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Engelsklinge – Buch 2: In Nebel gehüllt (Kapitel 15.6)

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Wionot holt Emma aus der Gefahrenzone.
Wionot holt Emma aus der Gefahrenzone. "Engelsklinge" wurde von der ukrainischen Autorin Svitlana Glumm verfasst. (Bild: Open AI)

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Von Svitlana Glumm

Engelsklinge

Buch 2 – In Nebel gehüllt

Aus dem Russischen

Kapitel 15.6

Wionot wagte es nicht, durch die zentralen Straßen zu fahren. Bereits die zweite Woche in Folge herrschte in Düsseldorf – wie übrigens auch in vielen anderen Städten Europas – Chaos.

Der junge Mann lenkte den Wagen über die Aachener Straße und näherte sich dem zweistöckigen Haus an der Kreuzung mit der Dalakerstraße, wobei er sich in der Dunkelheit der Gasse vor den allgegenwärtigen Drohnen versteckte. Die Echos der massiven Unruhen, die in den zentralen Bezirken stattfanden, drangen bis nach Bilk vor. Die Abende waren erfüllt vom Gestank brennender Reifen, dem Aufleuchten von Schüssen, dem Heulen der Sirenen und dem Dröhnen der Menge.

Zwei Jungs, vom Licht der Scheinwerfer des nagelneuen „Ford Mondeo“ erfasst, sprangen hinter das Haus, aus Angst, von der Polizei erwischt zu werden, die jeden wahllos festnahm. Als sie begriffen, dass von dem plötzlich auftauchenden Auto keine Gefahr ausging, tauchten sie wieder hinter der Ecke auf und beeilten sich, im Park gegenüber unterzutauchen.

Die Erschöpfung von der Kontrollpolitik und der Zorn über die Einschränkung der Rechte hatten sich in einen Aufstand ergossen, sobald die Menschen eine Schwäche der Regierung gespürt hatten. Friedliche Demonstrationen hatten sich in bewaffnete Zusammenstöße verwandelt. Je härter die Regierungen der Länder sie unterdrückten, desto mehr Protestierende gingen auf die Straßen. Die Organisation der Vereinten Nationen – die letzte Hoffnung auf eine schmerzfreie Einigung mit der Regierung – war im Jahr 2076 von dieser selbst aufgelöst worden. Nicht länger schweigen könnend, schlossen sich die Menschen in Gruppen zusammen und stellten Forderungen. Die Union zerfiel, aber selbst in ihrem letzten Atemzug drohte sie der Bevölkerung mit Vergeltung. Als die Menschen ein Licht am Ende des Tunnels sahen, begannen sie voller Enthusiasmus, die aufgerissene Wunde weiter aufzuschneiden, um so schnell wie möglich mit dem Schluss zu machen, was sie die letzten Jahre bedrückt hatte.

Doch die Welt darf nicht in Anarchie leben, dachte der junge Mann.

Als das Schloss klickte, öffnete Wionot die Haustür, stieg die Stufen hinauf und stürmte ins Verwaltungsbüro.

Elke hielt das Lesegerät, eine kleine Kapsel, der neben ihr stehenden Emma hin. Radoslav vernichtete alle Dokumente im Aktenvernichter. Drei Menschen wandten sich dem Heiler zu, als der junge Mann im Türrahmen erschien.

„Beeilt euch!“, drängte Wionot sie. Er zog aus der Tasche seiner Jeans die Pässe und zwei Tickets hervor. „Ihr fliegt mit den Nachtflügen“, sagte er und reichte den Männern die Dokumente. „Elke nach Südafrika und Radoslav nach Malaysia. Haltet euch zwei Monate versteckt, dann treffen wir uns am vereinbarten Ort.“

Emma steckte die Kapsel in die obere Jackentasche und ging zu ihrem Mann, umarmte ihn zum Abschied.

„Pass auf dich auf, meine Liebe“, flüsterte der Mann und küsste seine Frau.

Dann umarmte die Frau Radoslav und ging zum Ausgang.

