sie selbst hatte genug um die Ohren.
Costanzo freute sich hörbar, als er Lucias Stimme hörte.
Sofort begann er, ihr zu erklären, was sie sagen und tun sollte, wenn sie jemanden warnen wollte.
„Sag mir sofort Bescheid, und meine Leute werden nach Mailand kommen“, sagte er.
„In meinem Team gibt es einen Heiler. Ein Engel sollte mit den Menschen sprechen und sie beruhigen, falls sie Angst haben. Jede Organisation hat ihren eigenen Heiler“, fügte Costanzo hinzu.
„Ohne die Hilfe der Engel werden die Menschen es nicht schaffen.“
„Da hast du recht“, musste Lucia widerwillig zugeben.
„Ich bin froh, dass wir im selben Team sind.“ Costanzos Stimme klang fröhlicher, doch Lucía hörte das vertraute Schniefen.
Du machst dir Sorgen, dachte sie.
Und was das Team betrifft – das kannst du vergessen, mein Freund. Ich werde niemals in deinem Team sein. Schon gar nicht in einem menschlichen. Ich tue nur meinen Job und arbeite mit dir zusammen, wenn es nötig ist.
„Gut, ich hab’s verstanden“, sagte Lucia, ohne auf seine letzten Worte einzugehen.
„Warte auf meinen Anruf.“
Sie beendete das Gespräch auf ihrem Minifon und machte sich eilig auf den Weg zu Leo.
Er wartete bereits draußen vor ihrem Haus, bereit, gemeinsam mit ihr zur nächtlichen Observation aufzubrechen.
– Fortsetzung folgt –
Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj, sie ist Mitglied im Journalistenverband der Ukraine. Svitlana Glumm verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.