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Krieg in der Ukraine: Sie erlebte die Gräuel – und half den Menschen

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Ksenia Y. lebt seit einem Monat in Solingen. Die 32-jährige Frau erlebte den Krieg in der Ukraine hautnah und half zahlreichen Menschen vor Ort. (Foto: © Bastian Glumm)
Ksenia Y. lebt seit einem Monat in Solingen. Die 32-jährige Frau erlebte den Krieg in der Ukraine hautnah und half zahlreichen Menschen vor Ort. (Foto: © Bastian Glumm)

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Von Svitlana Piskova

Wir kennen den Krieg aus Büchern. Und auch Hollywoodfilmen, wo er oft als etwas Heroisches dargestellt wird. Und aus den Nachrichten, aus dem Internet, aus Youtube. Der Krieg erscheint manchmal wie ein Computerspiel. Problemlos schalten wir um und wechseln auf einen anderen Kanal, weil uns langweilig ist und wir keine Lust haben, uns mit den Problemen der Menschen auf der anderen Seite des Bildschirms auseinanderzusetzen.

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Aber was ist Krieg?

Zunächst nur ein Wort. Bis das Stampfen von Soldatenstiefeln im Ohr ertönt, bis ein Fremder, uns feindlich gesinnt, die Tür einschlägt und auf der Schwelle des Hauses der eigenen Familie steht.

Bis dahin besteht Krieg nur aus fünf Buchstaben, die von der Schultafel gewischt oder mit der Maus weggeklickt werden können, um sie aus dem Blickfeld zu entfernen. Aber in der Realität, vor Ort, nach Schweiß und Blut stinkend, mit den gnadenlosen Schreien der im Kampf Verwundeten, dem Stöhnen vergewaltigter Kinder und Frauen, mit den Tränen der Mütter, bringt der Krieg wie ein Gespenst in schwarzer Kleidung Tod, Zerstörung und Leere. Vor anderthalb Jahren schien der Krieg für die Ukrainer so weit weg, wie er es jetzt in diesem Moment für Millionen Menschen in Deutschland ist. Die Kämpfe im Donbass, die dort seit 2014 tobten, betrafen nicht alle Ukrainer und viele Menschen lebten weiterhin ihr eigenes Leben. Dabei hätte es bleiben können, aber es kam jener Donnerstag, der 24. Februar 2022, an dem mit einem Mal alles anders wurde.

Ksenia Y. erinnert sich gut an den ersten Kriegstag, obwohl sie damals keine besondere Panik oder Angst verspürte. Es war ein ruhiger Februarmorgen für die Stadt Irpin, von einer besonderen Bedrohung war nichts zu spüren. Erst nach dem Öffnen der Fenster hörte Ksenia Explosionen in der Ferne. In einer Entfernung von rund 15 Kilometern fanden schwere Kämpfe um den Flughafen Hostomel statt. Aus den Nachrichten und von Anrufen der Familie und von Freunden erfuhr die junge Frau, dass der Krieg begonnen hatte. Das Bewusstsein für die Realität und für das, was jetzt tatsächlich passierte, kam erst, nachdem Ksenia mit eigenen Augen die zerstörte Romanov-Brücke und zahlreiche zerschossene Autos gesehen hatte. (Die Romanov-Brücke wurde am Morgen des 25. Februar 2022 vom ukrainischen Militär gesprengt – Anm. d. Red.)

Die Romanov-Brücke verband Irpin mit Kiew. Das ukrainische Militär sprengte die Brücke in der Anfangsphase der russischen Invasion. (Foto: privat)
Die Romanov-Brücke verband Irpin mit Kiew. Das ukrainische Militär sprengte die Brücke in der Anfangsphase der russischen Invasion. (Foto: privat)

„Es war ein unwirkliches Gefühl, obwohl meine Mutter mir erzählte, dass in der Ukraine das Kriegsrecht verhängt wurde“, gibt Ksenia zu und blickt auf die ersten Tage des Krieges zurück. Die junge Frau lebt erst seit etwa einem Monat in Solingen. „Ich fuhr nach Kiew. Unterwegs sah ich eine zerstörte Brücke, verbrannte Autos. Es war seltsam, dass niemand die Leichen von den Straßen entfernte. Jetzt, wo viele Fotos von verstümmelten Körpern, wie in Butscha und anderen Städten aufgenommen, um die Welt zirkulieren, kennen wir das Gesicht des Krieges. Dann war alles wie im Film. Daher kam die endgültige Erkenntnis, dass in unserem Land Krieg stattfand, erst im Sommer.“

Frage: Aber bis zum Sommer haben Sie ja schon zerstörte Städte und russische Truppen gesehen?