Im Sterben begriffen, wollte die Europäische Union alle mit ins Grab nehmen, die sich jemals gegen ihre Politik gestellt hatten. Zu den „Unliebsamen“ zählte man Organisationen und Forschungsinstitute, die lediglich Unterschriften für Gesetzesvorschläge sammelten oder die Bevölkerung zu diesem oder jenem Thema befragten. Selbstverständlich gehörte die Organisation „Saviour“ – bekannt für ihre Kundgebungen und ihren Protest gegen die rechtswidrigen Handlungen der Regierung – zu den ersten zehn Organisationen, die vernichtet werden sollten. Vernichtet, notfalls bis hin zur physischen Beseitigung ihrer Organisatoren.

„In drei Stunden geht das Flugzeug“, sagte Wionot und nahm Emma bei der Hand.

Mit 54 Jahren zeigten sich im Gesicht der Frau Falten und in ihrem kastanienbraunen Haar begann sich Grau einzumischen. Für den Heiler jedoch würde Emma für immer jenes Mädchen bleiben, dessen haselnussbrauner Blick ihn einst dazu gebracht hatte, sie aus dem Haus der Wagners zu holen. Und ebenso die wunderbare junge Frau, ohne die für Wionot die Welt nicht existieren konnte.

Elke sah den Heiler aufmerksam an.
„Aber du siehst dem Vormund von Emma so ähnlich, Andreas“, flüsterte er.

„Nein, mein Lieber“, ein Lächeln versteckte sich in den Mundwinkeln von Emma. „Das ist mein Neffe väterlicherseits, ich habe es dir doch gesagt.“ Sie seufzte schwer. „Es ist Zeit.“

„Pass auf sie auf, Andreas“, sagte Radoslav. „Und danke.“ Der Mann wedelte mit dem Pass.

„Ja, pass auf sie auf“, stimmte Elke dem Journalisten zu. Der Mann hob die Tasche vom Boden auf, in der das Nötigste für Emma verstaut war, und gab sie dem jungen Mann. „Sie ist alles, was ich habe“, sagte er und reichte ihm die Hand.

„Wie meinen eigenen Augapfel“, erwiderte Wionot und drückte Elkes Hand. Dann verließ er gemeinsam mit Emma das Büro.

Im Flugzeug betrachtete die Frau das Passfoto.
„Man hätte es auch besser machen können, Andreas“, verzog sie die Lippen. „Hannah Schmidt.“ Emma strich sich die Haare hinters Ohr.

Vor dem Abflug hatte sie eine Perücke aufgesetzt und ihre Augenfarbe mit Kontaktlinsen verändert. Jetzt sah sie genau so aus wie auf dem Foto, eine blauäugige Blondine. Auch Wionot hatte sein Aussehen vor dem Treffen mit Emmas Freunden etwas verändert. Er färbte seine Haare schwarz, wodurch er älter wirkte. Auch die Augenringe von ein paar schlaflosen Nächten ließen ihn reifer erscheinen.

„Und gut, dass wir es überhaupt innerhalb einer Stunde geschafft haben, Hannah“, grinste der junge Mann.

Emma stieß Wionot mit dem Ellbogen in die Seite und grinste ebenfalls. Dann legte sie den Kopf auf seine Schulter. Ein bitterer Seufzer entfuhr ihrer Brust.
„Glaubst du, sie schaffen es?“ flüsterte sie.

Wionot schloss den Sicherheitsgurt.
„Ich hoffe es“, flüsterte der Heiler und fügte hinzu: „Meine Liebe.“

Das Flugzeug rollte sanft über die Startbahn, gewann an Geschwindigkeit, und das letzte Wort des jungen Mannes ging im Dröhnen der Triebwerke unter.

Die Nachmittagshitze überzog die Stadt, die von Alexander dem Großen gegründet worden war. Die Luft begann ihre gewohnten Schwingungen, sodass Palmen und Häuser wie unter einer transparenten, zitternden Folie erschienen. Die Stimmen der Menschen verstummten und die Läden schlossen ihre Türen, um sie erst gegen Abend wieder zu öffnen, wenn Touristen die Straßen füllen würden.

Ohne den Blick von Emmas Gesicht abzuwenden, legte Wionot seine Hand unter ihren Kopf. Nach drei Jahren in Ägypten hatte die Haut der Frau einen goldenen, samtigen Ton angenommen, und ihr Haar war in der Sonne leicht ausgebleicht und nun hellkastanienbraun.

