
Von Svitlana Glumm
Engelsklinge
Buch 2 – In Nebel gehüllt
Aus dem Russischen
Kapitel 5.1
Schneeflocken fielen sanft vom mit grauen Wolken bedeckten Himmel und legten sich wie ein weißer Teppich über die Erde. Die Stimmen der Passanten klangen leise unter den Fenstern, ohne die Bewohner des Hauses in ihrer abendlichen Ruhe zu stören.
Als sich die Tür zum Schlafzimmer schloss, öffnete Adrian die Augen. Eine Diele knarrte unter den Schritten des Vaters. Das bedeutete, dass die Eltern bereits im Wohnzimmer waren und er aus dem Bett schlüpfen konnte. Er warf die Decke zurück und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster. Auf dem Weg über das Parkett ging Adrian an seinem Spielzeug vorbei – einem Lager von Autos und Eisenbahnen –, und umrundete das selbst gebastelte Flugzeug in Kätzchengröße, um es nicht zu zerquetschen oder sich an den Splittern zu verletzen. Dann kam er am Regal vorbei, auf dessen Böden bunte Bücher standen. Getrennt davon lagen Malbücher und Zeichenalben in ordentlichen Stapeln sowie Schachteln mit Brettspielen und Puzzles.
Adrians Lieblingsbuch war das ganz rechts mit dem blauen Einband und den großen weißen Buchstaben in der Mitte. In diesem Winter hatte er es geschafft, den Titel zu lesen. Mit unsicherer Kinderstimme sprach er die Buchstaben einzeln aus und setzte sie zu Wörtern zusammen, wenn Mama ihn bat, die Titel vorzulesen. Der Hauptgrund fürs Lesen war der bevorstehende Schulbesuch. Auch wenn dieser erst im nächsten Herbst anstand, sagte der Vater, dass ab September ein Lehrer zu ihnen kommen würde, um den Jungen auf den Unterricht an einer der angesehenen Privatschulen der Hauptstadt vorzubereiten. Mateusz Oberlan selbst hatte das Gymnasium abgeschlossen, zu dem die Kinder dieser Grundschule weiterzogen, und wünschte sich, dass auch sein Sohn eine gute Ausbildung erhielt und später das Unternehmen übernahm, in dem er arbeitete.
Als jüngster Sohn von Lubomir Oberlan, einem Nachkommen einer der ältesten polnischen Dynastien und Direktor mehrerer Firmen im Bereich Immobilien und Bauwesen, konnte Mateusz auf einen beträchtlichen Anteil am Erbe hoffen. Die Bedingungen, unter denen er einer der reichsten Männer des Landes werden sollte, hatte sein Sohn erfüllt – er hatte zwei Hochschulabschlüsse in Design und Programmierung und arbeitete bereits im Unternehmen seines Vaters. Sogar Familie und ein Erbe spielten eine nicht unwesentliche Rolle bei der Entscheidung zur Machtübergabe. Auch wenn Lubomir keineswegs erfreut über die Wahl seines Sohnes war.
Adrian berührte mit dem Finger den Buchrücken des Buches mit seinem Lieblingsmärchen. Ein Gedanke durchzuckte ihn und er lächelte, wobei seine Milchzähne zum Vorschein kamen. Der Junge sprang auf und stürmte zum Fenster. Die Fensterklinke zu erreichen, war gar nicht so einfach. Adrian war noch nicht einmal fünf Jahre alt und hatte den Körperbau seines Vaters – ein kleiner, stämmiger Mann mit freundlichen Augen. Um sein Ziel zu erreichen, schleppte der Junge einen kleinen Hocker aus der Ecke herbei, wo er neben dem Teddybären stand. Er stellte den Hocker unter das Fensterbrett und drehte sich noch einmal um. Sein Blick fiel auf das Stofftier, das mit den Pfoten nach oben auf dem Boden lag. Es tat ihm leid, den Bären so einsam liegen zu lassen und er rannte zurück. Er hob den Bären an der Pfote hoch, klemmte ihn sich unter den Arm und kletterte auf den Hocker.