„Ja, natürlich. Aber bis zum Sommer lebte man quasi in einer Parallelwelt. Du warst mitten im Epizentrum der Ereignisse. Und als du morgens wach wurdest, dachtest du, dass das, was du gestern gesehen hast, nur eine Einbildung in deinem Kopf war. Daher ist der Panzer, den man im Hof stehen sieht, etwas Fremdes, als wäre es im Rahmen fremd. Es sollte einfach nicht hier sein. Es gab Panik“, korrigiert sich Ksenia, „aber wegen persönlicher Angelegenheiten, die durch die Militäroperationen erschwert wurden.“

Russische Panzer in Irpin. Das Foto hat Ksenia Y. von ihrer Wohnung aus gemacht. (Foto: privat)
Russische Panzer in Irpin. Das Foto hat Ksenia Y. von ihrer Wohnung aus gemacht. (Foto: privat)

Die Ausgangssperre war damals schon in Kraft.

„Ja. Ich beschloss, nach Irpin zurückzukehren, aber ich konnte nicht. Die Hauptstadt wurde komplett abgesperrt, niemand durfte raus. Erst am 4. März gelang es mir, nach Irpin zurückzukehren. Ich ließ das Auto an einer Straßensperre stehen und ging zu Fuß in die Stadt. In meiner Wohnung waren noch Katzen, die weggebracht werden mussten. Unter der zerstörten Romanov-Brücke fand gerade eine Evakuierung statt. Ich selbst musste zweimal unter dieser Brücke hindurch. Ich habe die Katzen um vier Uhr mitgenommen. Schon um sieben Uhr sind russische Panzer in Irpin eingedrungen. Das heißt, ich habe es geschafft, kurz vor der Besetzung und den schrecklichen Ereignissen, die sich später in meiner Stadt zutrugen, nach Kiew zurückzukehren.“

Sie sind während der Besetzung nach Irpin zurückgekehrt?

„Ja. Ich bin am 6. März aus persönlichen Gründen in die Stadt zurückgekehrt, ich suchte eine Freundin. (Ksenias Freundin wurde in den ersten Kriegstagen von russischen Soldaten erschossen – Anm.d. Red.) Ich ging nach Irpin und in der Ferne knallten Schüsse. Ich passierte russische Straßensperren und zeigte Fotos meiner Freundin.“

Wie mussten Sie sich verhalten, wenn Sie russischen Soldaten begneteten, um lebend nach Kiew zurückkehren zu können? Jeder kennt bereits die Gräueltaten der Russen, die sie in Irpin, Butscha und anderen Städten der Ukraine verübten. Wurden Sie an feindlichen Straßensperren damit konfrontiert?

„Der Hauptzweck meiner Fahrt nach Irpin war ja, meine Freundin zu finden. Ich ging auf die Soldaten zu und fragte, ob sie sie gesehen hätten. Und das beseitigte jede Angst in mir, als ich den bewaffneten Russen gegenüberstand. Anscheinend erwarteten sie ein solches Verhalten von einer jungen Frau nicht und befahlen mir, nachdem sie meine Fragen beantwortet hatten, zurückzukehren. Das nächste Mal betrat ich die Stadt über die Zhytomyr-Autobahn. Wir mussten durch den Wald, wo Scharfschützen im Hinterhalt lagen. Ein Mann ging diesen Weg kurz vor mir. Er wurde erschossen. Mein Stadtteil in Irpin ist Green Yard, er wurde von Kadyrivka besetzt – Spezialeinheiten. Man kann sagen, dass wir Glück hatten. Es waren Berufssoldaten, die ihren Job ohne Emotionen erledigten. Sie betraten Häuser, durchsuchten diese und zogen weiter. Daher blieb meine Wohnung ,fast´ unversehrt. Sie erlaubten den Menschen, ihre Häuser zu verlassen und in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet zu gehen.