„Also sagst du, es ist leichter geworden?“, fragte Emma und streckte sich auf dem Bett.

„Viele hoffen, dass es so weitergeht“, antwortete der junge Mann. „Als die Union zerfiel, glaubten die Menschen daran, alles zum Besseren verändern zu können – freier zu sein als zuvor.“

„Ich habe gelesen, dass der Zusammenschluss der europäischen Staaten bisher nicht versucht, wieder Kontrolle aufzuzwingen. Im Gegenteil, sie haben sogar die Drohnen von den Straßen entfernt und die Regeln für Bewegungsfreiheit zwischen den Ländern gelockert. Aber während der Existenz der Europäischen Union konnten die Menschen den Gedanken nicht aufgeben, etwas Verbindendes zu haben. Mit gleichen Rechten für den Transport von Waren, Dienstleistungen und für die Menschen selbst.“

„Deshalb entstand ja auch der Zusammenschluss der europäischen Staaten.“

„Indem er die Regierung dazu provoziert, ihre alte Taktik fortzusetzen“, ein Hauch von Ironie schwang in Emmas Worten mit. „Doch bisher …“

„Ich hoffe, die Verbesserungen bleiben bestehen“, unterbrach Wionot die Frau.

Emma stützte sich auf die Ellbogen und warf dem jungen Mann einen misstrauischen Blick zu.
„Du glaubst also, dass ich recht habe und die Regierung…“

„Ich weiß es nicht“, zuckte der junge Mann mit den Schultern und setzte sich auf das Bett. „Ich möchte nur nicht, dass unter dem Deckmantel guter Absichten etwas Heimtückisches geplant wird.“

Die Frau schnaubte.
„Skepsis ist nicht dein Stil, Wionot – eher meiner“, lächelte sie. „Und selbst ich wage kaum zu hoffen. Zumal es mir in die Karten spielt.“

Der Heiler sah Emma aufmerksam an.
„Also hast du dich doch entschieden?“

„Ja.“ Die Frau schüttelte den Kopf und Strähnen fielen ihr ins Gesicht. „Roderick Cavana ist im Frühjahr nach Deutschland gekommen und bereit, mir zu helfen, die Verwaltung wiederzubeleben.“

Warum kann er nicht einfach in Galway bleiben, dachte der junge Mann bitter. Ist Irland wirklich so schlimm zum Leben?

„Der Cousin von Radoslav möchte es in seinem Andenken tun“, flüsterte Emma und senkte die Augen. In ihrer Stimme schwang tiefe Trauer mit. Sie presste die Lippen zusammen und sank in ein schweigendes Schweigen, das nach ihren Worten über sie kam.

Wionot legte seine Hand auf Emmas Schulter.
„Es tut mir leid, meine Liebe“, flüsterte er. „Alles tut mir leid.“

Ein Jahr nach der Hochzeit wurde Emma schwanger. Doch das ersehnte Mutterglück war ihr nicht vergönnt. Der Stress und die ständige Anspannung, die sie und Elke während der häufig von der Polizei aufgelösten Kundgebungen erlebt hatten, forderten ihren Preis. Nach vier Monaten des Wartens verlor Emma das Kind.

Wionot sah die Erinnerung in Bildern vor sich: den Tag, der Emma für immer die Hoffnung auf ein eigenes Kind genommen hatte. Ihr von Tränen überströmtes Gesicht. Elke, der versuchte, sie zu trösten. Den Arzt, dessen Worte über die Unmöglichkeit, jemals wieder Kinder zu bekommen, wie ein Todesurteil geklungen hatten.

Nachdem sie sich von dem Verlust einigermaßen erholt hatte, wollte Emma einem Waisenkind zu einer Familie verhelfen. Sie besuchte sogar gemeinsam mit ihrem Mann ein Kinderheim, doch die Ereignisse jenes Sommers, als sie Deutschland verlassen und sich von ihrem Mann trennen musste, machten all ihre Pläne zunichte.