Nun konnte Adrian die Klinke erreichen und öffnete das Fenster weit. Kalte Luft strömte ins Zimmer. Der Junge kniff kurz die Augen zusammen. Ohne sich um die Kälte zu kümmern, die ihm die Wangen biss, stellte er den Bären auf das Fensterbrett, beugte sich vor und streckte die Hand aus. Noch bevor die warmen Kinderhände sie berührten, begannen die Schneeflocken langsam zu schmelzen. Adrian versuchte, sich die kalten Kristalle in Form kleiner Sterne einzuprägen, deren Strahlen in alle Richtungen gingen, um sie morgen im Kindergarten während des Malunterrichts ins Album zu zeichnen.
„Vielleicht kommt Peter Pan auch zu uns“, sagte er zum Bären. „Du weißt doch sicher besser, wann das passieren wird.“ Adrians knochige Schultern zuckten leicht hoch und sanken gleich wieder.
Plötzlich legte sich eine Hand um seine Taille.
„Dann soll der Bär auf Peter Pan warten“, sagte eine sanfte Frauenstimme, „aber du kehrst jetzt in dein Bett zurück und versuchst zu schlafen.“
Die junge Frau nahm Adrian auf den Arm, schloss das Fenster und trug ihn zurück ins Bett. Sie deckte ihren Sohn zu und lächelte. Ihr Blick verweilte auf dem Gesicht des Jungen. Adrians braune Augen sahen immer ein wenig nachdenklich aus – selbst, wenn Mama lachte.
„Mach das nicht noch einmal, Adrian“, flüsterte sie. „Öffne das Fenster nicht. Das ist gefährlich“, sagte die Frau und strich sich das hellblonde Haar hinters Ohr.
Der Junge nickte schweigend. Er wollte nicht, dass Mama traurig wurde, und erst recht nicht, dass Papa die Stirn runzelte – das führte meistens dazu, dass ein geplanter Ausflug in den Laden oder zum Spielplatz abgesagt wurde. Mit seinen viereinhalb Jahren hatte Adrian bereits die wichtigste Lektion der Kindheit gelernt: Ungehorsam bringt Strafe. Das praktizierten nicht nur die Eltern, sondern auch der Großvater, wenn der Enkel ihn besuchte.
„Schlaf ein“, sagte die Frau, beugte sich vor und berührte mit ihren Lippen sanft die Stirn ihres Sohnes.
Der leichte Duft ihres Parfüms – eine Mischung aus Orange und Zitrone, wie Adrian es beschrieben hätte – vermischte sich mit dem Geruch von Papier und Tinte. Dieser Duft hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt und war für ihn der Geruch der Kindheit – durchtränkt von fröhlichem Lachen und Spaziergängen im sonnigen Park.
„Sing mir ein Lied“, bat der Junge, als Mama sich zurückzog.
„Welches?“, fragte sie und richtete die Decke, die sich an seinen Füßen verknäult hatte.
Ein Lächeln umspielte Adrians Lippen, und seine Augen wurden schmal vor Freude.
„Dein Lieblingslied?“, erriet die Mutter anhand seines Gesichtsausdrucks.
„Deins.“
„Unser Lieblingslied“, sagte die Frau zustimmend und wechselte ins Ukrainische. „Gut, aber dann schläfst du ein!“
Die leise Stimme der Mutter, die die vertrauten Worte sang, ließ Adrians Augen langsam zufallen:
Mein liebes kleines Kind,
Ein Stern ist am Himmel erschienen.
Schlaf, mein kleiner Junge,
Schlaf, mein kleiner Engel.
In der Welt des Guten und Bösen
Wirst du deinen eigenen Weg finden.
Schlaf, mein zauberhafter Freund,
Möge der Schlaf wie ein Vogel fliegen.
Deine Augen – weite blaue Fernen,
Und dein Köpfchen ist so klar,
Möge kein Kummer je erreichen
Dein lächelndes Kindergesicht.
Der Tag wird der Nacht folgen,
Die Welt wird sich wieder verändern.
Bewahre, mein kleines Kind,
Die Reinheit deiner Seele und die Liebe.
Oh wiege, wiege dich sanft,
Schlaf, mein kleines Kind…
–
Adrian sah sich im Spiegel an. Der Anzug war zu klein. Mit der Hose konnte man noch etwas machen, indem man sie tiefer auf die Hüfte zog und den oberen Knopf offenließ – aber das Jackett müsste eigentlich ersetzt werden. Der Hemdärmel schaute unter dem Ärmel hervor und die Jacke spannte an den Schultern.