Natürlich gab es jetzt ganz eigene Regeln, die befolgt werden mussten, um die Befreiung der Stadt später gesund und unversehrt zu erleben: Wenn man passieren wollte, so musste man das ganz ruhig sagen, seine SIM-Karte und sein Handy abgeben. Auch für das Überqueren von Checkpoints wurde eine Regel aufgestellt – ein Zeitfenster wurde zugeteilt. Zuerst waren es 15 Minuten. Ich konnte zurückkehren. Es gab Zeiten, in denen ich meine Suche aufgab und zurückkehrte, weil ich verstand, dass das hier kein Spiel war und ich keine weiteren Möglichkeiten haben würde, um zu passieren. Später erlaubten mir die Russen, zeitlich unbegrenzt zu reisen. Was die einfachen Soldaten angeht: Jeder kennt die grausamen Details. Krieg ist immer eine Gräueltat. Leider ist es die Straffreiheit und Macht, die Menschen mit Waffen haben, die sie zu unkontrollierbaren, gnadenlosen Tieren macht. Aber im Krieg ist nicht alles so klar“, fügt die junge Frau hinzu, „sowohl Ukrainer als auch Russen haben mir das Leben gerettet.“

Haben Sie zu dieser Zeit daran gedacht, die Ukraine zu verlassen? Viele Menschen gingen in den ersten Kriegstagen an die ukrainische Grenze, um nach Polen und Rumänien zu reisen. Wenn Sie gegangen wären, hätte sich niemand beschwert, denn Frauen und Kinder waren die ersten, die ihre Häuser verließen.

„NEIN. Zu meiner Entscheidung zu bleiben gesellte sich auch die Tatsache, dass ich meine Mutter nicht in Kiew zurücklassen konnte.“

Sie gehören nicht zu den Leuten, die nur im Standby-Modus herumsitzen. Ich bin stolz darauf, dass ich auch jene Menschen kenne, die, wenn sie nicht als Soldaten zur Verteidigung der Ukraine gegangen sind, sich für andere Dinge freiwillig meldeten. Sie fingen an, Menschen aus besetzten Städten zu holen. Erinnern Sie sich an Ihre erste Reise?

„Ich konnte nicht nur herumsitzen und Angst haben. Es war notwendig, etwas zu tun. Denn wenn man sich am Ort des Geschehens wiederfindet, hat man nicht mehr so ​​viel Angst. Ganz zu schweigen davon, dass Sitzen einen verrückt machen kann. Und ich konnte etwas Gutes tun, einen kleinen Beitrag leisten, um das Leben der Menschen zu erleichtern.“

Leben retten.

„Ja, um Leben zu retten. Auf der Suche nach meiner Freundin traf ich Vertreter der Polizei und ukrainische Soldaten. Ich habe die erste Person, die mir zufällig begegnete, angesprochen – es war eine Frau. Sie ging in Richtung Kiew. Ich war eine der wenigen, die die russische Checkpoints passieren konnten, weil ich dort bereits bekannt war. Vielleicht sogar vertraut. Ich habe nichts von den Dingen erzählt, die ich dort gesehen habe, insbesondere nicht unserem Militär.“

One-Way-Ticket.

„Exakt. Wenn ich den Ukrainern etwas gesagt hätte, hätten sie die feindliche Stellung zerstören können. Und am nächsten Morgen, wenn ich dann erneut beim Checkpoint gewesen wäre, hätte man mich erkennen können. Daher konnte ich Leute aus besetzten Städten mitnehmen, wenn ich gefragt wurde. Es gab verschiedene Fälle. Ich erinnere mich, wie ich auf einen Hof komme und ein Auto herausfährt. Eltern sitzen darin und ihre kleinen Kinder wurden auf der Straße zurückgelassen. Das war für mich nicht akzeptabel, denn zuallererst versucht man doch, die Kinder an einen sicheren Ort zu bringen. Vielleicht haben die Eltern im Schockzustand gehandelt? Ich weiß nicht. Natürlich habe ich die Kinder mitgenommen.