„Deshalb lasse ich dich nicht allein.“

Die Frau sah den jungen Mann an und ein Lächeln berührte ihre Lippen.
„Wirklich? Du willst umziehen?“

„Ja“, antwortete Wionot. „Nach dem Tod deiner Freunde werde ich dich nicht allein lassen.“ Er drehte sich halb zu Emma, fasste sie an den Schultern und zog sie sanft zu sich. Die Frau legte ihren Kopf an seine Brust. Wionot umarmte Emma von hinten. „Nach Elkes Tod“, flüsterte er kaum hörbar, „werde ich niemals mehr zulassen, dass du ohne mich bleibst.“

Radoslav starb noch am selben Abend. Auf dem Weg zum Flughafen prallte sein Wagen gegen eine Betonabsperrung. Der Journalist starb augenblicklich, ohne überhaupt zu begreifen, was geschehen war. Wie Wionot später vermutete, war es nicht ohne Zutun der Regierung geschehen. In dem Chaos, das Düsseldorf erfasst hatte, fragte niemand nach. Solche „Unfälle“ ereigneten sich überall in Europa, wo die Polizei damit beschäftigt war, die Befehle derjenigen auszuführen, die ihre Macht verloren.

Von Lukasz gewarnt, fuhr Elke nicht zum Flughafen. Beide Männer blieben in der Stadt, um den drohenden Sturm abzuwarten, der sie schließlich ebenfalls verschlang. Als Wionot aus Alexandria zurückkehrte, waren Emmas Ehemann und sein Freund längst ins Gefängnis gebracht worden, aus dem sie nie zurückkehrten.

Der junge Mann hatte niemals das Gespräch über eine mögliche Begräbnisstätte von Elke begonnen. Aus Emmas Gedanken erkannte Wionot, dass die Frau nur allzu gut wusste, dass in einem der Massengräber, die ein Jahr nach dem Zerfall der Union von Freiwilligen entdeckt worden waren, der Leichnam ihres Mannes liegen konnte.

„So sehr ich auch die Stadt am Nil lieben gelernt habe, mein Zuhause ist Düsseldorf“, sagte Emma. „Und du bist sicher auch müde davon, ständig hin und her zu reisen.“

„Nein“, lächelte Wionot und berührte ihre Haare mit den Lippen. „Ohne dich scheint selbst in Leipzig die Sonne nicht so hell.“

„Also kommst du mit mir nach Düsseldorf?“

„Natürlich. Ich denke, in 40 Jahren hat sich viel verändert.“

„Die Menschen?“ Emma seufzte bitter. „Viele leben nicht mehr. Manche sind aus dem Land geflohen und die Freiwilligen sind auseinandergegangen. Verständlich, jeder will leben. Vielleicht tauchen sie wieder auf, wenn sie erfahren, dass ich lebe und wir die Verwaltung neu aufbauen?“

„Oder ihr nehmt neue Leute auf“, ergänzte der junge Mann.

„Rodericks Enthusiasmus hat auch mich angesteckt“, gestand die Frau. „Ich brauchte Ruhe, um den Verlust zu verarbeiten und neue Kraft zu sammeln.“

„Dann ist es beschlossen“, sagte Wionot.

„Ja. Wir ziehen ab Montag um. Buch bitte die Tickets und ich rufe Roderick an und gebe Anweisungen. Irgendetwas sagt mir, dass die Verwaltung nicht mehr dieselbe sein wird“, teilte Emma ihre Ahnung.

Wionot verstärkte die Umarmung, während er im Geist der Frau den Strom der Gedanken las, die nichts mehr mit dem Leben in Afrika zu tun hatten. Dann ließ er Emma los und glitt aus dem Bett. Die Frau plumpste in die Kissen zurück.

„Und jetzt lass uns an den Strand gehen“, schlug der junge Mann vor. „In Leipzig regnet es in letzter Zeit ständig und ich möchte ein bisschen Sonne tanken.“

Emma grinste, schlug die Bettdecke zurück und stand aus dem Bett auf. Sie eilte zum Schrank, um den Badeanzug hervorzuholen.

– Fortsetzung folgt –

„Engelsklinge – Tödlicher Schlag“ gibt es jetzt auch als Taschenbuch. Bestellen kann man es unter anderem HIER!

Zur Autorin

Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 46-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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