„Wir hätten nicht gedacht, dass du in einem halben Jahr so gewachsen bist, Adrian“, sagte der Onkel, als der Junge Kaspars Anzug anprobierte. „Wir müssen einen neuen kaufen.“
Die Frau, die neben dem stämmigen Mann mit zurückgekämmtem, schütterem Haar stand, schnaubte genervt.
„Es ist jetzt schon zu spät, um noch in den Laden zu fahren, Leszek“, wandte sie sich an ihren Mann. „In einer Stunde erwartet uns dein Vater bei sich,“ sagte sie und reckte ihren ohnehin schon langen Hals, um auf die Wanduhr zu blicken. „Und er mag es nicht, wenn Gäste zu spät kommen.“
Leszek lächelte und küsste seine Frau auf den „Gänsehals“.
„Maja, wir sind keine Gäste. Wir sind Familie.“ Er warf dem Outfit seines Neffen einen skeptischen Blick zu. „Aber einen neuen Anzug müssen wir trotzdem kaufen. Man kann ja schlecht im Schulanzug zum Großvater gehen – selbst wenn es eine angesehene Schule ist.“
Die Frau murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und ging zur Eingangstür.
„Ab in dein Zimmer, Adrian“, befahl Leszek und drehte sich auf dem Absatz seiner Schuhe um, um seiner Frau zu folgen. „Warte, bis du gerufen wirst.“
Adrian war froh, diese Worte vom Onkel zu hören, und stieg die Treppe nach oben, wobei er jede zweite Stufe übersprang. Vor der Tür zu seinem Zimmer angekommen, hörte er die freudigen Rufe von Tante Maja, als Kasper das Haus betrat.
Das Zimmer des Jungen, in dem er sich vor der Gesellschaft des Onkels und dessen scheinbar freundlicher Frau verkriechen konnte, befand sich direkt unter dem Dach. Klein, mit zwei runden Fenstern und niedriger Decke, erinnerte es eher an einen feuchten Dachboden, auf dem man ausrangierte Dinge ablegt, als an ein richtiges Schlafzimmer. Seit Adrian in das Haus gezogen war, hatte Leszek ihm sofort ein Zimmer möglichst weit von seiner eigenen Schlafzimmertür zugewiesen – damit der Neffe ihn nach einem langen Arbeitstag nicht störte, falls Schulfreunde zu Besuch kamen. Doch in einem Jahr war kein einziger Klassenkamerad erschienen und der Junge saß allein in dem düsteren Raum, konzentrierte sich so gut es ging auf seine Hausaufgaben, während die Freundinnen von Tante Maja im Wohnzimmer bis spät in die Nacht über Nachbarn tuschelten.
Adrian warf erneut einen Blick auf sein Spiegelbild und seufzte bitter. In all der Zeit hatte der Onkel es nicht für nötig gehalten, nachzusehen, ob sein Neffe überhaupt einen passenden schwarzen Anzug besaß. Deshalb würde er dem Großvater nun im Anzug von Tante Majas Neffen gegenübertreten müssen – einem, aus dem er längst herausgewachsen war.
Die Tür flog auf und ein Jugendlicher trat ein. Der Junge sprang schwungvoll auf das Bett neben der Wand und schaute zu Adrian hinüber.
„Tja, die Tante hat sich mit der Größe wohl vertan“, kicherte er. „Sie hätte den vom letzten Jahr nehmen sollen.“
Adrian presste die Lippen fest zusammen, während er im Spiegel beobachtete, wie der Junge aufstand und näherkam.
„Ich habe in den letzten zwei Jahren mehrere Anzüge durchgewechselt. Den, den ich jetzt trage, will ich bald auf den Müll werfen.“ Der Junge fuhr sich mit der Hand durch seine kastanienbraunen Haare, die selbst in dem düsteren Zimmer vom übermäßigen Gel glänzten.
„Du beendest ja dieses Jahr die achte Klasse, Kasper“, sagte Adrian und wandte sich dem Brünetten zu. „Da ist es doch normal, dass man öfter neue Kleidung braucht, wenn man erwachsen wird.“
Kasper musterte den kleinen Jungen mit kritischem Blick. Für sein Alter wirkte Adrian eher klein – nur seine breiten Schultern und der prüfende, fast durchdringende Blick, mit dem er jeden ansah, ließen erkennen, dass er längst kein kleines Kind mehr war. Auch wenn Kasper größer war und älter, besaß Adrian einen scharfen Verstand und eine außergewöhnliche Lernfähigkeit, die ihm den Einstieg in die neue Klasse der Mittelschule ohne große Schwierigkeiten ermöglicht hatte.