Einmal kam ein russischer Soldat auf mich zu. Er hielt einen kleinen Jungen in seinen Armen. Der Soldat sagte, ich solle ihn aus der Stadt bringen, was ich auch tat. Dann übergab ich das Kind dem ukrainischen Militär. Ich half auch bei der Evakuierung von Menschen unter der Romanov-Brücke. Es gab viele freiwillige Mädchen, viele private Busunternehmen, die ihre reguläre Route verließen und in Richtung Irpin und Butscha fuhren. Es gab auch diejenigen, die nicht gehen wollten. Auch ältere Menschen. Ein Grund war sicherlich der Unwille, sein Zuhause zu verlassen. Das Schlimmste ist, wenn man ankommt, um eine Person abzuholen, und es stellt sich heraus, dass niemand mehr da ist, den man abholen kann. Ein paar Minuten vor meiner Ankunft traf eine Rakete das Haus und es explodierte.

Der Ehemann starb, seine Frau realisierte nicht, dass sie plötzlich allein war. Sie wollte nicht ohne ihren Mann gehen. Die Frau näherte sich der Leiche und versuchte, ihn aufzuwecken. Ich musste die unglückliche Frau aus ihrem Schockzustand holen, aber meine Überzeugungsarbeit hat bei ihr nicht gewirkt. Ich schnitt mir absichtlich in die Hand und bat um Hilfe. Die Tatsache, dass eine Person in der Nähe war, die Aufmerksamkeit benötigte, brachte die Frau schließlich zur Besinnung.“

Heftige Kämpfe tobten zu Beginn des Krieges in den Vororten der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Ganze Stadtteile wurden dabei verwüstet. (Foto: privat)
Heftige Kämpfe tobten zu Beginn des Krieges in den Vororten der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Ganze Stadtteile wurden dabei verwüstet. (Foto: privat)

Für wen war diese Situation leichter auszuhalten? Für Kinder oder für Erwachsene?

„Für Kinder. Sie sind stärker als Erwachsene und akzeptieren die Realität so, wie sie wirklich ist, ohne Analyse. Die Hauptsache ist, dass die Kinder die Regeln befolgt haben, die ich während der Reise festgelegt habe. Und mir nicht gesagt haben, was und wie ich etwas zu tun habe.

Die älteren Kinder beruhigten die Eltern und halfen ihnen, sich um die jüngeren Kinder zu kümmern. Auch die Kleinen – zwei oder drei Jahre alt – gehorchten. Als ich ein Kind nahm, sagte ich, dass es jetzt sehr laut und gruselig sein wird, also schließe deine Ohren und öffne deinen Mund (Verhindert bei Explosionen das Platzen des Trommelsfells – Anm. d. Red.). Ich werde auch Angst haben, aber ich muss gehen, und nur ich kann fahren. Die Erwachsenen haben sich sogar mit mir über den Weg gestritten, den ich genommen habe. Es wurde so schlimm, dass Personen aus dem Auto aussteigen mussten. Als wir zum Beispiel einen russischen Kontrollpunkt passierten, sprach ich mit den Soldaten und vereinbarte den Plan der Reise und die entsprechende Zeit. Die Erwachsenen im Auto beschimpften mich deswegen und sagten, ich hätte ein nettes Gespräch mit den Russen geführt. Ich zeigte auf die Tür. Die Menschen sollten verstehen, dass die Sicherheit auch von ihrem Verhalten während der Evakuierung abhängt. Eine Granate wurde in das vor mir fahrende Auto geworfen…“

Auf dem Schild steht: "Kinder - Evakuierung". Russische Soldaten schossen dennoch auf die Windschutzscheibe dieses Fahrzeugs. (Foto: privat)
Auf dem Schild steht: „Kinder – Evakuierung“. Russische Soldaten schossen dennoch auf die Windschutzscheibe dieses Fahrzeugs. (Foto: privat)

Gab es trotz der Situation in den besetzten Städten irgendwelche kuriosen Zwischenfälle? Vielleicht auch eine Art Entspannung?  