Kasper schnalzte mit der Zunge.
„Tja“, wiederholte er sein Lieblingswort, das er in jeder zweiten Phrase benutzte. „Man muss echt was unternehmen. Sonst lacht sich der Opa kaputt – wenn ihn nicht vorher der Schlag trifft, sobald er dich in dem Aufzug sieht.“
Der Junge rieb sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über das Kinn.
Adrian verspürte wenig Lust, sich in eine Figur zu verwandeln, die sich ausgerechnet der Neffe von Tante Maja ausdenken würde. Er war im Begriff, dagegen zu protestieren und zu erklären, dass es für das erste Wiedersehen nach so langer Trennung völlig genüge, wie er war – und dass der Großvater wohl kaum bemerken würde, dass der Anzug des Enkels zu klein war. Gerade öffnete er den Mund, um seine Meinung zu äußern, da schnippte Kasper mit den Fingern.
„Ich hab’s!“, rief er und öffnete mit einer schnellen Bewegung die Knöpfe des Jacketts, schob die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch. „Schon viel besser.“ Er rückte die Krawatte zurecht und zog das Hemd aus dem Hosenbund. „Hände in die Hosentaschen!“, fuhr er fort und gab weiter Anweisungen. „Nein, nicht so! Du bist doch nicht beim Militär, Adrian! Entspann dich! Nicht zusammensacken – nur die Schultern ein wenig lockern. Perfekt! Arme leicht beugen. Super! Und noch der letzte Schliff.“ Kasper fuhr mit der Hand durch Adrians Haare und zerzauste sie, sodass sie aussahen, als sei er eben erst aus dem Bett gekrochen. „Jetzt bist du bereit.“ Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. „Meine Alten wären begeistert“, pfiff er anerkennend. „Los geht’s!“ Kasper machte sich auf den Weg zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um, streckte die Hand aus und sagte: „Alles Gute zum Geburtstag!“
Onkel und Tante warteten bereits im Flur. Anlässlich des festlichen Mittagessens beim Vater hatte Leszek seinen Lieblingsanzug aus dem Schrank geholt und die Manschetten seines Hemdes mit goldenen Knöpfen geschlossen. Maja hatte geschlossene Pumps mit Absatz angezogen, sodass sie nun sogar über den Scheitel ihres Mannes hinwegsehen konnte. Adrian musste sich das Lächeln verkneifen, als er das skurrile Paar betrachtete, das wie ein putziger Streifenhörnchen-Mann neben einer dünnen Ente wirkte.
„Beeilt euch, der Fahrer wartet“, sagte Tante Maja, ohne den Blick von ihren Fingern zu heben, die über und über mit Ringen geschmückt waren. Als sie sah, was aus Adrians einst strengem Outfit geworden war, war ihr Gesichtsausdruck zunächst von Überraschung geprägt. Ihr Mund klappte so weit auf, dass man, bei genauem Hinsehen, vermutlich ihre Mandeln hätte erkennen können. Ihre Augen weiteten sich und ihr Hals streckte sich so lang, dass er eher an eine Schlange als an eine Gans erinnerte. Die Überraschung wich bald Zorn, und Maja nahm ihre gewohnte Pose ein, wenn sie von plötzlichen Emotionen überwältigt wurde: Sie stellte die Beine schulterbreit auseinander, stemmte die Ellenbogen abstehend in die Hüften und ballte die Hände zu Fäusten in die Seiten.
„Sieh dir dieses Vogelscheuchenkostüm an, Leszek!“, rief sie empört. „Was hast du bloß mit dir angestellt, Adrian?!“
– Fortsetzung folgt –
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Zur Autorin
Svitlana Glumm wurde in Kropywnyzkyj in der Ukraine geboren. Die 45-Jährige studierte an der dortigen Universität Geschichte und später an der Uni in Kiew Journalismus. Als Journalistin arbeitete sie über zehn Jahre für Zeitungen in Kiew und Kropywnyzkyj. Sie verfasste mehrere Bücher, Manuskripte und Kurzgeschichten rund um die Themen Fantasy und Mythologie. Seit April 2022 lebt sie in Solingen.