„Einige“, lächelt Ksenia und erinnert sich an ihre Reisen nach Irpin. „Zum Beispiel, als ukrainische Soldaten am Morgen auf einer der Straßen der Stadt die Aufklärung für eine Schlacht vorbereiteten. Ich gehe auf die Jungs zu, die die Karte sorgfältig studierten, und fragte, was sie tun. Sie sagten, sie wollen wissen, ob dort russische Truppen sind und wie viele. Lachend teilte ich den Soldaten mit, dass ich heute schon auf der Straße war und alles erzählen kann. Ein Haufen Fragen flogen in meine Richtung: Wie? Warum alleine? Wie haben Sie es geschafft, an den bewaffneten Russen vorbeizukommen? Ein anderer Fall: Als ich unter der Romanov-Brücke war, begann der Beschuss. Ich fand ein Tuch und bedeckte einige Kisten damit, um mich hinzusetzen und das Feuer abzuwarten. Ich merkte, dass unsere Soldaten nach etwas suchten. Also fragte ich. Die Jungs antworteten, dass sie nach Munitionskisten suchten. Und in diesem Moment verstand ich, wo diese zu finden waren…“

Ukrainische Soldaten posieren vor einem zerstörten russischen Schützenpanzer in der Region Kiew. (Foto: privat)
Ukrainische Soldaten posieren vor einem zerstörten russischen Schützenpanzer in der Region Kiew. (Foto: privat)

Nachdem die russischen Truppen Irpin Ende März 2022 verlassen hatten, endeten Ihre Evakuierungsaktivitäten? Sind Sie in andere besetzte Städte gefahren?

„Nach Mariupol. Anfang April wurde ich gebeten, die Familie eines Kommilitonen rauszuholen. Zu dieser Zeit gab es schwere Kämpfe, bei denen ukrainische Truppen in das Hüttenwerk Asow-Stahl gedrängt wurden. Mein Kommilitone wollte seine Familie zunächst selbst abholen, starb jedoch während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit. Deshalb ging ich. Ich bin nicht direkt nach Mariupol reingegangen, da es bereits unter der Kontrolle russischer Truppen stand. Aber ich hörte aus einiger Entfernung den Gefechtslärm.

Ich habe Leute aus der Stadt geholt. Die Familie meines Kommilitonen hat vier Tage gebraucht, um aus Mariupol herauszukommen. Vorbei an Leichen und zerstörten Häusern. Auf dem Weg zu dem angegebenen Punkt, an dem ich auf sie wartete, passierten die Leute auch russische und ukrainische Kontrollpunkte. Als ich die Frau meines Kommilitonen und deren Kind mitnahm, schwiegen sie fast den ganzen Weg. Das war gut für mich, weil die beiden noch nichts vom Tod meines Kommilitonen wussten. Die ganze Zeit überlegte ich, wie ich das machen sollte. Und als das Mädchen ihre Mutter fragte, ob sie ihren Vater treffen würde, hielt ich das Auto an und sagte, dass ihr geliebter Mensch nicht mehr da sei.

Auch nachdem die Region Kiew befreit wurde, half ich dem ukrainischen Militär. Ich hatte Briefe mit der Aufschrift „Leiche“. Ich ging nach Butscha, Irpin, Borodyanka und zählte die Toten. Ich näherte mich zerschossenen Autos und hinterließ einen Brief auf jedem Auto, wenn ich dort tote Menschen sah. Wenn ich Dokumente fand, nahm ich sie mit. Wenn ich irgendeine Besonderheit sah, habe ich diese fotografiert und anschließend auf dem Telegram-Kanal ,Unidentifizierte Leichen´ gepostet. Dieser Kanal wurde von der Polizei eingerichtet, damit Menschen ihre Angehörigen finden können.“

War es nicht beängstigend angesichts der großen Zahl verstümmelter Toter auf den Straßen der Städte?

„Es wurde beängstigend, als ich irgendwann anfing, die Toten nicht nur als Körper, sondern als Person wahrzunehmen. Ich verstand, dass das einst lebende Menschen waren, die ihre eigenen Pläne und Träume hatten. Das ist zum Beispiel nicht irgendeine Frau, sondern meine Nachbarin Maria, die ich seit meiner Kindheit kannte. Ich musste die Zählung der Leichen wie einen Job ausführen. Es ist schlimm, dass Straßenhunde während der Besetzung der Region Kiew anfingen, Leichen zu fressen. Das ist nichts für schwache Nerven. Die Leute taten mir leid“, seufzt die junge Frau, „wenn man den entstellten Körper eines Verwandten sieht. Oft war von den Verstorbenen so wenig übrig, dass alles in eine Tasche gesteckt werden konnte. Vor allem bei Kindern. Wenn während der Explosion ein Baby im Auto war, wurde der Körper vollständig verbrannt. Man entdeckte sogar einen Kieselstein, auf dem DNA-Reste eines geliebten Menschen gefunden wurden.“

Und schlussendlich: Was gab Ihnen die Kraft weiterzumachen, zu helfen, trotz der Schrecken, die Sie gesehen haben?

„Wie gesagt, die Überwindung der Situation ist schwieriger. Man sitzt herum und, man weiß nicht genau, was und wo etwas passiert. Ich wäre verrückt geworden. Wenn man etwas tut, gibt einem das eine Art Kontrollillusion.“

Ksenia evakuierte zahlreiche Menschen mit ihren Privatwagen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet. Mit ihrem Auto kam sie schließlich auch nach Solingen. (Foto: © Bastian Glumm)
Ksenia evakuierte zahlreiche Menschen mit ihren Privatwagen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet. Mit ihrem Auto kam sie schließlich auch nach Solingen. (Foto: © Bastian Glumm)

Haben Sie nicht vom Krieg, von den Toten und von zerstörten Häusern geträumt?

„Nach einiger Zeit verwandelt sich der Krieg in den Alltag, als wäre er ein Element der Realität. Du hast keine Angst mehr vor Leichen. Es ist Arbeit, nur Arbeit. Es war auch ermutigend, dass der Krieg Menschen zusammengebracht hat, sogar diejenigen, die gestern nicht Ihre Freunde waren. Jetzt fragt der Nachbar, der sich vorhin mit dir gestritten hat, weil du die Musik laut aufgedreht hast, wie es dir geht und ob alles in Ordnung ist.

Jetzt kann ein Fremder auf der Straße auf dich zukommen und dich umarmen, glücklich, dass du lebst. Diejenigen, die die Ukraine verließen, gaben ihre Autos, um Freiwilligen oder der Armee zu helfen. Ukrainer vor dem Krieg und jetzt – ein großer Unterschied. Besonders in den Gebieten, in denen gekämpft wurde, die besetzt waren. Die Menschen begannen das Leben zu schätzen, einfache Momente des Alltags, einfache Worte – ob alles in Ordnung ist. Es gibt auch negative Punkte. Man gewöhnt sich an die Regeln des Krieges, an die Ausgangssperre. Die ersten Tage im Ausland fühlte ich mich komisch – ich konnte abends ohne Probleme einkaufen gehen. Ja, der Krieg zeigte sein wahres Gesicht. Und unter schrecklichen Bedingungen du selbst zu bleiben und nicht zuzulassen, dass der schädliche Einfluss dich in ein bösartiges Tier verwandelt, ist die Wahl jeder einzelnen Person. Meine Wahl war es, den Menschen vor Ort zu helfen. Das ist es, was ich tat.“

Ksenia Y. kommt aus Kiew, lebte in der ukrainischen Hauptstadt und im Vorort Irpin. Sie ist diplomierte Psychologin. Die 32-jährige Frau lebt seit einem Monat in Solingen

Zur Autorin

Svitlana Piskova wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 43-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.

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